China wollte sich vor allem in der Zeit der Ming-Dynastie vom 14. bis 17. Jahrhundert gegen die Mongolei und Russland schützen und errichtete eines der gigantischsten Bauwerke der Welt, die «Chinesische Mauer», die in gewissen Zeiten mehrere tausend Kilometer lang war. Ein totaler Schutz Chinas war sie allerdings nie. Ob es klug vom Westen ist, Russland heute mehr und mehr an China zu binden, darf bezweifelt werden. – Das Bild zeigt einen Teil der Chinesischen Mauer unweit von Peking, der von Einheimischen und auch von ausländischen Touristen besucht werden kann. (Foto Christian Müller)

Russlands Wende nach Osten

(Red.) Das langjährige Ziel der USA, gute Beziehungen zwischen Deutschland und Russland zu verhindern, weil diese zwei Länder zusammen wirtschaftlich auch die USA in den Schatten stellen würden, ist mit der gegenwärtigen Politik des Westens einmal mehr erreicht – vor allem zum Schaden Deutschlands. Dass Russland wirtschaftliche Alternativen im Osten hat, wurde verdrängt und vergessen. Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland erweisen sich deshalb mehr und mehr als “Schuss ins eigene Knie”. (cm)

Im Jahr 2022 kam es zum endgültigen Bruch zwischen dem Westen und Russland. Vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine beschloss Europa, seine Abhängigkeit von Russlands natürlichen Ressourcen zu minimieren. Im Jahr 2021 belief sich das Geschäftsvolumen Russlands mit Europa auf 250 Milliarden Euro, wobei die Handelsbilanz, also die Differenz zwischen Importen und Exporten, mit fast 70 Mrd. Euro zugunsten Russlands ausfiel. Die russischen Ausfuhren nach Europa in Höhe von 158 Mrd. Euro machten 38 % der gesamten russischen Ausfuhren aus, was etwa 8 % des BIP entsprach. Eine beachtliche Zahl, aber nicht so groß, dass Russland ohne das gar nicht leben konnte.

Für einige stellte der Krieg in der Ukraine eine Gelegenheit für Europa dar, seine toxische „Abhängigkeit“ von russischem Gas zu verringern. Man erinnere sich an die seltsamen Worte von US-Außenminister Antony Blinken nach der Sabotage der Nordstream-Pipeline, ein Projekt, das den USA schon immer gar nicht gefallen hatte. Merkwürdigerweise beschuldigten die westlichen Medien schon in den ersten Minuten Russland, seine eigene Infrastruktur sabotiert zu haben.

Im Jahr 2022 erreichte der Konflikt zwischen Russland und dem Westen einen neuen Höhepunkt. Aber dieser Konflikt war nichts wirklich Neues. Die Beziehungen zwischen Europa und generell zwischen dem Westen und Russland hatten sich spätestens seit 2014, nach der antirussischen Revolution in Kiew und der Sezession der Krim, immer weiter verschlechtert. Schon damals hatte der Westen Sanktionen gegen Russland verhängt, schon damals plädierten viele im Westen für eine viel aggressivere Haltung gegenüber Russland. Im Jahr 2014 wurde Russland aus der G8, dem Club der reichsten und einflussreichsten Länder der Welt, in den es 1998 aufgenommen worden war, wieder ausgeschlossen.

In Wirklichkeit hatten sich die Beziehungen zwischen Putins Russland und dem Westen bereits seit 2003 stark verschlechtert. Damals wollte der prowestliche Oligarch Michail Chodorkowski die Mehrheitsbeteiligung an seinem Ölunternehmen an ausländische Firmen verkaufen. Er wurde verhaftet, unter dem Vorwurf der Veruntreuung und Steuerhinterziehung. Yukos, das größte Ölunternehmen in Russland, wurde verstaatlicht. Die russischen Oligarchen fingen langsam an, sich nicht mehr so allmächtig zu fühlen. Auch ihre Macht hatte Grenzen.

Dann kam 2008 der Krieg in Georgien, ein Land, das der Westen gerne in der NATO haben wollte. Der Krieg wurde durch den Versuch Georgiens ausgelöst, zwei Rebellengebiete gewaltsam zurückzuerobern. Der Westen bezog dazu eine sehr klare Position: gegen Russland. Dann die Proteste in den Jahren 2011 und 2012, als Putin für eine dritte Amtszeit kandidierte. Proteste, die vom Westen unterstützt wurden. Russland sah das als feindlichen Akt an. Kurz gesagt, der Bruch mit dem Westen geschah nicht plötzlich, sondern war eine lange und schmerzhafte Scheidung. Folglich konnte Russland nur versuchen, andere Partner in der Welt zu finden.

Der Westen glaubte, dass Russland ohne ihn verloren sei, dass Russland wirtschaftlich zum Bettlerland degradiert werden würde. Ein plötzlich verarmtes Russland würde sein Haupt senken, Buße tun und demütig um Vergebung für alle seine Sünden bitten. Einige hofften auf eine Revolution in Russland. 

Stattdessen leistete die russische Wirtschaft Widerstand. Nach einem Rückgang im Jahr 2022 wuchs die russische Wirtschaft im Jahr 2023 um 3,6 % und damit deutlich stärker als die Wirtschaft der Europäischen Union. Dieses Wachstum wurde auch dadurch ermöglicht, dass Russland schnell seinen Handel von Europa auf andere Länder umstrukturieren konnte. 

China ist jetzt Russlands wichtigster Handelspartner und die chinesische Wirtschaft ist heute mit zirka 17 Billionen Dollar vergleichbar mit der der Europäischen Union. Nach Angaben des Föderalen Zolldienstes der Russischen Föderation machten 2023 die Ausfuhren in die asiatischen Länder mit insgesamt 306,6 Milliarden Dollar den größten Anteil aus, während die Einfuhren 187,5 Milliarden Dollar betrugen. Die Ausfuhren nach Europa sind dagegen deutlich zurückgegangen. Während sich die russischen Exporte nach Europa 2022 noch auf 256 Milliarden beliefen, waren es ein Jahr später nur noch 84,9 Milliarden Dollar, was einem Rückgang von 68 % entspricht. Auch die russischen Importe aus Europa gingen zurück, wenn auch weniger dramatisch: Sie beliefen sich auf 78,5 Milliarden, was einem Rückgang von 12,3 % gegenüber dem Vorjahr entspricht.

Mit Europa oder nicht?

Bis vor kurzem betrachtete sich Russland als ein zweifelsohne europäisches Land. In den ersten Jahren seiner Präsidentschaft, zumindest bis 2004, sprach Putin selbst von einem einheitlichen Wirtschaftsraum zwischen Lissabon und Wladiwostok. Russland dachte an eine Integration mit dem Westen, sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht als auch in Bezug auf die Sicherheit. Der Knackpunkt war, dass Russland sich eine gemeinsame europäische Architektur vorstellte, die unabhängig von der NATO und den USA sein sollte. Die Vereinigten Staaten und die NATO hingegen hatten aus institutionellen Gründen natürlich kein Interesse daran, den Status quo zu ändern.

Es gibt auch andere Gründe, warum sich Russland nicht in die Europäische Union hätte integrieren können. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union hätte aufgrund ihres Aufbaus zwangsläufig eine Abtretung oder zumindest eine starke Einschränkung der eigenen Souveränität zur Folge gehabt. Dies wäre für Russland inakzeptabel gewesen. Souveränität ist heute in der Europäischen Union verpönt und steht im völligen Widerspruch zu den europäischen Werten. Im heutigen Europa steht die Einheit an erster Stelle. Man denke nur an die heftige Kritik, die jedes Land, das auch nur ein bisschen von der Brüsseler Linie abweicht, einstecken muss. Manchmal schlägt die Kritik sogar in innereuropäische Sanktionen um.

Europa seinerseits hatte wenig Lust, ein so großes Land wie Russland zu integrieren, das potenziell das bevölkerungsreichste Land Europas hätte sein können und daher aufgrund seiner Demografie und seines möglichen Gewichts im Europäischen Parlament allzu einflussreich geworden wäre.

Ein ganz kurzer historischer Exkurs

Russland hat in gewisser Weise immer zwischen Ost und West geschwankt. Nach der am weitesten verbreiteten Version wurde die Rus, das alte Russland, im 9. Jahrhundert von den Normannen gegründet und konvertierte ein Jahrhundert später zum Christentum, wobei es den byzantinischen Ritus annahm. Drei Jahrhunderte später setzten die Mongolen, ein zerstörerisches Element aus dem Osten, der Rus mit der Plünderung der Hauptstadt Kiew ein Ende. Man kann lange darüber streiten, ob die alte Rus und Russland dasselbe sind oder nicht. Tatsache ist jedoch, dass das Erbe der Rus seit jeher Teil der kanonischen Geschichtsschreibung über Russland ist. Es gibt neulich Versuche, jenes Russland, das nach fast zweieinhalb Jahrhunderten des mongolischen Jochs als wiedergeborener Staat entstand, als ein Gebilde darzustellen, das in keiner Weise mit der alten „europäischen“ Rus verwandt war. Das neue Russland, das danach kam, sei eher das Produkt „mongolischer“, asiatischer und „barbarischer“ Einflüsse. Solche Interpretationen können an der Realität nichts ändern. Geschichte ist nicht nur eine Erzählung, sondern hat auch eine materielle Dimension.

Mit Peter dem Großen und Jekaterina II, der Zarin aus Deutschland, wandte sich Russland endgültig dem Westen zu. Das 19. Jahrhundert war die Zeit des ideologischen Kampfes zwischen den Westlern und den Slawophilen. Unter der Intelligenzija, die oft im europäischen Exil lebte, waren die westlich orientierten Tendenzen schon immer sehr stark gewesen. Selbst die bolschewistische Revolution war, trotz der Versuche, sie als Beispiel für östliche Despotie darzustellen, in vielerlei Hinsicht ein Produkt der westlichen Kultur. Auch der Kommunismus war ja eine Idee, die aus dem Westen nach Russland kam.

Doch bereits an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hatte der letzte russische Zar, Nikolai II., der zwischen 1894 und 1917 an der Macht war, eine Neuausrichtung Russlands auf Asien angestrebt. Für Russland gab es damals wie heute keinen Platz in Europa. Aber während des Krieges mit Japan 1905 wurde die Niederlage Russlands in vielen asiatischen Städten, von Tokio bis Istanbul, als erste Niederlage einer europäischen Macht gegen ein asiatisches Land gefeiert. Während Russland für die Europäer nicht europäisch genug war, blieb es für die Asiaten ein europäisches und westliches Land.

Nun ist der Konflikt zwischen Russland und dem Westen zu offensichtlich geworden, als dass das Argument, Russland sei ein ausschließlich europäisches Land, weiter Bestand haben könnte. In einem Europa, das kollektiv nur durch die Europäische Union repräsentiert werden will, eine Union, die sich selbst nicht als vollständig betrachtet und nach weiterer Expansion strebt, gab es keinen Platz für Russland. Man kann sich nicht vorstellen, dass ein Land, das so groß, so vielfältig und so einzigartig ist wie Russland, von Brüssel und dem Gesetzeswerk des Europäischen Parlaments regiert wird wie zum Beispiel die Slowakei, Griechenland oder Spanien — bei allem Respekt für die Slowakei, Griechenland oder Spanien, die alle auf ihre Weise wunderbare Länder sind. Nach seinen Versuchen, sich in den frühen 2000er Jahren in den Westen zu integrieren, entdeckte Russland, dass es kein Interesse daran hatte, in der westlichen „zivilisierten Welt“ nur als Parvenü angesehen zu werden.

China und die anderen

Heute ist China der größte Handelspartner Russlands. Als zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt (gemessen an der Kaufkraftparität ist Chinas Wirtschaft an erster Stelle) und mit einem großen Bedarf an natürlichen Ressourcen war China prädestiniert, ein natürlicher Markt und Partner für ein Russland zu werden, das andere Wege und Alternativen zu der Integration in den Westen suchte. Im Jahr 2023 betrug das gesamte Handelsvolumen zwischen Russland und China 240 Mrd. Dollar, was etwa 12 % des russischen BIP entspricht. 

In dem Konflikt zwischen Russland und dem Westen steht China auf der Seite Russlands, obwohl es die russischen Kriegsoperationen nicht unterstützt und einen Friedensplan vorgeschlagen hat, der die international anerkannten Grenzen der Ukraine respektieren sollte. Inzwischen sieht man in Moskau und in vielen anderen russischen Städten immer mehr Autos chinesischer Marken, wie zum Beispiel Haval. Sie scheinen gar nicht so schlecht zu sein.

Aber es gibt nicht nur China

Im Jahr 2023 war die Türkei, mit einem Handelsvolumen von 57 Mrd. Dollar, für das zweite Jahr in Folge der zweitgrößte Handelspartner Russlands. Zum Vergleich: 2021 belief sich das Handelsvolumen zwischen Russland und Deutschland auf 60 Milliarden Euro oder 71 Milliarden Dollar. Die Beziehungen zwischen Russland und der Türkei waren zumindest bis 2016 kompliziert. Die Türkei ist Mitglied der NATO und als solches nimmt sie in der internationalen Politik eine bestimmte Haltung ein. Die Spannungen zwischen Russland und der Türkei wurden dadurch verschärft, dass Russland und die Türkei im Bürgerkrieg in Syrien auf entgegengesetzten Seiten standen. Im November 2015 kam es sogar fast zu einer direkten Konfrontation zwischen Russland und der Türkei, als ein russisches Kampfflugzeug abgeschossen wurde, nachdem es für einige Sekunden den türkischen Luftraum verletzt hatte.

Dann, im Juli 2016, der gescheiterte Putsch gegen Erdogan. Die russischen Geheimdienste sollen Erdogan vor dem Komplott gegen ihn gewarnt haben. Der Westen hingegen soll bereit gewesen sein, jede Regierung nach dem Putsch als rechtmäßig anzuerkennen. Dies wäre sicherlich nicht der erste Putsch in der Türkei gewesen. Nicht einmal die Ermordung des russischen Botschafters in der Türkei im Dezember 2016 konnte die türkisch-russischen Beziehungen, die auf Pragmatismus beruhen, beschädigen. Die Türkei hat sich nicht allen 18.000 westlichen Sanktionen gegen Russland angeschlossen. Sie wird daher oft beschuldigt, Russland dabei zu helfen, die Sanktionen zu umgehen und sein wirtschaftliches Überleben zu sichern.

Und auch Indien

Zur Zeit des Ersten Kalten Krieges war Indien Teil der „Dritten Welt“, d. h. es befand sich in einer neutralen Position. Viele Kritiker missbilligten diese Neutralität, einige warfen Indien, das 1947 von Großbritannien unabhängig wurde, sogar eine prosowjetische Haltung vor. Auch im aktuellen Konflikt zwischen Russland und dem Westen versucht Indien, eine neutrale Position einzunehmen. Seit dem Ausbruch der letzten Phase des Krieges in der Ukraine sind die russischen Öleinfuhren Indiens erheblich gestiegen. Indien gehört wie China zu den BRICS, dem Club der Schwellenländer, dem neben den fünf Gründungsmitgliedern China, Russland, Brasilien, Indien und Südafrika ab 2024 auch Ägypten, der Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate angehören. Weitere Länder streben danach, dem Club beizutreten, dessen BIP inzwischen größer ist als das der G7-Länder.

Asiatisches Russland

Russland strebt nicht nur eine wirtschaftliche Integration mit den Ländern Asiens an, sondern wird auch selbst immer „asiatischer“ und „orientalischer“. Da ist zum einen der demografische Wandel: In den großen russischen Städten nimmt die Zahl der Einwanderer aus den zentralasiatischen Ländern von Jahr zu Jahr zu. Das mag vielen nicht gefallen, aber es ist ein Phänomen, das man nicht übersehen kann.

Auf der anderen Seite versucht Russland, seine asiatischen Gebiete wirtschaftlich und demographisch zu entwickeln, vorerst mit bescheidenen Ergebnissen. Die traditionelle Abwanderung aus den asiatischen Gebieten Russlands in das europäische Russland hat sich nicht umkehren lassen. Russen, egal ob in Wladiwostok, Jekaterinburg oder Moskau, fühlen sich weiterhin eher mit Europa als mit Asien verbunden. Während die meisten von ihnen „Russlands Wende nach Osten“ unterstützen, ist derzeit nur ein kleiner Teil der Russen der Meinung, dass die russische und die asiatischen Kulturen viel gemeinsam haben. Aber das könnte sich in Zukunft vielleicht ändern. Die Welt ist nicht mehr eurozentrisch und auch nicht mehr westlich zentriert. Im Westen scheint dies noch nicht erkannt worden zu sein. In Russland, dagegen, passt man sich langsam an die neue Realität einer post-westlichen Welt an.

Siehe dazu auch «Dank USA, NATO und EU lernt Russland, sich selbst zu vertrauen» (von Dmitri Trenin auf Globalbridge.ch)