«Man schaut auf die Schweiz!»
(Red.) Globalbridge-Leserinnen und -Leser wissen es: Wir haben uns schon wiederholt zum Thema «Neutralität der Schweiz» geäussert und dabei die Einhaltung und Verstärkung der Schweizer Neutralität gefordert. Gerade in einer Zeit, in der selbst Spitzenpolitiker die bisherigen bewährten Spielregeln der internationalen Diplomatie ostentativ verletzen, kann ein neutrales Land wie die Schweiz dringend benötigte Vermittlungsleistungen erbringen – könnte diese erbringen, denn im gefährlichsten aktuellen Konflikt hat sie mit der pauschalen Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland diese Rolle bereits verspielt. Leider. – Wir erlauben uns, ein Referat von Ralph Bosshard an einer Veranstaltung der Organisation «Zeitpunkt» hier zu zitieren. (cm)
Nachdem sie mangels bewaffneter Konflikte auf dem europäischen Kontinent beinahe in Vergessenheit geraten ist, ist Neutralität heute wieder ein Thema, um das wir uns ernste Sorgen machen müssen. In den Jahren nach 2014 konnten wir beobachten, wie zunehmend alle denkbaren Bereiche staatlichen Handelns und gesellschaftlichen Lebens zum Zweck der Konfliktführung genutzt werden. Wir sollen keine russischen Komponisten mehr hören und keine russische Literatur mehr lesen. Das ging so weit, dass transatlantische Suppenkasper darüber schwadronierten, dass Borshsh ein ukrainisches Gericht sei und Krim Sekt ein ukrainisches Getränk, das jetzt nicht mehr konsumiert werden dürfe. Hier müssen wir eine Grenze des Eingriffs in unser tägliches Leben ziehen.
Wir sind derzeit konfrontiert mit einer Staatengruppe, welche die Welt in Schwarz und Weiß, Gut und Böse einteilt, nach der Devise „Wer nicht für mich ist, ist wider mich“. Diese Gruppe von Staaten musste in den vergangenen Monaten feststellen, dass sie im UN Sicherheitsrat und in der UN Generalversammlung keine Mehrheiten mehr erzeugen und auch nicht erzwingen kann. Sie maßt sich die Kompetenzen des UN Sicherheitsrats an, möchte als neues System kollektiver Sicherheit an die Stelle der UNO treten und rüttelt somit an den Grundfesten der globalen Nachkriegsordnung. Dabei haben diese Staaten in den vergangenen 25 Jahren selbst genügend Dreck am Stecken gesammelt, den sie nun auf andere werfen. Heute ist Russland an der Reihe, morgen jemand anderer. Erstaunlich ist, dass der Bundesrat so willfährig mit dieser Staatengruppe kooperiert, nachdem er zuvor große Anstrengungen unternommen hatte, damit die Schweiz in den UN Sicherheitsrat kommt. Diese inkonsistente Außenpolitik muss beendet werden. Es geht heute um viel mehr als nur um die Schweiz, es geht um das Prinzip der Neutralität selbst und um das souveräne Recht von Staaten, sich der Teilnahme an einem militärischen Konflikt und auch an Wirtschaftskriegen zu enthalten. Es geht somit um die Rechte aller circa 150 Staaten der Welt, die nicht einem der westlichen Bündnisse angehören und um jene 100 Staaten, die nicht zu Joe Bidens Demokratie-Konferenz eingeladen wurden.
In den mittlerweile 25 Jahren nach dem Zerfall des Warschauer Pakts zeigte es sich, dass die wirklich schwierig zu lösenden Konflikte jene sind, in denen nicht Schwarz gegen Weiß steht, sondern Grau gegen Grau. Es sind ja genau die juristisch schwierig zu entscheidenden Widersprüche, die am ehesten zur Gewaltanwendung verleiten. Und es sind die absolut von sich selbst Überzeugten, die Selbstgerechten, die als erste eine neue Theorie des „gerechten Kriegs“ zu entwickeln beginnen. Gerade im Wissen darum sollten wir uns gegen jegliche Ideologisierung des Neutralitäts- und Friedensbegriffs wenden. Neutralität ohne Belehrung anderer ist die Richtung, die wir anstreben sollten. Neutralität ist die Haltung derjenigen, die um die Graubereiche wissen und sich nicht als Subjekt geopolitischer Konzepte gegen andere Völker in Stellung bringen lassen. Immerhin hat die Neutralität die Schweiz mehrere Male von der Teilnahme an völkerrechtswidrigen Kriegen der NATO abgehalten.
Insgesamt wäre die Durchsetzung des Artikels 51 der UN-Charta (das Recht auf Selbstverteidigung, Red.), so schwierig das im Einzelfall sein mag, einem universellen Pazifismus vorzuziehen. In der aktuellen Lage ist zu wünschen, dass der Bundesrat anstatt seinen völkerrechtlich bestehenden Spielraum auszunutzen klar kommuniziert, welche Regeln er anzuwenden gedenkt, damit er nicht denselben Fehler macht, wie die schweizerische Landesregierung von 1939 bis 1945, die auch ihren Handlungsspielraum ausnutzte und hinterher trotzdem harsch kritisiert wurde. Deshalb sollten wir heute den Begriff der bewaffneten Neutralität durch jenen der wehrhaften Neutralität ersetzen. Wir sind eine erwachsene Nation, wollen niemanden ideologisch belehren und brauchen keine Belehrung von anderen.
Es war richtig, dass die Schweiz verhindern wollte, dass sie als Plattform für Umgehungsgeschäfte gegen die EU-Sanktionen dient, denn das hätte das negative Image des Geschäftemachers noch verstärkt. Neutralität ist nicht unanständig, sehr wohl aber das Betreiben von Geopolitik hinter einem Schild von gut einem Dutzend NATO-Verbündeten. Wer aber wie die Schweiz in einer sicheren geopolitischen Position sitzt, sollte diese ausnutzen, um einen Beitrag an die Lösung der Probleme anderer zu leisten. Schweigen und Abseitsstehen wären in der Tat unanständig. Deshalb muss Neutralität grundsätzlich mit aktiver Außenpolitik kombiniert werden. Das Nichtzustandekommen der Neutralitätsinitiative würde ein fatales Signal senden, sowohl nach innen, an einen Bundesrat, der dann glaubt, er könne verfahren, wie er gerade will, als auch nach außen. Man schaut auf die Schweiz.
Zum Thema Neutralität der Schweiz:
Die Schweiz ist als neutraler Staat für Vermittlungen prädestiniert – und die Welt braucht Vermittler!
Aufruf von Linken und Grünen: Ja zur Schweizer Neutralitätsinitiative!
Die Schweizer Neutralität muss gefestigt werden!
Die Schweiz hat ihre Neutralität beerdigt. Ich schäme mich dafür.