Die Beteiligten an den Verhandlungen in Minsk, die am 12. Februar 2015 zum Abkommen «Minsk II» geführt haben: Wladimir Putin, Angela Merkel, François Hollande und Petro Poroschenko (und ganz links der Konferenz-Gastgeber Alexander Lukaschenko). Poroschenko hatte offensichtlich nie im Sinn, sich an das Abkommen zu halten, und Deutschland und Frankreich haben nie etwas unternommen, um die Ukraine dazu zu zwingen, das Abkommen ihrerseits einzuhalten. Seit Anfang Dezember 2022 weiss man, warum: Auch sie wollten das Abkommen nie einhalten. (Bild kremlin.ru)

Putin gesteht eine eigene Fehleinschätzung ein: sein Vertrauen in die Beteiligten von «Minsk II» im Jahr 2015

(Red.) Nicht zum ersten Mal übernimmt Globalbridge.ch eine Analyse des in Moskau ansässigen Politologen Dmitri Trenin, der nicht nur die geopolitische Beziehung Russlands zum Westen, sondern auch die Beziehung Russlands zu jenen Ländern genau beobachtet, die nicht zum Westen gehören, aber global eine wichtige Stimme haben, China, Indien, Iran etc. Trenin ist aufgefallen, dass Wladimir Putin innerhalb Russlands eine eigene Fehleinschätzung eingestanden hat. (cm)

Letzte Woche erklärte der russische Präsident Wladimir Putin bei einem Treffen mit Soldatenmüttern, er betrachte die Minsker Vereinbarungen von 2014 und 2015 heute als Fehler. Dieses Eingeständnis war im Hinblick auf die Möglichkeit von Friedensverhandlungen zur Beendigung der Kämpfe in der Ukraine sehr wichtig.

Es sei daran erinnert, dass Putin 2014 auf der Grundlage eines Mandats des russischen Parlaments handelte, um militärische Gewalt „in der Ukraine“ einzusetzen, nicht nur auf der Krim. Tatsächlich rettete Moskau die Städte Donezk und Lugansk vor der Überrumpelung durch die Kiewer Armee und besiegte die ukrainischen Streitkräfte. Doch anstatt die gesamte Region Donbass zu erfassen, hielt Russland inne und stimmte einem von Deutschland und Frankreich in Minsk vermittelten Waffenstillstand zu. 

Putin erklärte den Soldatenmüttern, dass Moskau zu jenem Zeitpunkt die Gefühle der vom Konflikt betroffenen Bevölkerung im Donbass nicht genau kannte und hoffte, dass Donezk und Lugansk unter den in Minsk festgelegten Bedingungen (mehr Autonomie, Red.) irgendwie mit der Ukraine wiedervereinigt werden könnten. Putin könnte beigefügt haben – seine eigenen Handlungen sowie Gespräche mit dem damaligen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko bestätigen dies –, dass er damals bereit war, den neuen Kiewer Behörden eine Chance zu geben, das Problem zu lösen und die Beziehungen zu Moskau wieder zu normalisieren. Bis zu einem recht späten Zeitpunkt hoffte Putin auch, dass er sich mit den Deutschen und Franzosen sowie mit der US-Führung noch einigen könnte. 

Das Eingeständnis von Fehlern ist bei amtierenden Staatsoberhäuptern selten, aber es ist ein wichtiger Indikator für die Lehren, die sie aus ihrem Tun gezogen haben. Diese Erfahrung hat Putin offensichtlich zu dem Schluss gebracht, dass nicht die Entscheidung, im Februar die militärische Sonderoperation einzuleiten, falsch war, sondern dass Moskau acht Jahre zuvor kein Vertrauen in Kiew, Berlin und Paris hätte setzen dürfen und sich stattdessen auf seine eigene militärische Stärke hätte verlassen sollen, um die russischsprachigen Regionen der Ukraine (von den ukrainischen Nationalisten, Red.) zu befreien.

Mit anderen Worten, jetzt einem Waffenstillstand im Stil von Minsk zuzustimmen, wäre ein weiterer Fehler, der es Kiew und seinen Hintermännern ermöglichen würde, sich besser darauf vorzubereiten, die Kämpfe zu einem von ihnen gewählten Zeitpunkt wieder aufzunehmen.

Der russische Staatschef ist sich natürlich bewusst, dass viele nicht-westliche Länder, die sich der antirussischen Sanktionskoalition nicht angeschlossen haben und sich gegenüber der Ukraine zur Neutralität bekennen, trotzdem ein Ende der Feindseligkeiten gefordert haben. Von China und Indien bis hin zu Indonesien und Mexiko sehen diese Länder, die Russland im Allgemeinen freundlich gesinnt sind, ihre wirtschaftlichen Aussichten durch einen Konflikt beeinträchtigt, der Russland gegen den geeinten Westen in die Ecke stellt. Auch die westlichen Medien verbreiten die Botschaft, die weltweite Energie- und Nahrungsmittelsicherheit leide unter Moskaus Aktionen. Russlands Argumente und gegenteilige Beteuerungen haben nur begrenzte Wirkung, da russische Stimmen im nahöstlichen, asiatischen, afrikanischen oder lateinamerikanischen Äther kaum zu hören sind.

Wie dem auch sei, Moskau kann die Gefühle des größeren Teils der Menschheit, der in russischen Fachkreisen zunehmend als globale Mehrheit bezeichnet wird, nicht ignorieren. Daher auch die offiziellen russischen Erklärungen, dass Moskau für einen Dialog ohne Vorbedingungen offen sei. Jede russische Delegation, die an den Gesprächen teilnehme, müsste jedoch die jüngsten Änderungen der Verfassung des Landes berücksichtigen, durch die die vier ehemaligen ukrainischen Regionen Donezk, Lugansk, Cherson und Saporoschje als Teil der Russischen Föderation bezeichnet werden. Wie Außenminister Sergej Lawrow erklärt hat, wird Russland nur auf der Grundlage der bestehenden geopolitischen Realitäten verhandeln. Es sei darauf hingewiesen, dass der Kreml die Ziele der Militäroperation nicht zurückgenommen hat. Dazu gehören die Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine, d. h. die Beseitigung ultranationalistischer, antirussischer Elemente in Staat und Gesellschaft.   

Kiew hat sich in dieser Frage hin und her bewegt. Nachdem es Ende März fast ein Friedensabkommen mit Moskau erreicht hatte, änderte es später seinen Kurs und kämpfte weiter (die Russen glauben, dass dies auf Anraten des Westens geschehen ist). Nachdem der ukrainische Präsident Wladimir Selenskyj im vergangenen Herbst operative Erfolge auf dem Schlachtfeld erzielt hatte, ließ er alle Kontakte zum Kreml formell verbieten und formulierte extreme Forderungen, die er an Putins Nachfolger richtete, wann immer diese auftauchen mögen. Aus Sicht der Öffentlichkeitsarbeit war dies für den Westen schlecht, und Selenskyj wurde gebeten, den Anschein zu erwecken, er sei offen für Gespräche.  In Wirklichkeit aber hat sich nichts geändert.

Die Realität sieht so aus, dass die wichtigsten am Ukraine-Konflikt beteiligten Parteien, nämlich Washington und Moskau, die Gegenwart und die nahe Zukunft nicht als günstigen Zeitpunkt für Verhandlungen betrachten. Aus Sicht der USA ist Moskau trotz der beispiellosen Sanktionen, die der Westen gegen Russland verhängt hat, und der jüngsten Rückschläge, die die russische Armee in Charkow und Cherson erlitten hat, weit davon entfernt, auf dem Schlachtfeld besiegt oder innenpolitisch destabilisiert zu sein. Aus Sicht des Kremls kommt jeder Waffenstillstand oder Frieden, der die Ukraine als „antirussischen“, feindlichen Staat zurücklässt, einer Niederlage mit äußerst negativen Folgen gleich.

Stattdessen glauben beide Seiten, dass sie gewinnen können. Der Westen verfügt natürlich in praktisch allen Bereichen über weitaus bessere Ressourcen, die er in der Ukraine einsetzen kann. Aber Russland arbeitet daran, seine eigenen beträchtlichen Reserven zu mobilisieren, sowohl was die Manpower als auch was die Wirtschaft betrifft.

Der Vorteil Moskaus liegt in der Eskalationsdominanz. Für die USA ist die Ukraine eine Frage des Prinzips, für den Kreml ist die Angelegenheit aber schlichtweg existenziell – in diesem Konflikt mit dem Westen geht es nicht um die Ukraine, sondern um das Schicksal Russlands selbst.

Es sieht so aus, als würde der Krieg bis ins Jahr 2023 und möglicherweise darüber hinaus andauern. Gespräche werden wahrscheinlich erst dann beginnen, wenn eine der beiden Seiten aufgrund von Erschöpfung zum Nachgeben bereit ist oder weil beide Parteien in eine Sackgasse geraten sind. In der Zwischenzeit wird die Zahl der Todesopfer weiter steigen, was auf die grundlegende Tragödie der Großmachtpolitik hinweist. Im Herbst 1962 war der damalige US-Präsident John F. Kennedy bereit, bis an den Rand des nuklearen Abgrunds zu gehen, um die Sowjetunion daran zu hindern, Kuba zu ihrer Raketenbasis zu machen. Sechzig Jahre später hat der russische Präsident Wladimir Putin eine Militäraktion angeordnet, um sicherzustellen, dass die Ukraine nicht zu einem unsinkbaren Flugzeugträger der USA wird.

Daraus lässt sich eine Lehre ziehen. Was auch immer der sowjetische Staatschef Nikita Chruschtschow von seinem Recht hielt, auf von der Türkei aus auf Moskau gerichtete US-Raketen mit eigenen Raketen zu reagieren, die von Kuba aus (mit Zustimmung Havannas) auf Washington und New York gerichtet waren, und was auch immer die nachfolgenden US-Präsidenten von ihrem Recht hielten, den NATO-Militärblock (auf Wunsch Kiews) auf die Ukraine auszudehnen, für die Nichtberücksichtigung der Sicherheitsinteressen der rivalisierenden Macht muss immer ein horrender Preis bezahlt werden. Kuba ging als knapper Erfolg des gesunden Menschenverstandes in die Geschichte ein. Die Ukraine ist eine fortlaufende Geschichte, deren Ausgang noch in der Schwebe ist.

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Meinungen in Beiträgen auf Globalbridge.ch entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Originalartikel in englischer Sprache hier anklicken. Die Übersetzung besorgte Christian Müller.

Zum Autor: Dmitry Trenin ist Forschungsprofessor an der Higher School of Economics und leitender Forschungsbeauftragter am Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen in Moskau. Außerdem ist er Mitglied des Russischen Rates für Internationale Angelegenheiten.  Christian Müller kennt Dmitri Trenin persönlich.