Die Antwort auf die Frage, ob Konstantin Lifschitz in Russland auftreten dürfe, gibt Christian Berzins im letzten Abschnitt seines Textes mit einem Seitenblick nach Estland. Dort wurde ein sehr beliebter Musiker entlassen, nachdem bekannt wurde, dass er in Novosibirsk auftreten würde.

Medienkritik: Macht sie noch Sinn?

Noch vor wenigen Jahren gehörte das Lesen einer oder gar mehrerer Tages- und Wochenzeitungen zur Pflichtlektüre. Man wollte, als politisch und wirtschaftlich Interessierter, ja schließlich nicht nur von der allabendlichen – bildorientierten – TV-Show abhängig sein, sondern breiter und tiefer informiert werden.

Tempi passati. Das war einmal. Zumindest was die Berichterstattung über die geopolitische Situation betrifft.

Heute sind, zumindest im deutschsprachigen Raum, die Zeitungen geopolitisch so einäugig wie das Fernsehen. Wichtigster Punkt ist heute auch in den gedruckten Medien, die Ukraine zu verherrlichen, weil sie, wie da immer wieder behauptet wird, die «Europäischen Werte» verteidige – die die Ukraine selbst, notabene, nie gelebt hat (Aber das ist eine andere Geschichte). Wichtig ist jetzt vor allem, nicht nur Putin, sondern ganz Russland und alle Russen und Russinnen zu kritisieren, zu verleumden, zu verurteilen, sprich: den Russenhass zu fördern. 

Macht Medienkritik also überhaupt noch Sinn? Ja, man muss, um schlaflose Nächte zu verhindern, manchmal trotz allem in die Tasten greifen. Zum Beispiel diese Woche. Christian Berzins ist bei den Schweizer CH-Media-Zeitungen, die sich rühmen, mit ihrer Samstagausgabe die meistgelesene Zeitung der Schweiz zu sein, im Kulturbereich für das Thema klassische Musik zuständig. Dass an einem Musikfestival in St. Gallen wegen des Ukraine-Krieges die Aufführung einer Oper des russischen Komponisten Peter Tschaikowsky (1840-1893) abgesagt wurde, hat zu beurteilen Berzins anderen Journalisten überlassen. Dass an der Scala in Milano im Dezember 2022 Modest Mussorgskys Oper «Boris Godunov» aufgeführt wurde und die russische Sängerin Anna Netrebko dort weiterhin auftreten darf, ist für Berzins «Ganz nach Putins Geschmack» und deshalb «haltungslos». Und jetzt empfiehlt er der Hochschule Luzern in den CH-Media-Zeitungen und auf Watson, den Klavierprofessor Konstantin Lifschitz zu entlassen, weil sich dieser – notabene ein Schweizer Bürger – erlaubt hat, in Novosibirsk in Russland zweimal am «Trans-Siberian Art Festival» – bei Berzins «Transibirian Art Festival» – aufzutreten. Nein, nicht Christian Berzins orthographische Fehler sind besonders ärgerlich, selbst wenn er den Musiker im sogenannten Lead und auch auf Twitter «Valentin Lifschitz» statt Konstantin Lifschitz nennt. Damit kann man leben. Aber seine Haltung, dass auch die Welt der Musik jetzt Russland ausgrenzen soll, ist schlicht unerträglich. Wie soll wieder Friede entstehen, wenn ausgerechnet die Musik, die einzige Sprache, die von allen Menschen verstanden wird, politisch als Waffe eingesetzt wird?

Die Ukraine eine westliche Marionette?

Aber auch in der NZZ war es diese Woche wieder eine ganze Seite, die einen hätte schlaflos machen können. Da schreibt doch der Schweizer Jung-Historiker Fabian Baumann, sogenannter Dr. des., Doctor designatus, also Doktor-Prüfung bestanden, aber Dissertation noch nicht abgenommen, eine ganze Seite unter der Headline «Das Märchen vom Marionettenstaat; Das Streben der Ukraine nach Eigenständigkeit ist historisch gewachsen, kein Werk westlicher Mächte.» Der Text ist ein Musterbeispiel, wie man die Geschichte mit der Weglassung von Fakten verfälschen kann.

Zu den Zahlen: Der Beitrag ist annähernd 10’000 Zeichen lang, genau 9487. 8140 Zeichen lang beschäftigt sich der Text mit der Zeit ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1991, also auch mit der Zeit, da die Ukraine Teil der Sowjetunion war. Wobei Fabian Baumann zum Beispiel locker zu erwähnen vergisst, dass Leonid Breschnew, der von 1964 bis 1982 als Generalsekretär der KPdSU 18 Jahre lang de facto sowjetischer Staatspräsident war, ein Ukrainer war. Ein Ukrainer! Hat der Ukrainer Breschnew vielleicht etwas für die politische oder kulturelle Eigenständigkeit der Ukraine gegenüber Russland getan? Doch wohl eher nicht.

Ganze 1347 Zeichen, oder also die letzten 14% des Artikels, sind der Zeit ab 1991 gewidmet. Kein Wort darüber, dass schon bei der damaligen Abstimmung über die Unabhängigkeit der Ukraine der Krim eine höhere Autonomie versprochen, aber dann nie eingehalten wurde. Kein Wort zum Wunsch der Krim-Bevölkerung, wieder zu Russland zu gehören. Kein Wort über die ganze Einmischung der USA vor, während und nach den Demonstrationen auf dem Maidan. Kein Wort über die intensiven Massnahmen der NATO, mit der ukrainischen Armee sogenannte «Interoperabilität» zu erreichen. Kein Wort über die verlogene Zustimmung von Angela Merkel, François Hollande und Petro Poroschenko zu den Vereinbarungen von Minsk II.

«Seit 1991 hat sich die Ukraine nicht etwa aufgrund dubioser westlicher Machenschaften von Russland wegbewegt. Vielmehr bewog der Wunsch nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zweimal, 2005 und 2013, zum Aufstand gegen den korrupten, russlandfreundlichen Politiker Wiktor Janukowitsch», so Fabian Baumann wörtlich. Dass die danach unter persönlicher Beteiligung der US-amerikanischen Diplomatin Victoria «Fuck the EU» Nuland eine Regierung eingesetzt wurde, die mit gutem Grund von der Bevölkerung auf der Krim und im Donbass nicht anerkannt wurde, ist für Baumann kein Thema.

Nein, sich mit Fabian Baumanns Text zum «Märchen vom Marionettenstaat» im Detail auseinanderzusetzen, wäre echte Zeitverschwendung. Wenn Baumann, der vom «Schweizerischen Nationalfonds» gefördert wird, auf der Online-Plattform «Republik» ein Buch über die Ukraine besprechen darf, – dort aber bei der Aufzählung der Bücher über die Ukraine das Buch «Ukraine im Visier; Russlands Nachbar als Zielscheibe geostrategischer Interessen», in dem die schon damals verzeichnete westliche Berichterstattung über die Ukraine ausführlich dokumentiert wird, großzügig vergisst – dann war das schon Ehre genug für diesen Schweizer Jung-Historiker. Dass nun sogar die NZZ Fabian Baumann ganzseitig abdruckt, zeigt einmal mehr, dass an der Falkenstraße in Zürich nicht die Qualität der Artikel zählt, sondern die darin enthaltene antirussische Tendenz zur ganzseitigen Publikation ausreicht.

So hat sich Fabian Baumann auf Twitter den Schweizer Medien als Anti-Putin-Spezialist angeboten:

Darauf wurde er von einem Leser namens Troll kritisiert, worauf Baumann zurück-twitterte:

Vielleicht müsste auch der Schweizerische Nationalfonds mal darüber nachdenken, ob er Forscher unterstützen soll, die nur eines im Sinn haben: den Russenhass zu fördern.

Das Ende der Zeitungen ist in Sicht

Aber wenn wir schon beim Thema Medienkritik sind: «Abgesang auf Print-Medien: 83 Prozent der Medienschaffenden glauben nicht mehr an Zukunft der Papier-Zeitung», so die nicht ganz überraschende Meldung des «Klein Reports». Wenn die deutschsprachige Zeitungswelt eh nur noch auf dem Niveau von CH-Media und NZZ operieren, dann muss den gedruckten Zeitungen, wenn sie demnächst tatsächlich verschwinden sollten, zumindest keine Träne mehr nachgeweint werden.