Graham E. Fuller, beruflich einer der höchstrangigen US-Funktionäre im Bereich der Geheimdienste, auch im Ruhestand ein genauer Beobachter der geopolitischen Situation: «Eines der beunruhigendsten Merkmale dieses amerikanisch-russischen Krieges in der Ukraine ist die völlige Korruption der unabhängigen Medien.»

Über die langfristigen Auswirkungen der Zerstörung der Nord Stream 2-Pipeline durch die USA

(Red.) Am 23. Juni 2022 hat die Plattform Globalbridge.ch unter dem Titel «Wann endlich erwacht Europa?» eine Analyse der damaligen geopolitischen Situation von Graham E. Fuller publiziert, die viel Beachtung fand und von etlichen weiteren kritischen Publikationen und Plattformen übernommen wurde. Vor ein paar Tagen hat Graham E. Fuller, ehemaliger Vizepräsident des «National Intelligence Council» NIC und in dieser Funktion zuständig für die Beurteilung der geopolitischen Situation, eine neue Beurteilung der Situation veröffentlicht – nicht zuletzt unter Berücksichtigung der von Anfang an vermuteten und jetzt bestätigten Erkenntnis, dass es die USA waren, die Nord Stream 2 zerstört haben. Graham E. Fuller wundert sich erneut, dass Europa seine totale Abhängigkeit von den USA – mit einer mittlerweile illusorisch gewordenen Außenpolitik – nicht erkennt oder nicht wahrhaben will. (cm)

Die beunruhigende und ausführliche Reportage des mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Journalisten Seymour Hersh über Washingtons Sabotage der russischen Gaspipeline Nord Stream 2 nach Deutschland bietet nun eine neue Perspektive auf die folgenschwere Reihe geopolitischer Entwicklungen, die mit dem Krieg in der Ukraine begonnen hat.

Meine eigene Einschätzung der russischen Invasion, die ich letztes Jahr veröffentlicht habe, enthielt eine Analyse, die deutlich von der von Washington dominierten Darstellung des Verlaufs der Ereignisse in der Ukraine abwich und dies auch heute noch tut.

Ein paar Gedanken von damals:

– Ich verurteilte die russische Militärinvasion in der Ukraine – und verurteile in der Tat jede Regierung, die einen Krieg anzettelt (einschließlich Bushs Invasion im Irak).

– Ich bin der Überzeugung, dass der russische Einmarsch keineswegs „unprovoziert“ war, sondern dass er ganz eindeutig von Washington provoziert wurde, das seit langem darauf besteht, das bewaffnete NATO-Bündnis letztlich bis an die Grenzen Russlands zu treiben, wo die alten kiever/russischen kulturellen Wurzeln tief mit der frühen russischen/orthodoxen slawischen Zivilisation verbunden sind. Dennoch bestreitet Washington die Berechtigung einer russischen „Einflusssphäre“ in der Ukraine, während die USA selbst immer noch ihre eigene starke Einflusssphäre in ganz Lateinamerika aufrechterhalten – man denke etwa an die kubanische Raketenkrise. (Und können Sie sich eine chinesische Militärbasis in Mexiko vorstellen, um die mexikanische Souveränität zu stärken?)

Russland hat im Laufe der Jahre wiederholt gewarnt, die unerbittliche NATO-Erweiterung in der Ukraine stelle eine echte rote Linie dar. Sachkundige amerikanische Wissenschaftler und viele ehemalige amerikanische Botschafter in Moskau haben immer wieder vor diesen Gefahren gewarnt. Doch ihre Stimmen wurden ignoriert; selbst heute noch stehen Aufrufe zur strategischen Vorsicht der USA in Washington außerhalb jeder Diskussion. (Siehe dazu auf Globalbridge.ch die ausführlichen Informationen zu diesen Warnungen. Red.)

– Kurz gesagt, dies war ein Krieg, der nie hätte sein müssen. 

Unabhängig von den Vor- und Nachteilen der NATO-Erweiterung besteht jedoch kaum ein Zweifel daran, dass Washington in der Informations- und „Spin“-Schlacht in den westlichen Medien bereits einen eindeutigen Sieg errungen hat. Alle Mainstream-Medien wiederholen dasselbe Washingtoner Narrativ – eine außergewöhnliche Einmütigkeit in einer angeblich „unabhängigen“ westlichen Presse.

(Es wäre nett zu glauben, die fast völlige Einmütigkeit der westlichen Medien sei einfach das Ergebnis der lautstarken Unterstützung des Kampfes in der Ukraine für die „Demokratie“. Ist es falsch zu denken, dieser Medien-Eintopf sei doch eher die Folge der wachsenden Macht der von der Regierung beeinflussten Medienkonzerne, die die öffentliche Agenda dominieren?)

– Ich habe letztes Jahr meine Überzeugung kundgetan, dass Russland den Krieg gewinnen wird. Daran glaube ich immer noch. Aber ich habe nicht vorhergesehen, in welchem Ausmaß sich der Krieg zu einer massiven und wachsenden Konfrontation zwischen westlichen und russischen Waffen entwickeln würde.

– Die beispiellose pauschale Verunglimpfung Russlands, der Person Putins und der russischen Kultur und Kunst im Allgemeinen hatte selbst in meinen langen Jahren bei der CIA während des Kalten Krieges keine Parallele. Eine friedliche Lösung dieses nunmehr „zivilisatorischen Krieges“ ist in immer weitere Ferne gerückt.

– Ich habe sogar spekuliert, dass die NATO, sobald sich die Kämpfe an der ukrainischen Front gelegt haben, nicht gestärkt, sondern geschwächt und noch gespaltener sein würde, was die wachsenden Zweifel der Europäer daran widerspiegelt, ob es für Europa klug ist, Washington in gefährliche und kostspielige Kriege zu folgen, die nur der Verfolgung amerikanischer strategischer Interessen dienen. Ich glaube, dass Europa die riskante Politik Washingtons irgendwann bereuen wird, aber ich bin aus den folgenden Gründen sogar deutlich weniger zuversichtlich.

Die Nord Stream-Sabotage

Die verblüffenden jüngsten und detaillierten Berichte über die direkte amerikanische Sabotage der Nord Stream 2-Gaspipeline stellen in zweierlei Hinsicht einen wichtigen geostrategischen Wendepunkt dar: Erstens werden die Auswirkungen von Washingtons Kriegshandlung mit katastrophalen wirtschaftlichen Folgen für Europa nicht so schnell abklingen. Noch wichtiger ist aber, dass dieses Ereignis gezeigt hat, wie erfolgreich Amerika jeden öffentlichen Kommentar zu diesem Ereignis unterdrückt hat – in allen US-Medien, aber mehr noch in allen europäischen Medien selbst, einschließlich in dem wirtschaftlich am stärksten geschädigten Staat Deutschland. Wir beobachten ein erstaunliches, fast unerklärliches Schweigen zu diesem internationalen Großereignis.

Und Russland hat die Botschaft verstanden – die Politik und die Äußerungen der USA haben Russland in seiner langjährigen Überzeugung bestärkt, dass der Westen jeder russischen Rolle im Westen unerbittlich feindlich gegenübersteht – was bis auf die bittere und unwiderrufliche Spaltung der Christenheit zwischen Rom und der orthodoxen Ostkirche im Jahr 1054 zurückgeht. Später folgten zwei verheerende europäische Invasionen in Russland (Napoleon und Hitler).

 Die seit dem Ende des Kalten Krieges gewachsenen Handelsbeziehungen Europas – insbesondere Deutschlands – mit Russland wurden durch die NATO-Osterweiterung auf den Müllhaufen geworfen. Die Feindseligkeit der Ost-West-Beziehungen hat sich verstärkt und vertieft. Washington hat keine Lust, eine neue gemeinsame europäische Sicherheitspolitik zu erarbeiten, die auch russische Interessen einbezieht. Und diese US-Politik hat nun dazu beigetragen, dass Russlands Zukunft fest im Osten liegt – in Wladiwostok und mit China in einer gemeinsamen Ablehnung der globalen Hegemonie der USA.

Die neue Ost-West-Mauer

Das Entstehen einer neuen großen Mauer, die Russland von Westeuropa abschirmt, ist eines der auffälligsten Ergebnisse dieses Krieges: Die europäische Politik scheint sich, vielleicht widerwillig, aber unwiderruflich, den strategischen Zielen der USA in der Welt angeschlossen zu haben. Diese Ziele sprechen jetzt sogar von der Schaffung einer neuen „NATO-Pazifik“, die die chinesische Macht wirtschaftlich und strategisch in Chinas eigenem Hinterhof herausfordern soll – zu großen potenziellen wirtschaftlichen Kosten für Europa.

Trotz dieser Demonstration der Macht Washingtons über Europa ist es bemerkenswert, dass die große Mehrheit der Welt die strategischen Ambitionen der USA, Russland zu schwächen und zu demütigen und dem größten Teil der übrigen Welt Washingtons eigene geopolitische Architektur aufzuzwingen, nicht mitmacht. Im Großen und Ganzen sehen Lateinamerika, der Nahe Osten und Afrika, dass ihre eigenen strategischen Interessen mit denen Washingtons nicht übereinstimmen. Abgesehen von einigen kritischen Lippenbekenntnissen gegenüber Russland haben nur wenige Staaten, darunter große Teile Asiens und Indien selbst, nennenswerte Sanktionen gegen Russland verhängt. Noch deutlicher wird die Entstehung neuer nicht-westlicher Bündnisse wie der BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), denen sich viele andere große Staaten anschließen werden, darunter die Türkei, der Iran und Saudi-Arabien. Diese Staaten des globalen Südens entwickeln auch Pläne für eine neue internationale Reservewährung, die die Fähigkeit Washingtons untergraben soll, die internationale Politik durch auf dem US-Dollar basierende Sanktionen zu diktieren. 

Neudefinition Eurasiens

Ein neues Eurasien ist im Entstehen begriffen, angetrieben durch die kühne und geopolitisch visionäre chinesische Gürtel- und Straßeninitiative. Aber was genau ist dieses neue Eurasien jetzt? Mit einer neuen großen Mauer zwischen Russland und dem Westen, wo ist jetzt der „Euro“ in Eurasien?  Europa befindet sich nicht einmal mehr am Schwanz von „Eurasien“ und ist möglicherweise physisch von der chinesischen Gürtel- und Straßeninitiative abgeschnitten, die durch Russland und einen Großteil des globalen Südens verläuft. Europa muss sich möglicherweise strategisch und wirtschaftlich anderswo in der Welt zurechtfinden. Für Washington ist das kein Problem, die USA werden stets versuchen, die Beziehungen anderer Länder zu Russland oder China einzuschränken. 

Das erstaunliche Schweigen der US-amerikanischen und europäischen Medien zur Sabotage der Nord Stream-Pipeline ist leider ein deutliches Zeichen dafür, dass Europa – offen gesagt – der Mut oder die Vision fehlt, eine von Washingtons strategischem Spielplan unabhängige Politik zu verfolgen. Die Macht Washingtons hat schon bisher die globalen Beziehungen Europas stark eingeschränkt und die Dominanz Washingtons über Europa in politischer, wirtschaftlicher und vor allem auch psychologischer Hinsicht verstärkt. Es ist schwer vorstellbar, wie Europa sich aus dieser restriktiven amerikanischen Umarmung lösen kann, um ein konstruktiver und notwendiger unabhängiger Akteur auf der internationalen Bühne zu werden.

In der Tat scheint Amerika selbst jegliche positive Vision im Umgang mit dem Rest der Welt leider verloren zu haben. Das Wesen der amerikanischen Außenpolitik ist jetzt fast ausschließlich negativ: Russland blockieren, China blockieren und seine Entwicklung und die Ausweitung seiner internationalen Reichweite verhindern. Das ist keine besonders einladende Auswahl an positiven politischen Optionen für den Rest der Welt – eine Welt, die eine kostspielige Verwicklung in westliche Kriege vermeiden und ihre eigene wirtschaftliche Entwicklung vorantreiben will. Es gibt bereits Anzeichen für negative Reaktionen auf das Fortbestehen westlicher ehemaliger Kolonialmächte, die immer noch versuchen, dem Rest der Welt ihre eigenen veralteten geopolitischen und wirtschaftlichen Pläne aufzuzwingen.

Dies ist die Realität, die sich aus dem Ausgang des Krieges in der Ukraine ergibt. Washington scheint entschlossen zu sein, sein zunehmend illusorisches Ziel der Aufrechterhaltung der internationalen Hegemonie weiter zu verfolgen, ein Ziel, das nun in die fadenscheinigen Behauptungen der Unterstützung von „Demokratie gegen Autoritarismus“ verpackt ist. Das findet nicht viele Abnehmer. Wie lange werden sich die USA noch in endlosen Kriegen im Ausland abmühen, um sich und der Welt verzweifelt zu beweisen, dass sie immer noch die Nummer 1 sind?

Meinungen in Beiträgen auf Globalbridge.ch entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Original-Artikel in englischer Sprache hier anklicken. Die Übersetzung besorgte Christian Müller.

Zum Autor: Graham E. Fuller spricht fließend Russisch, ist ein ehemaliger «CIA operations officer» und ehemaliger Vize-Chef des «National Intelligence Council at CIA», zuständig für Langfrist-Prognosen.

Siehe auch: Schweizer Fernsehen und Radio SRF kehrt Seymour Hershs Recherchen zur Nord Stream Sabotage unter den Teppich. Hier anklicken.