Krim III: Die Krim und die Geopolitik des Schwarzen Meeres
Zwischen 1992 und 2014 befanden sich in Sewastopol, der größten Stadt der Krim, die Hauptquartiere sowohl der russischen als auch der ukrainischen Marine. In einer Reihe von Abkommen zwischen Russland und der Ukraine nach deren Unabhängigkeit wurde Russland die Nutzung des Stützpunkts in Sewastopol zugestanden. Das letzte Abkommen, die sogenannten Charkiw-Verträge, die 2010 in den ersten Monaten der Präsidentschaft von Wiktor Janukowitsch unterzeichnet wurden, sah die Nutzung des Stützpunkts durch Russland bis 2042 vor. Aber innerhalb von nicht einmal vier Jahren wurde Janukowitsch gestürzt, und die wütende (und zum Teil bewaffnete) Masse auf den Straßen von Kiew übernahm (mit großzügiger „Hilfe“ aus Europa und Amerika) die Macht.
Der plötzliche Machtwechsel in der ukrainischen Hauptstadt löste eine Reaktion auf der Krim aus, einer Region, die sich der Ukraine nie besonders verbunden gefühlt hatte. In Russland nennt man das den „Russischen Frühling“. Jede Nation braucht ihre Mythen, selbst im fortschrittlichen und aufgeklärten 21. Jahrhundert. Die neue Ukraine hat ihren Mythos um die „Revolution der Würde“ gegen Korruption und russische Einflussnahme aufgebaut. Auf der Krim hingegen wurden die Ereignisse, die innerhalb von weniger als vier Wochen zum Übergang der Krim von der Ukraine zu Russland führten, als „Russischer Frühling“ bezeichnet, als Aufstand für die Selbstbestimmung der russischen Nation gegen die nationalistischen und anti-russischen Ambitionen Kiews.
Als die Krim de facto zu Russland wechselte, wurde die ukrainische Marine zerschlagen. 5000 Leute, drei Viertel der Besatzung, desertierten und schlossen sich entweder Russland an oder kehrten ins Zivilleben zurück. Loyalität ist im Militär einer der wichtigsten Werte, Verrat gilt als schlimmstes Verbrechen, das unerbittlich und exemplarisch bestraft werden muss. Nach einem plötzlichen und radikalen Machtwechsel ist es jedoch normal, dass die Loyalität von vielen in Frage gestellt wird. Wenn jemand die Macht in einem Land an sich reißt, sollte man dann erwarten, dass die Streitkräfte ihm Loyalität schwören, nur weil das Militär dem Vaterland zu dienen hat? Wer ist das Vaterland, wer vertritt das Vaterland nach einer Revolution? Die alte Macht oder die neue Macht? Wer sind die „Verräter“? Das sind natürliche und legitime Fragen, aber sie werden zu selten gestellt, wenn man über die ukrainische Revolution von 2014 spricht.
Die Krim hat für Russland sicherlich eine wichtige historische Bedeutung. Die Geschichte wird in Russland als eine ernste Sache angenommen, etwas, was immer da zu sein scheint, egal wie weit in der Vergangenheit diese Geschichte zurückliegt. Aber Geschichte ist nicht alles. Das Leben geht weiter und erfordert ständige Erneuerung. Deshalb ist eine vorausschauende Entwicklungsstrategie besonders wichtig für Staaten. Staaten haben in der Regel ein längeres Leben als Menschen und werden daher von weniger sentimentalen und eher brutal pragmatischen Überlegungen geleitet. Einige nennen das Staatsräson. Im Wettbewerb der Staaten manifestiert sich der Wille zur Macht in einer unmittelbaren Form. Die Krim hat also nicht nur den historischen Wert einer tragischen und glorreichen Vergangenheit, sondern auch einen immensen geopolitischen und militärischen Wert für Russland.
Der russische Kaiser Alexander III., der vorletzte Zar vor dem Sturz der Romanow-Dynastie mit der Februarrevolution 1917, sagte bekanntlich, dass Russland nur auf zwei Verbündete zählen könne: die Armee und die Flotte. Eine Aussage, die in einer Zeit, in der sich Russland im Konflikt mit einem vereinten Westen befindet, aktueller ist denn je.
Im Laufe seiner Geschichte war Russland lange Zeit ein ausschließlich ländliches Reich. Die Russen wohnten in Städten und Dörfern, die von Wäldern und Steppen umgeben waren, sie waren Bauern und Jäger, keine Seefahrer. Die Flussschifffahrt war entwickelt, die Flüsse dienten, wie in anderen Teilen der Welt, als wichtige Handels- und Verkehrsader. Doch in den ersten sieben Jahrhunderten seiner Geschichte hatte Russland nur für kurze Zeit einen Zugang zu den Meeren, zu kurz, um eine Handels- und Militärflotte zu entwickeln.
Es war dann Peter der Große, der an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert die russische Flotte schuf. Unter Peter dem Großen erhielt Russland Zugang zum Asowschen Meer, einem warmen Meer, nachdem es jahrhundertelang ein Landreich gewesen war. Der Sieg im zweiten Asow-Feldzug im Jahr 1696 war der erste große Sieg Russlands gegen das Osmanische Reich, das viele Jahrhunderte lang Russlands Hauptfeind war. Im folgenden Jahr begab sich Peter der Große auf eine lange diplomatische Reise nach Europa, insbesondere in die Niederlande und nach England. Während seines Aufenthalts in den Niederlanden soll Peter der Große inkognito als einfacher Bauarbeiter in Werften gearbeitet haben. Das Ziel der diplomatischen Mission des russischen Zaren, eine Koalition der europäischen Mächte gegen das Osmanische Reich zu bilden, scheiterte. Aber die Russen kehrten mit einem reichhaltigen Know-how im Bereich der Seefahrt nach Hause zurück. Nachdem Peter der Große Zugang zu den warmen Meeren für Russland gewann, musste er Russland nun zu einer Seemacht machen. 1703 wurde auch Sankt-Petersburg gegründet, Russlands Fenster zur Ostsee und Europa.
Der Drang nach Süden
In den folgenden Jahrzehnten vergrößerten sich die russischen Besitztümer immer mehr, insbesondere auf Kosten des Krim-Khanats, eines Vasallenstaats des Osmanischen Reichs, das sich in einer Krise befand. Die Geschichte der russischen Flotte ist eng mit der Geschichte der Krim verwoben. Die Stadt Sewastopol wurde unmittelbar nach der Annexion der Krim unter der Herrschaft von Katharina der Großen im Jahr 1783 gegründet. Von Anfang an war Sewastopol im Auftrag der deutschstämmigen russischen Kaiserin als Stützpunkt für die russische Flotte am Schwarzen Meer gedacht. „Mit der Krim gewinnt Russland die Kontrolle über das Schwarze Meer“, schrieb der Favorit Grigori Potemkin in einem Brief an Katharina II.. Und die Krim, bequem positioniert fast im Zentrum des Schwarzen Meeres, ist bis heute einer der Schlüssel zu dessen Kontrolle.
Die geografische Lage von Sewastopol, das um die größte Bucht der Krim mit einer Länge von 8 Kilometern gebaut wurde, ist sehr speziell und teilt die Stadt in einen nördlichen und einen südlichen Teil. Im südlichen Teil befindet sich das historische Zentrum und der am meisten bewohnte Teil. Zwischen den beiden Teilen gibt es Fährverbindungen, die als ganz normale Verkehrsmittel innerhalb der Stadt genutzt werden können. Einer der Bezirke im nördlichen Teil von Sewastopol heißt immer noch „Gollandia“, was auf Russisch „Holland“ bedeutet. Peter der Große hatte ja bekanntlich die Niederlande, die damals ein wahres Seereich waren, sehr bewundert.
Sewastopol, Schauplatz großer Schlachten und heldenhaften Widerstands in Kriegszeiten, wurde zweimal praktisch dem Erdboden gleichgemacht: während des Krimkriegs zwischen 1853 und 1856 und im Zweiten Weltkrieg. Im Krimkrieg wurde der südliche Teil der Stadt mit dem historischen Zentrum von den Briten und Franzosen besetzt, während der nördliche Teil, jenseits der Bucht, frei blieb. Der junge Lew Tolstoi, damals Offizier in der russischen Armee, schrieb hier eines seiner ersten literarischen Werke, die „Sewastopoler Erzählungen“. Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Stadt, wie die gesamte Krim, von deutschen Truppen besetzt. Und dann auferstand die Stadt. Somit wurde Sewastopol zu einem mythischen Ort, für den Russland besonders empfänglich war. (Wie die Halbinsel Krim 1954 von Russland zur Ukraine kam, siehe hier. Red.)
Neue Freunde
Nach der Unabhängigkeit der Ukraine stritten Russland und die Ukraine um die Kontrolle über Sewastopol, das bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion das Hauptquartier der Flotte beherbergte. Sewastopol blieb eine eigene politische Einheit auf der Krim, offiziell getrennt von der Republik Krim, mit der Hauptstadt in Simferopol. Im Jahr 1997 trafen dann Russland und die Ukraine eine Vereinbarung, wonach Russland seine Flotte bis 2017 in Sewastopol behalten durfte. Doch nach der ersten ukrainischen Revolution, der Orangenen Revolution von 2004, verkündete der neue Präsident der Ukraine, Viktor Juschtschenko, dass die russische Flotte 2017 die Krim für immer verlassen würde.
Auch die erste ukrainische Revolution war durch die mögliche künftige Ausrichtung der Ukraine motiviert. Auch damals musste sich die Ukraine entscheiden, ob sie sich von Russland lösen und näher an Europa heranrücken oder in dem russischen Orbit bleiben wollte. Während der Präsidentschaft Juschtschenkos fiel die Entscheidung der Ukraine eindeutig zugunsten des Westens aus, auch in Bezug auf die NATO und die Sicherheit. Juschtschenkos Vorgänger, Leonid Kutschma, hatte sich um ein Gleichgewicht zwischen Russland und dem Westen bemüht. Juschenkos Amtszeit war hingegen durch einen zügellosen Atlantizismus gekennzeichnet. Nach fünf Jahren als Präsident bekam Juschtschenko bei den nächsten Wahlen noch 5 % der Stimmen und belegte damit den fünften Platz unter den Präsidentschaftskandidaten. Der forcierte Atlantizismus der neuen prowestlichen Ukraine, die damals noch weit von westlichen Lebensstandards und -Stils entfernt war, schien den meisten Ukrainern nicht gerade zu gefallen.
Während der Präsidentschaft Juschtschenkos wurde die Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und der NATO, die bereits seit 1994 aktiv war, intensiviert. Regelmäßig, fast jährlich, nahm die Ukraine an den Militärübungen „Sea Breeze“ teil. Im zweiten Jahr der Präsidentschaft Juschtschenkos, 2006, lösten die Vorbereitungen für die Sea Breeze-Übungen eine Reihe von Protesten auf der Krim aus, insbesondere in der Stadt Feodosia, wo das amerikanische Schiff Advantage gelandet war. Die Proteste dauerten einige Tage an. Die Demonstranten warfen Steine auf amerikanische Soldaten, diese mussten vorsichtshalber in ihren Kasernen bleiben. Schließlich wurden die Übung und die geplante Konfliktsimulation für dieses Jahr abgesagt. Das Krim-Parlament erklärte die Krim zur „NATO-freien“ Zone. Aber die Zentralregierung in Kiew hatte offensichtlich andere Pläne. Die gemeinsamen amerikanisch-ukrainischen Übungen wurden in den folgenden Jahren wieder aufgenommen. Selbst während der Präsidentschaft Janukowitschs, eines angeblich pro-russischen Präsidenten, wurden sie fortgesetzt und fanden 2013 zum letzten Mal statt, diesmal in Odessa.
Und ewige Interessen
Bis 2014 unterhielt Russland zwei Marinestützpunkte im Ausland, einen in Sewastopol mit rund 26.000 Mann und den anderen in Tartus in Syrien im Mittelmeer mit 7.000. Der Krieg in Syrien, der 2014 bereits drei Jahre andauerte und das Assad-Regime fast umgestürzt hatte, schien die geopolitischen Interessen Russlands im Mittelmeerraum zu gefährden. Russland intervenierte 2015 daher zur Unterstützung des Assad-Regimes. Im Jahr 2014 war die Krim bereits an Russland übergegangen. Russland zeigte, dass es bereit war, seine geopolitischen Interessen ernsthaft zu verteidigen und dafür zu kämpfen.
Die Vereinigung der Krim mit Russland wird nur von wenigen Ländern anerkannt, aber Russland zeigte, dass es sich nicht groß darum scherte, was andere denken, wenn seine lebenswichtigen geostrategischen Interessen auf dem Spiel stehen. Die Logik der Geopolitik und der Schutz der eigenen Sicherheit diktierten die Handlungen. Die Krim ist nun de facto russisches Gebiet — auch wenn sie für die Ukraine, in etwas optimistischer Sprache, offiziell immer als ein „vorübergehend besetztes Gebiet“ bezeichnet wird. Die Krim wird wahrscheinlich noch lange in dieser rechtlichen Schwebe bleiben. Man denke zum Beispiel an Nordzypern, das sich 1974, nach einer türkischen Intervention, vom Rest der Insel trennte. Seitdem sind fünfzig Jahre vergangen, und eine Lösung des Konflikts ist nicht in Sicht, obwohl der südliche Teil von Zypern nun schon seit 20 Jahren zur Europäischen Union gehört.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren die USA überzeugt, dass die Weltordnung in eine unipolare Phase eingetreten war. Die Interessen anderer Länder verdienten nicht allzu viel Aufmerksamkeit. Die USA waren so stark, dass sie sich eine solche Haltung leisten konnten. Macht konnte zum Gesetz werden und die Weltordnung bestimmen. Aber die USA hatten nicht mit Russland gerechnet. Die Krim war jahrhundertelang von Russland kontrolliert worden, und jeder, der aufmerksam zugehört hatte, wusste, dass die Krim für Russland ein lebenswichtiges, dauerhaftes Interesse darstellt, das mit der Geografie des Landes zusammenhängt. Doch in einer unipolaren Welt können die USA niemandem nachgeben und schon gar nicht das Schwarze Meer Russland überlassen.
In den letzten Jahren, vor Februar 2022, war viel von russischem Separatismus in der Ukraine und Irredentismus die Rede gewesen. Doch beides war, zumindest bis 2014, nur latent vorhanden. Sicher, Sewastopol und die Krim haben sich nie sehr ukrainisch gefühlt, aber ohne die Ukrainisierungsbestrebungen der Kiewer Machtzentrale hätte es nie einen „russischen Frühling“ gegeben.
Bis heute ist die Kontrolle über das Schwarze Meer zwischen der NATO und Russland umstritten. Drei der Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres sind Mitglieder der NATO. Zwei weiteren Ländern, der Ukraine und Georgien, hatte die NATO bereits versprochen, dass sie eines Tages Mitglied werden würden. In der Nähe von Constanța, der wichtigsten Hafenstadt in Rumänien, befindet sich schon ein großer NATO-Stützpunkt. Und in den nächsten Jahren soll dieser der größte NATO-Stützpunkt in Europa werden, größer als die Ramstein Air Base in Deutschland.
Die russische Marine hat im Krieg in der Ukraine viele wichtige Schiffe verloren, darunter das Flaggschiff „Moskwa“ im April 2022, das mit ukrainischen Neptun-Raketen abgeschossen wurde. Das Hauptquartier der russischen Flotte mitten im Zentrum von Sewastopol wurde im September vergangenen Jahres von Raketen getroffen, das Gebäude wurde aufgerissen, ein Krater von mehreren Metern Breite entstand. Heute sind nicht mehr viele russische Kriegsschiffe in Sewastopol zu sehen, der größte Teil der Flotte ist nach Noworossijsk umgezogen. Dennoch bleibt die russische Marine die stärkste Militärmacht im Schwarzen Meer, selbst wenn die Türkei den Bosporus kontrolliert. Sewastopol ist eine verwundete Stadt, aber eine, die weiterlebt und trotz allem froh ist, zu Russland zurückgekehrt zu sein.
Siehe dazu von Stefano di Lorenzo: «Die Krim zehn Jahre danach» und «Krim II: Kertsch – Antike, Widerstand und Brücken»
Siehe zur Krim auch die Berichte von Christian Müller, der die Krim im Frühling 2019 persönlich besucht hat:
- den ersten Teil der Serie über die Krim (ein allgemeiner historischer und politischer Überblick)
- den zweiten Teil der Serie über die Krim (zu Sewastopol)
- den dritten Teil der Serie über die Krim (zu Kertsch mit den Katakomben und zur neuen Brücke auf das russische Festland)
- den vierten Teil der Serie über die Krim (über die vielen jungen Tataren, die die ihnen gebotene berufliche Chance packen)
- den fünften Teil der Serie über die Krim (über die Reisemöglichkeiten auf der Krim)
- den sechsten Teil der Serie über die Krim (zum Forum über die Verbreitung der russischen Sprache)
und den siebten Teil der Serie über die Krim (Persönliche Erfahrungen und Einschätzungen)