Für den Nachschub von Waffen und Treibstoff sind die Eisenbahnlinien und Autobahnen außerordentlich wichtig. (Symbolbild)

So beginnen Selenskyjs Verbündete ihm zu schaden

Früh schon hatten Beobachter Bilanz der ukrainischen Sommeroffensive gezogen und manche davon begannen sich bereits im August Gedanken darüber zu machen, was im Fall eines Scheiterns der Offensive geschehen könnte (1). Andere verfolgen bis heute jede noch so kleine Änderung des Frontverlaufs in der Hoffnung, doch noch irgendwo den lange erhofften Durchbruch zu entdecken (2). Und wiederum andere hoffen wie schon seit Februar 2022 auf die entscheidende Wirkung von Wunderwaffen. Dem westlichen Lager gehen die Handlungsoptionen aus. Da nützt es dem ukrainischen Präsident Selenskyj wenig, wenn er hilfesuchend durch die Welt reist. 

Die Erfahrungen aus den Kriegsjahren 2014 bis 2020 zeigten, dass die Kriegsparteien die Intensität der Kampfhandlungen nach Bedarf senkten oder erhöhten, wenn bedeutende internationale Ereignisse oder diplomatische Verhandlungsrunden anstanden. Und auch in den letzten Monaten war dies wieder der Fall: Im Vorfeld des NATO-Gipfels von Vilnius nahm die Intensität der Kampfhandlungen kurzzeitig ab, um nach dem Gipfel wieder anzusteigen. Das lässt Schlussfolgerungen darauf zu, was die Regierungschefs der NATO-Länder dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj in Vilnius sagten: Die Erfolge der ukrainischen Sommeroffensive genügten ihnen offensichtlich nicht. Dies ist verständlich, denn in der damals sechs Wochen andauernden Sommeroffensive stießen die zwölf von der NATO ausgerüsteten, ausgebildeten und nach NATO-Standards geführten ukrainischen Brigaden auf einer Frontbreite von 10 bis 15 km weniger als 10 km weit vor. Eigentlich hätte eine derart starke Streitmacht innerhalb von 10 bis 14 Tagen in 170 bis 200 km Tiefe vorstoßen sollen. 

Grafik: Russische Meldungen über abgeschossene gepanzerte Fahrzeuge der UAF
Quelle: Verfasser auf der Basis der Presseerklärungen des russischen Verteidigungsministeriums (3)

Die Ukraine war gezwungen, die Offensive fortzusetzen, wenn sie die Unterstützung des Westens nicht verlieren wollte, und sie ist auch jetzt, fast vier Monate nach Beginn ihrer Sommeroffensive, nicht viel weiter. Unverkennbar ist aber, dass sich vergangene Woche die Intensität der Kampfhandlungen im Vorfeld der Debatte im UN-Sicherheitsrat wieder erhöhte. Mittlerweile sind die ersten US-amerikanischen „Abrams“ Panzer in der Ukraine eingetroffen (4). Ob sie bewirken, was den deutschen „Leoparden“ und den britischen „Challenger“ nicht gelang? Washington ist möglicherweise skeptisch, ansonsten hätte die Lieferung von weiteren Marschflugkörpern keine Zustimmung erhalten (5). 

Im Unterschied zu westlichen Medien, welche immer noch das Narrativ einer brüchigen politischen und unfähigen militärischen Führung in Russland verbreiteten, waren besonnene Kommentatoren sich aber schon zu Beginn der ukrainischen Sommeroffensive dessen bewusst, dass das Vorhaben der Ukrainer, die verlorenen Gebiete im Südosten des Landes und die Krim zurückzuerobern, nicht leicht sein würde (6). Ernstzunehmende Experten machen sich längst keine Illusionen mehr (7). 

Die furchtbare Arithmetik des modernen Kriegs

Generell sind von Kriegsparteien keine verlässlichen Angaben über ihre eigenen Personalverluste zu erwarten und den Meldungen über die Personalverluste der Gegenseite ist in diesem Krieg mit ebenso viel Vorsicht zu begegnen, wie in anderen Kriegen. Trotz dieser Unsicherheiten genießt das Thema im Informationskrieg große Aufmerksamkeit: Jedes Mal, wenn die Konfliktparteien einen Rückschlag erleiden oder Gelände preisgeben müssen, trösten sie sich selbst und ihr Publikum damit, dass der Feind erhebliche Verluste hinnehmen musste. 

Die Kriegserfahrungen der letzten Jahrzehnte mögen helfen, gewisse Zahlen auf ihre Glaubwürdigkeit zu überprüfen. Diese Erfahrungen sagen, dass ein Kampftruppen-Bataillon, also Panzer, Mechanisierte Infanterie (im postsowjetischen Raum Motorisierte Schützen genannt), Fallschirmjäger oder Marine-Infanterie im Verlauf eines Kampftages von 8 bis 12 Stunden Dauer Verluste von bis zu 7% erleiden, davon ein Viertel Gefallene sofort. Von den Verletzten sterben später in den Spitälern oder Lazaretten weitere 10% und circa ein Drittel bleibt dauerhaft untauglich für die Frontverwendung. Bei den Unterstützungstruppen, also Artillerie, Pionieren (Genie), Luftabwehr und anderen sind die Verlustraten etwas niedriger: 3% Verluste, wovon etwa 20 Prozent Gefallene. Das waren die Zahlen in den Kriegen der jüngeren Vergangenheit und es wäre verwunderlich, wenn sie im gegenwärtigen Krieg in der Ukraine gänzlich anders wären. 

Im Hauptangriffs-Abschnitt südlich von Orikhiv greift die ukrainische Armee auf ca. 10 km Breite an. Im Angriff auf eine stark ausgebaute Verteidigungslinie müssen ihre Bataillone im Schwergewichts-Abschnitt wohl in schmalen Angriffsstreifen von je ca. 2 km Breite eingesetzt werden. In der Tat zeigt das Lagebild in diesem Raum neun ukrainische Brigaden, darunter vier Luftlande Brigaden und ein Luftlande-Regiment, davon drei in der Front im Kampf mit der ersten russischen Verteidigungslinie. Diese drei Front-Brigaden können nicht mehr als je zwei Bataillone in Front einsetzen. Die Zahl von fünf Front-Bataillonen dürfte einigermaßen realistisch sein. 

Karte: Lage der UAF südlich von Orikhiv. Quelle: Live UA Map, Ergänzungen Verfasser

Bei diesen fünf Bataillonen wird es sich wohl um zwei bis drei Infanterie- und zwei bis drei Panzer-Bataillone handeln, welche sicherlich durch minimal drei Artillerie-Abteilungen (Bataillone) unterstützt werden. Wenn man die Artillerie- und Panzer-Bataillone mit einer Personal-Stärke von 700 bis 800 Mann annimmt und die Infanterie-Bataillone mit ca. 900 Mann, dann kommt man mit den erwähnten Erfahrungszahlen auf tägliche Verluste von ca. 400 Mann, wovon 90 bis 100 Gefallene. Von den Verletzten versterben später nochmals 30 bis 35 und 90 bleiben dauerhaft frontuntauglich. Gerechnet auf bald 120 Kampftage seit Beginn der Offensive muss man auf ukrainischer Seite per Anfang Oktober folglich von ca. 48’000 Mann Verlusten ausgehen, wovon 16’000 Tote und 11’000 Invalide. Die horrenden Verlustzahlen, die in den vergangenen Wochen durch die Presse gingen, sind womöglich nicht ganz unplausibel (8). Reisende aus der Ukraine berichteten jüngst von einer erschreckend hohen Anzahl neuer Friedhöfe (9).

Auf der anderen Seite verteidigen die Russen wohl minimal mit zwei Motorisierten Schützen-Bataillonen in Front, die durch mindestens eine Artillerie-Abteilung unterstützt werden. Wenn man die gleichen Verlustraten annimmt wie bei den UAF, werden die Russen pro Tag um die 150 Mann verlieren, wovon ca. 40 Tote. Von den Verwundeten sterben später nochmals ca. 15. Wenn zusätzlich zur Tatsache, dass die Russen weniger Personal einsetzen, auch noch tiefere Verlustraten resultieren, könnte das Verhältnis russischer zu ukrainischer Verluste für die Russen günstiger sein als 1 zu 2,5, vielleicht 1 zu 4 oder sogar zu 5 (10). Das Verhältnis von 1 zu 7, von dem in russischen Publikationen die Rede war, ist wohl eine etwas optimistische Schätzung. Insgesamt könnten sich die russischen Verluste seit Beginn der Offensive auf 18’000 Mann belaufen, davon 6’000 Tote.

Ersatz für die Front

Mit den erwähnten 48’000 Mann Verlusten auf Seiten der UAF sind wohl sieben der neun eingesetzten ukrainischen Brigaden personell schwer angeschlagen. Sie mussten ausgefallenes Personal wohl durch neu rekrutiertes ersetzen, das während etwas über drei Monaten ausgebildet werden konnte. In dieser Spanne ist aber bestenfalls eine Grundausbildung möglich, sodass die mit neuem Personal aufgefüllten Verbände wohl nur noch Verteidigungsaufgaben übernehmen können. Wenn die ukrainische Armee weiterhin im angenommenen Tempo Personal verliert, dann wird sie wohl bis Ende Oktober die Intensität ihrer Angriffe senken bzw. zur Verteidigung übergehen müssen. Die furchtbare Arithmetik des modernen Kriegs zwingt dazu, selbst wenn die angenommenen Zahlen innerhalb einer gewissen Bandbreite variieren.

Die Frage stellt sich nun, wie viel Personal die Ukraine noch mobilisieren kann. Am Narrativ von zahllosen Freiwilligen kamen schon länger Zweifel auf, nachdem zahlreiche Videos von Zwangsrekrutierungen auf offener Straße in sozialen Medien zirkuliert hatten. Nun berichten ukrainische Quellen, dass sich eigentliche Netzwerke gebildet hätten, die jungen ukrainischen Männern Dokumente verschaffen, welche deren Dienstuntauglichkeit bescheinigen. Die Verbindungen scheinen über Exilkreise in Israel zu laufen. Derartige Dokumente sollen angeblich 3‘000 Euro kosten (11). In einem Land, in welchem 300 bis 500 Euro Monatsgehalt normal sind, ist das eine ansehnliche Summe. Sie entspricht überdies den Zahlen, die man früher über Schmiergelder hörte, welche ukrainische Grenzbeamte verlangten, um einen ukrainischen Mann im wehrfähigen Alter ausreisen zu lassen. Und Flüchtlinge berichten, dass 200 Euro auch beim Grenzübertritt nach Polen durchaus hilfreich seien. 

Selbstüberschätzung und Nachschubprobleme

Mit den erwähnten neun Brigaden haben die Ukrainer südlich von Orikhiv zwei Drittel ihrer zwölf neu aufgefrischten Brigaden eingesetzt. Die Schwerpunktbildung ist unübersehbar. Die Tatsache, dass die Ukrainer gleichzeitig auch jetzt noch bei Bakhmut/Artemovsk angreifen, grenzt schon fast an Selbstüberschätzung. Die billigen Erfolge des Sommers 2022 machten sie offenbar überheblich – und trübten den Blick einer westlichen Öffentlichkeit. 

Alle neun südlich von Orikhiv stehenden Brigaden darf das ukrainische Oberkommando aber nicht in die Schlacht werfen, denn wenn sie alle zerschlagen würden, entstünde eine Lücke, welche die Russen bestimmt ausnutzen würden. Mindestens eine Brigade muss erhalten bleiben, wenn die zehn Kilometer breite Lücke gedeckt werden soll. Die verbleibende eine Brigade, die jetzt noch eingesetzt werden kann, wird die stark befestigte Ortschaft Tokmak nicht einnehmen können, wenn die Russen noch ein oder zwei Bataillone haben, um diese zu verteidigen. Tokmak ist aber als Verkehrsknotenpunkt von untergeordneter Bedeutung. 

Im Vorfeld der ukrainischen Offensive versuchte sich die Neue Zürcher Zeitung mit Logistikberechnungen (12). Die damals vorgenommenen Berechnungen basierten auf der Annahme, dass die Treibstoff-Versorgung der angreifenden ukrainischen Truppen mittels Lastwagen erfolge. Dabei dürften die Erfahrungen der Amerikaner aus den Golfkriegen eine Rolle gespielt haben, wo in den Wüsten des Nahen Ostens keine anderen Transportmittel zur Verfügung standen. Lastwagen sind ein geeignetes Mittel für die Feinverteilung von Nachschubgütern zu den Endverbrauchern. Richtig leistungsfähig sind aber Transportschiffe und Eisenbahnen.

Ob die von der NZZ angegebene Verbrauchszahl von 150’000 Liter Treibstoff pro Brigade und Kampftag zutrifft, ist keineswegs sicher. Die Erfahrung der Kriege der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts zeigt, dass der Treibstoffverbrauch im Bewegungskrieg in großen geographischen Räumen auf das 30-fache steigen kann (13). Die Zahl von 150’000 Litern pro Tag mag für eine der riesigen Brigaden zutreffen, welche die Schweizer Armee in ihren diversen Armeereformen schuf, in einem kurzen, aber intensiven Ausbildungsbetrieb mit begrenzten Arbeitszeiten. Allerdings scheinen die neu geschaffenen Brigaden der UAF nicht derart groß zu sein, wie jene in der Schweiz. 

Falsch gewählter Schwerpunkt?

Jetzt rächt es sich möglicherweise für die Ukrainer, dass sie ihren Angriff am falschen Ort ansetzten und weitere Truppen in anderen Abschnitten in den Angriff warfen. Das Straßennetz im Süden der Oblast Zaporozhie ist recht dünn und die Beobachtungen aus dem Krieg von 2014 bis 2020 zeigten, dass es nur dort in einem guten Zustand gehalten wurde, wo eine militärische Notwendigkeit bestand (14). Die Straßen in diesem Raum sind in der Regel zweispurig, eine vierspurige Autobahn gibt es eigentlich nur zwischen Zaporozhie und dem Verkehrsknotenpunkt Melitopol. Parallel dazu verläuft auch eine Eisenbahnlinie. 

In einer komplexen Operation, die erst den Durchbruch durch eine starke Verteidigungslinie, dann den Übergang zum Bewegungskrieg, anschießend die Eroberung ausgedehnter Ortschaften und zum Schluss einen weiten Stoß ins Operationsziel umfasst, wobei in jeder Phase der Schutz langer Flanken vor Gegenangriffen, der Schutz vor Luftangriffen und die Feuerüberlegenheit der Artillerie sichergestellt werden muss, ist der Bedarf an Mitteln an der Front kaum vorherzusehen. Verstärkungen, schwere Fahrzeuge der Pioniere, Bergefahrzeuge, Werkstattfahrzeuge, Versorgungskonvois mit Treibstoff, Munition, Hindernis- und Baumaterial und anderem mehr müssten sich alle die wenigen zur Verfügung stehenden Straßen teilen. Die Versorgung mit Betriebsstoffen ist nur ein Teil des gesamten Komplexes zur Sicherstellung eines reibungslosen Ablaufs der Operation. Bei all dem ist zu bedenken, dass ab Herbstbeginn nach den ersten Regenfällen die Fahrt von schweren Fahrzeugen abseits von Straßen schwierig werden dürfte, nicht nur für schwere Radfahrzeuge, sondern auch für Raupenfahrzeuge. Staus auf den Straßen wären dann aber ein gefundenes Fressen für die russische Artillerie und die Luftwaffe (15). 

Weshalb die Ukrainer den Schwerpunkt ihrer Sommeroffensive ausgerechnet zwischen Orikhiv und Tokmak legten, ist unklar. In Erwartung eines schnellen Vorstoßes in die Tiefe mit dem entsprechenden Bedarf an Unterstützung durch Pioniere sowie an Treibstoff hätte eigentlich der Abschnitt zwischen Zaporozhie und Melitopol gewählt werden müssen. Nur dort sind Verkehrswege genügender Leistungsfähigkeit in Form einer Bahnlinie und einer parallel dazu verlaufenden Autobahn zu finden. Eigentlich müsste man erwarten, dass die Ukrainer irgendwann ihre Kräfte umgruppieren und das Angriffsschwergewicht verlegen, nachdem sie sich im falschen Angriffsabschnitt festgefahren haben. Ob sie das innerhalb nützlicher Frist können, ist zweifelhaft, denn Truppen-Verschiebungen können infolge der russischen Luft- und Feuer-Überlegenheit offenbar nur in kleinen Paketen und im Schutz der Nacht stattfinden. Eine Umgruppierung der ukrainischen Kräfte wird so Wochen in Anspruch nehmen. Bis zu diesem Zeitpunkt kann die ukrainische Führung eigentlich nur die bisherigen Angriffe wiederholen, selbst wenn sie sich als teuer und wenig erfolgreich erweisen.

Führt der Informationskrieg in einen nuklearen Schlagabtausch?

Gerade im Verlauf der ukrainischen Sommeroffensive zeigte sich der Charakter des aktuellen Kriegs in der Ukraine als Informationskrieg mehr denn je: Kampf und Tod um der Schlagzeilen willen. Angriffe mit Marschflugkörpern auf symbolische Ziele sind das Mittel, mit welchem die Ukraine positive Schlagzeilen im Westen zu erzeugen versucht. Damit lässt sich eine unkritische Öffentlichkeit beeindrucken, wohl aber kaum die Nachrichtendienste in Ost und West. Auch diejenigen Offiziere, welche den „Storm Shadow“ Marschflugkörper auf das altehrwürdige Stabsgebäude der russischen Schwarzmeerflotte lancierten, wussten wohl, dass der Flottenstab an einem anderen Ort tätig sein muss. Gut geschützte Bunker aus Sowjetzeiten, wie beispielsweise die U-Boot-Bunker an der Südküste der Krim, gibt es auf der Krim noch zuhauf. Die Tatsache, dass die bisherigen Einzel-Angriffe auf die Brücke von Kertsch, auf Militärflugplätze im Westen Russlands und auf Objekte in Moskau nicht systematisch wiederholt wurden, zeugt ebenfalls von deren Charakter als Akte des Informationskriegs. Ein Luftwaffen-Stützpunkt ist nicht mit einem Marschflugkörper zu zerstören. Auch die Brücke von Kertsch ist mit einer Rakete mit konventionellem Sprengkopf kaum zu zerstören, selbst wenn dieser 500 kg schwer sein sollte. Hierzu bedarf es schon mehrerer Tonnen wohl platzierten Sprengstoffs und nicht eines Sprengkopfs, der 10 oder 20 m entfernt explodiert (16). Für eine vollständige und nachhaltige Zerstörung des Prestige-Objekts Russlands wäre entweder der Einsatz einer ganzen Raketen-Brigade oder ein einzelner nuklearer Gefechtskopf nötig. Neben der propagandistischen Wirkung geht es der ukrainischen Führung möglicherweise einfach darum, möglichst viel Schaden in Russland anzurichten, in der Hoffnung, die eigene Verhandlungsposition zu stärken. Und die NATO strebt möglicherweise danach, die Chancen für einen umfassenden Schlag gegen Russland auszutesten, den der ehemalige US-Botschafter Kornblum schon gefordert hat (17). Im Kreml wird man im Sinne des „worst case“ möglicherweise auch die Möglichkeit eines nuklearen Schlags in Betracht ziehen – und über mögliche Reaktionen nachdenken. 

Schädliche Verbündete

Der Oktober ist im Süden der Ukraine üblicherweise angenehm warm und trocken. Danach beginnt die Rasputiza, die Zeit der verschlammten Wege. Dann werden Bewegungen abseits noch intakter Straßen schwierig werden. Anders als im Norden gibt es im Süden der Ukraine kaum eine Zeit, in welcher hart gefrorener Boden Bewegungen wieder erleichtert. Und im Frühjahr beginnt in den USA der Kampf um die Stimmen für die Präsidentschaftskandidaten. Wenn die US-amerikanische Opposition den Krieg in der Ukraine zum Thema macht, kommt Biden unter Druck. Deshalb muss Selenskyj in den kommenden vier bis fünf Wochen alles in den Kampf werfen, was er noch hat, und die NATO muss ihr Probing, ihre Tests für den Dritten Weltkrieg durchführen, solange die Ukraine bei dem Spiel noch mitmacht.

Die vollmundig angekündigte Sommeroffensive der Ukrainer ist weit hinter den zu erwartenden Zielen geblieben. Da nützt es auch nichts, wenn Sofa-Generäle in westlichen Zeitungsredaktionen jeden taktischen Erfolg auf Kompanie-Ebene als entscheidenden Sieg feiern und jeden Bahndamm zur strategisch bedeutenden Höhe erklären. Wenn er weiterhin solche Verluste einfährt wie bisher, wird Selenskyj, der eine Sommeroffensive lancierte, um seine Verhandlungsposition gegenüber Putin zu verbessern, seine Verhandlungsposition sogar selbst schwächen. Und wenn seine westlichen Partner auch weiterhin Erfolge an der Front zur Vorbedingung für Waffenlieferungen machen, werden sie bald einmal schädlich für die Ukraine. 

Anmerkungen:

  1. Schon zwei Monate nach Beginn der ukrainischen Offensive hatte z.B. Douglas MacGregor sie für gescheitert erklärt: This War Is Over, Russia Has Won, auf YouTube, 03.08.2023, online unter https://www.youtube.com/watch?v=lYZvaZLm6sY. Vgl. Andre Damon: «New York Times»: Weil nicht wahr sein kann, was nicht wahr sein darf, bei Global Bridge, 07.08.2023, online unter https://globalbridge.ch/new-york-times-weil-nicht-wahr-sein-kann-was-nicht-wahr-sein-darf/. Siehe auch Willy Wimmer: „…die Ukraine und der Westen vor einer vernichtenden Niederlage stehen…“, bei World Economy, 21.07.2023, online unter https://www.world-economy.eu/nachrichten/detail/die-ukraine-und-der-westen-vor-einer-vernichtenden-niederlage-stehen/ unter Berufung auf Robert Clark: Ukraine and the West are facing a devastating defeatt, bei The Telegraph, 18.07.2023, online unter https://www.telegraph.co.uk/news/2023/07/18/ukraine-and-the-west-are-facing-a-devastating-defeat/. Auch die Schweiz müsse sich auf einen schleichenden Sieg Russlands vorbereiten, forderte die NZZ zu Beginn des Monats August: „Mourir pour Kiev“ stehe nicht zur Diskussion; siehe Georg Häsler: Dieser Krieg verschwindet nicht, bei Neue Zürcher Zeitung, 05.08.2023, S. 1. 
  2. Siehe hierzu beispielsweise „Ukraine, wo die Front verläuft – Tag 576“ von SZ-Autorinnen und -Autoren, bei Süddeutsche Zeitung, 22.09.2023, online unter https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/politik/ukraine-karte-frontverlauf-e898286/?reduced=true
  3. Diese Zahlen geben Auskunft darüber, wie viele gepanzerte Fahrzeuge beschossen und getroffen wurden. Welchen Grad an Beschädigung der Beschuss anrichtete, kann der russischen Seite nicht bekannt sein, denn oftmals wird nur eine Beurteilung in den Werkstätten der UAF eine Entscheidung zulassen, ob das betroffene Fahrzeug instand gestellt werden kann oder abgeschrieben werden muss. 
  4. Siehe „Selenskyj bestätigt Ankunft von Abrams-Panzern aus USA“, bei Bayrischer Rundfunk BR24, 25.09.2023, online unter https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/selenskyj-bestaetigt-ankunft-von-abrams-panzern-aus-usa,TqrxyzW.
  5. Siehe „US will send Ukraine ATACMS long-range missiles, Biden tells Zelenskiy: NBC„, bei Reuters, 22.09.2023, online unter https://www.reuters.com/business/aerospace-defense/us-will-send-ukraine-atacms-long-range-missiles-biden-tells-zelenskiy-nbc-2023-09-22/.
  6. Siehe Alexander Schmalz: Oberster US-General: Gegenoffensive der Ukraine wird „lange dauern und sehr, sehr blutig“, bei Berliner Zeitung, 01.07.2023, online unter https://www.berliner-zeitung.de/news/oberster-us-general-milley-gegenoffensive-der-ukraine-wird-noch-sehr-blutig-li.365086 und Leo Ensel: Krieg ohne Krieger – oder: Das phantomhafte Töten und Sterben an der Front, bei Global Bridge, 06.09.2023, online unter https://globalbridge.ch/krieg-ohne-krieger-oder-das-phantomhafte-toeten-und-sterben-an-der-front/. In einem persönlichen Gespräch mit dem Verfasser sprach ein ehemaliger US-Nachrichtendienst-Mitarbeiter von bislang 400’000 Mann Verlusten der Ukrainer.
  7. Siehe bspw. das Interview mit dem ehemaligen Generalinspekteur der Bundeswehr, General aD Kujat: „Nato-General Kujat: Ukraine-Krieg ist für Selenskyj ungewinnbar, EU-Eskalation bleibt eine Gefahr“, bei Weltwoche, auf YouTube, 31.08.2023, online unter https://www.youtube.com/watch?v=gdRLAGORQaQ. Vgl. auch Scott Ritter: Ukrainischer Armee droht völliger Zusammenbruch im Herbst, auf YouTube, 09.09.2023, online unter https://www.youtube.com/watch?v=vNpvt4SniRc
  8. Siehe den Twitter-Eintrag des französischen Wirtschaftswissenschaftlers und Strategie-Spezialisten Jacques Sapir, der von 90’000 getöteten ukrainischen Soldaten spricht: https://twitter.com/russeurope/status/1703400812859252904?s=20. Zusammen mit den Verwundeten ergäbe das nach den Erfahrungszahlen der Kriege der Vergangenheit Verluste von über einer Viertelmillion Mann.
  9. Quelle dem Verfasser persönlich bekannt.
  10. Die Annahme tieferer Verlustraten basiert auf der Tatsache, dass sich der Verteidiger in gut ausgebauten Stellungen weniger exponieren muss, als der Angreifer.
  11. Quelle dem Verfasser persönlich bekannt. 
  12. Siehe Georg Häsler, Rorrest Rogers, Cian Jochem: Der Treibstoff-Nachschub ist so schwierig wie das Überwinden der russischen Sperren, in Neue Zürcher Zeitung, 25.05.2023, online unter https://www.pressreader.com/article/281522230457208
  13. Im Zweiten Weltkrieg stieg der Treibstoffverbrauch der Roten Armee um diesen Faktor. In den lokalen Kriegen des 20. Jahrhunderts war die Steigerung sogar noch höher. 
  14. Vom Zustand des Straßennetzes im Osten der Ukraine konnte sich der Verfasser auf seinen Dienstreisen für die OSZE selbst überzeugen. 
  15. Wer einen Vergleich mit Ereignissen der Kriegsgeschichte sucht, der stelle sich den Vorstoß des XXX. Britischen Korps von Generalleutnant Brian Horrocks 1944 im Rahmen der Operation „Market Garden“ nach Arnheim vor – allerdings ohne Luftüberlegenheit. Von den zahlreichen Darstellungen über eine der bekanntesten Operationen des Zweiten Weltkriegs seien nur zwei erwähnt: „Operation Market Garden„, bei National Army Museum, online unter https://www.nam.ac.uk/explore/market-garden und „The Story Of Operation ‚Market Garden‘ In Photos“ auf der Homepage des Imperial War Museum, online unter https://www.iwm.org.uk/history/the-story-of-operation-market-garden-in-photos
  16. Die 595 Pfeiler der Brücke von Kertsch bestehen aus Stahlbeton und besitzen eine Masse von je bis zu 400 t. Um einen derartigen Pfeiler vollständig zu zerstören sind mehrere Tonnen Sprengstoffs nötig, die satt am Pfeiler anliegen müssen. Die Zerstörung eines Segments der Fahrbahn oder eines Gleisabschnitts ist nicht nachhaltig, denn die Schäden sind innerhalb weniger Wochen repariert. Siehe „Крымский мост в цифрах и фактах“ bei Mir24 TV, 15.05.2018, online unter https://mir24.tv/articles/16305094/krymskii-most-v-cifrah-i-faktah und „Crimean Bridge (Крымский мост/Керченский мост), bei Stroyone, online unter https://stroyone.com/bridge/crimean-bridge.html, beide in russischer Sprache. 
  17. Siehe John Kornblum: Dann wäre ein umfassenderer Krieg unsere einzige Alternative, bei Welt Meinung, 10.09.2023, online unter https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus247286412/John-Kornblum-Die-Ukraine-muss-den-Krieg-nach-Russland-tragen-duerfen.html