Die Schweizer Neutralität muss gefestigt werden!

(Red.) Hans Bieri erklärt, warum die Schweiz ihre – angeschlagene – Neutralität unbedingt aufrechterhalten, nein, sogar massiv stärken sollte. Unter dem Titel «Die Neutralität als unverzichtbarer Teil der Unabhängigkeit und Versorgungssicherheit der Schweiz» veröffentlichte er seine Argumentation vor allem auch auf der Basis historischer Ereignisse, die in den großen Medien einfach unter den Teppich gewischt werden. Sein Beitrag ist absolut lesenswert! (cm)

Hier seine Einleitung: «Unser Einsatz für die Versorgungssicherheit der Schweiz erfordert jetzt einen entschiedenen Einsatz für eine umfassende Neutralität der Schweiz. Die Neutralität der Schweiz wird jedoch immer heftiger bekämpft. Es gibt Kriegsparteien, welche die neutrale Position in einem Konflikt als Hilfe für die Gegenpartei zu stigmatisieren versuchen und damit direkt die Neutralität angreifen.»

Wenn man dem Roten Kreuz Aussagen übelnimmt, welche mit der Meinung einer Kriegspartei nicht übereinstimmen, dann wird auch Krieg direkt gegen die Neutralität geführt. Wird die Neutralität angegriffen, muss sie sich verteidigen durch Aufklärung der Zusammenhänge und der daraus abgeleiteten Vorwürfe. Aktuell wird nicht die Schweiz als Staat angegriffen, aber es wird ein Staatsprinzip der Schweiz angegriffen, indem man sagt, die neutrale Nichtparteinahme der Schweiz für ein militärisch angegriffenes Land sei eine offene Parteinahme für den Angreifer. Die im Krieg stehende Partei stellt den Hergang so dar, dass sie im Recht und der Gegner schuldig ist. Doch das ist die Perspektive jeder Kriegspartei.

Der Neutrale dagegen ist nicht der Perspektive einer Kriegspartei unterworfen. Er kann und muss den Konflikt aus verschiedenen Richtungen betrachten. Er hat dadurch einen besseren Blick auf den Konfliktprozess und die Entstehungsgründe des Konfliktes, welche die Kriegsparteien verbergen wollen.

Die neutrale Position ist der einseitigen Perspektive überlegen. Sie ist näher bei der Wahrheit und kann von da her auch Lösungswege erschliessen, die aus der Perspektive der Konfliktparteien nicht sichtbar und zugänglich sind.

Natürlich ist es so, dass Konfliktparteien, die sich ihrer Übermacht bewusst sind, nicht auf Konfliktlösungen von Neutralen warten. Sie erachten deshalb die neutrale Position als überflüssig. Für die Schweiz, ihren Werdegang und ihre Stellung in der Welt ist die umfassende Neutralität jedoch unverzichtbar. Wir (die SVIL, Red.) haben deshalb im Berichtsjahr am 29. November 2022 ein Symposium zur Neutralität und Versorgungssicherheit der Schweiz durchgeführt. Am gleichen Datum vor genau 175 Jahren, am 29. November 1847, wurde der Sonderbundskrieg beendet.

In der 700-jährigen Entwicklungsgeschichte der Eidgenossenschaft zeigte sich damals einmal mehr, wie Neutralität und die Fähigkeit, Friedensprozesse zu leiten und zu fördern, zusammenhängen. Die Schweiz hat ihre Neutralität mit ihrer wirtschaftlichen Entwicklung auf karger Grundlage im Laufe ihrer Geschichte mitten in Europa beharrlich errungen. Die Schweiz als Staatswesen und stabile Demokratie mit einer sicheren Versorgung in einem offenen Weltmarkt ist Ergebnis eines intensiven politischen Veredelungsprozesses, der angesichts der aktuellen politischen Fehlentwicklung in Europa aktueller nicht sein könnte.

Der Beitrag der neutralen Position der Schweiz und ihr Vorschlag 2014 in der OSZE

Der Vorschlag der Schweiz wurde zu Unrecht von einer Kriegspartei bekämpft. Und in der Folge wird die Neutralität der Schweiz zunehmend ins Schussfeld genommen und massiv bedrängt. Weil jedoch 2014 allen klar war, dass die Ukraine mit der Beschiessung der eigenen Bevölkerung ein Kriegsverbrechen begangen hatte, konnte damals der Verhandlung und einem Abkommen, wie in Minsk vorgeschlagen, nicht ausgewichen werden. Dabei spielte die neutrale Schweiz mit ihrem Vorschlag der Kantonalisierung der Provinzen der Ostukraine eine wichtige Rolle. Anstatt nun diese Lösung umzusetzen, wurde sie von den USA nicht unterstützt. Im Nachhinein haben die westlichen Unterzeichner des Abkommens von Minsk sich sogar damit gebrüstet, sie hätten das Abkommen von Minsk nur unterschrieben, um Zeit für die militärische Aufrüstung der Ukraine gegen Russland zu gewinnen.

Beobachtungen der Konfliktentwicklung aus neutraler Sicht

Die Neutralität bedingt ein ständiges und aufmerksames Verfolgen der Konfliktentwicklungen. Die Neutralität ist gerade nicht ein opportunistischer Rückzug in die politische Nische, die von allem nichts wissen will, — wie ihr heute vorgeworfen wird, — um sie zur Auflösung zu zwingen. Die „Koalition der Willigen“ nach den Vorstellungen der USA duldet nur den Anschluss an die herrschende Kriegspartei und keine neutrale Haltung. Denn die neutrale Haltung beruht auf dem freiheitlichen Grundgedanken, dass nur die Aufklärung der Konfliktprozesse aus der Unmündigkeit des Krieges führen kann! Die neutrale Position befähigt zudem, drohende Übergriffe einzelner Akteure in ihrer Entstehung im Frühstadium zu erkennen, — bevor der Konflikt ausbricht. Das ist auch der Kerngedanke der OSZE: die europäische Ordnung nach Auflösung des Warschauer Paktes so einzuhalten und im Gleichgewicht zu halten, dass keiner sich bedroht fühlt!

Diese Errungenschaft der OSZE als Friedensdividende hat die USA kaum interessiert. Schon 1993 hatte der Generalstab der Schweiz erkannt, dass, wenn die USA mittels NATO ihre militärischen Infrastrukturen weiter in Polen und Rumänien nach Osten vorantreiben, ein Konflikt mit Russland unvermeidlich wird. Die USA behaupteten damals, dass diese Raketenbasen in Osteuropa der Abwehr ballistischer Raketen aus dem Iran dienten. In der Folge des Putsches in Kiew und des Wortbruches, die in der Vereinbarung vom 21. Februar 2014 beschlossenen demokratischen Wahlen nicht durchzuführen und mit einem Putsch wegzuwischen, hat Russland die Krim 2014 besetzt (Siehe dazu die redaktionelle Anmerkung am Ende des Artikels), weil sie sonst zum Netzwerk der weltweiten 800 Militärbasen der USA hinzugefügt worden wäre.

Bei der vorausgehenden Besetzung des Kosovo und der Einrichtung der US-Militärbasis Bondsteel wurde die OSZE-Regel vorgängig gebrochen und die Unfähigkeit der OSZE, die Vereinbarungen durchzusetzen, offengelegt. Unter dieser offensichtlich nicht ‚regelbasierten Ordnung‘ und dem Ziel, die NATO nach Osten voranzutreiben, wurden ethnische, religiöse und wirtschaftsräumliche Überschneidungen genutzt, um Konflikte von aussen durchzusetzen.

Nur zwei kurze Jahre vorher, 2012, fanden die Fussball-Europameisterschaften in verschiedenen Städten Polens und der Ukraine statt. Knappe zwei Jahre darauf, 2014, hat die ukrainische Armee das Prunkstück des Flughafens von Donezk zerstört und damit dort der russisch sprechenden Bevölkerung in der Ostukraine ein Signal des Terrors gesetzt und ihren Zerstörungswillen und ihre Zerstörungskraft demonstriert. Entgegen den Abmachungen — auch mit der Unterschrift des Präsidenten Deutschlands — wurden die vereinbarten Neuwahlen nicht durchgeführt, die rechtmässig gewählte Regierung in Kiew gestürzt und eine Putschregierung eingesetzt. Mit Gewalt und bis heute nicht aufgeklärten Verbrechen im Kontext des Maidan wurden Volk und Parlament terrorisiert, die Befehlsstrukturen in der Armee ausgewechselt und die politische Opposition verboten. Kiew hatte Dekrete erlassen, welche der russisch sprechenden Bevölkerung die eigene Sprache untersagte, die Rentenzahlungen in den Ostprovinzen aussetzten und ein Klima des verbrecherischen Terrors schuf durch die Beschiessung von Wohngebieten durch die staatseigene ukrainische Armee.

Man kann Russland vorwerfen, es habe die Krim besetzt. Dies gab der ukrainischen Regierung jedoch nie das Recht, mit ihrer Armee die Wohnsiedlungen der landeseigenen Bevölkerung jahrelang mit der Folge von 13‘000 Toten zu beschiessen. Herbei spielt nicht nur eine Rolle, dass dieses Vorgehen der ukrainischen Regierung und Armee ein Kriegsverbrechen ist, es spielt sehr wohl auch eine Rolle, dass die Ukraine mit diesem Staatsterror Russland unweigerlich herausgefordert hat, die mit Russland stark verbundene Bevölkerung zu schützen, was dazu führte, dass die russische Armee in ukrainisches Staatsgebiet vordrang. Und dies notabene erst nach mehrmaligen Aufforderungen Russlands an die USA, ihre Absichten der Aufrüstung der Ukraine und das Ziel der Truppenmassierungen an den Grenzen zu den aufständischen Ostprovinzen offenzulegen und eine Verhandlungslösung zu suchen. Dieses dringende Ersuchen Russlands Ende 2021 haben die USA nie beantwortet! Die Russland somit aufgezwungene Notwehr wird nun im Gegenteil von den USA, der NATO und der EU schwerer gewichtet als die jahrelange Beschiessung der Wohngebiete im eigenen Land durch die ukrainische Armee.

Nun steht zur Debatte, dass die USA und Grossbritannien in der Ukraine gegen Russland Krieg führten: Die einen sagen, die Schuld liege bei Russland – und genauer im Überschreiten der ukrainischen Staatsgrenze durch die russische Armee am 24. Februar 2022. Der vorerwähnte Konflikthergang wird abgeschnitten und durch die ausserhalb des Konfliktherganges aufgestellte Klage ersetzt, dieser Krieg sei das Ergebnis der autokratischen Machtpolitik Russlands und die NATO müsse Russland davon abhalten, weitere Staaten zu überfallen. 

Diese Darstellung ist genauso wenig schlüssig wie die Behauptung, das Vorrücken der NATO gegen Russland diene der Abwehr der iranischen Bedrohung, um die Vereinbarungen der OSZE nicht einhalten zu müssen. Mit anderen Worten, die rationale Analyse und Argumentation wird ausgeblendet und eliminiert. Hinter der mit kleinen Schritten jahrelang aufgebauten Konfliktentwicklung tritt nun offen der geostrategische Machtanspruch und das Recht des Stärkeren hervor. Die Auflösung des Warschauer Paktes gilt vorgeblich als eingestandene Niederlage Russlands und die ihm zugeteilte Rolle als Regionalmacht als Ergebnis der Geschichte. Der Krieg nährt sich wiederum aus der Hoffnung des Mächtigeren, seinen Vormachtanspruch militärisch durchsetzen zu können. 

Damit sind wir zurück im Imperialismus und der Rückverwandlung der Gleichheit aller Völker unter die regelbasierte Vorherrschaft des „Wertewestens“: Es ist der erneute Versuch, eine neokoloniale globale Vorherrschaft zu propagieren. Das hat Russland seit den 90er Jahren erfahren müssen, wirtschaftlich nur einseitig als „Tankstelle“ (John McCain) zu dienen.

Mahnung

Am 24. Juli 1917 war in der russischen Zeitung «Arbeiter und Soldat» folgendes zu lesen: „Schwere Tage macht Russland durch. Der dreijährige Krieg, der unzählige Opfer forderte, hat das Land zur Erschöpfung gebracht.“ Und es wurde gewarnt vor der „Verwandlung Russlands in eine Kolonie Englands, Amerikas und Frankreichs“. Zwei Monate später, – immer noch im Ersten Weltkrieg – beschwerte sich die provisorische (liberale) Regierung Russlands, man sehe sich „gezwungen, gewisse Ausländer, die sich in Russland aufführen wie Europäer in Zentralafrika, zu verwarnen“.  («Weg der Arbeit», 12. September 1917). 

Dann setzte sich die Auseinandersetzung weiter fort bis zum Zweiten Weltkrieg. Es folgte der heute in Zweifel gezogene verlustreiche Sieg der Sowjetunion über die Hitlerarmee. Es folgte der Kalte Krieg. Dabei spielte auch eine Rolle, dass das Angebot der Sowjetunion (Stalin-Note vom 10. März 1952) sich zurückzuziehen, wenn Deutschland der Nato nicht beitreten und neutral würde, abgelehnt wurde.

Es folgten immer wieder Appelle Russlands, die Rede Putins vor dem Bundestag 2002, nicht mehr bedroht zu werden und sich dem wirtschaftlichen Aufbau zuwenden zu können. Auf die berechtigte Frage Putins an der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, was das Vorrücken der Nato bezwecken solle, trat man nicht ein. Man verstehe diese Frage nicht, gab man in scheinheiliger Verstellung vor.

Der „dritte Versuch“, Russland zu kolonisieren, wird sich auf die existentielle Frage von Sein oder Nichtsein zuspitzen.Es geht um die Problematik einer Weltwirtschaft, an der alle gleichermaßen vorteilhaft partizipieren dürfen. 

Diese Errungenschaften der Europäischen Aufklärung, die zunehmenden Konflikte mit geordnetem methodischem Denken zu lösen, stehen bei Strafe einer weiter fortschreitenden Unmündigkeit, gefolgt von sinnlosen Zerstörungsprozessen auf dem Spiel.

„Peace can not be kept by force. It can only be achieved by understanding.“
Albert Einstein

Redaktionelle Anmerkung: Hans Bieri schreibt, Russland habe die Krim „besetzt“. Das ist nicht richtig, es handelte sich um eine Sezession der Krim, die sich – völkerrechtlich korrekt – einer Regierung in Kiev nicht mehr verpflichtet fühlte, da diese dort nach dem Putsch auf dem Maidan nicht mehr demokratisch legitimiert war. Siehe dazu die Erläuterungen des US-amerikanischen Völkerrechtsspezialisten David Hendrickson. (cm)

Dieser Artikel von Hans Bieri wurde erstpubliziert im Geschäftsbericht 2022 der Vereinigung SVIL, datiert vom 24.06.2023. Hans BIeri ist im Komitee der gegenwärtig Unterschriften sammelnden Neutralitätsinitiative. Auch Globalbridge.ch empfiehlt, diese Schweizer Volksinitiative zu unterschreiben.