Verhungerte Menschen auf dem winterlichen Bürgersteig in Leningrad. (Bild: Archiv)

Heute vor 80 Jahren hat die Rote Armee die deutsche Blockade Leningrads mit einer Million Verhungerten öffnen können. Das darf nicht in Vergessenheit geraten!

Es wird immer klarer: Deutschland sieht, nach den zwei weltkriegsentscheidenden verlorenen Schlachten Stalingrad und Kursk, endlich eine Chance, den Russen zu zeigen, „wo Gott hockt“. Aber auch diesmal wird Deutschland nur verlieren: den wirtschaftlichen Vorteil, aus Russland günstiges Gas zu erhalten, was viel zu seinem wirtschaftlichen Aufschwung beigetragen hat, aber auch die nationale Ehre, nach einem verlorenen Krieg mit 27 Millionen Kriegsopfern allein in der Sowjetunion, zu einem anständigen, friedfertigen Land geworden zu sein. Die eigenen Kriegsverbrechen – notabene zu einer Zeit, als viele heute lebende Deutsche bereits geboren waren, also nicht etwa damals, vor Urzeiten! – dürfen nicht in Vergessenheit geraten. Leningrad als Beispiel!

Die Stadt Leningrad, das heutige St. Petersburg, war Anfang der 1940er Jahre bereits eine Millionenstadt. Die am Baltischen Meer gelegene Stadt war schon damals die zweitgrößte Stadt Russlands. Beide Städte, Leningrad und Moskau, sollten gemäß Hitler nicht nur „erobert“, also unter eigene Kontrolle gebracht werden, beide Städte sollten, wie aus einem Schreiben des Nazi-Kaders Reinhard Heydrich hervorgeht, „ausgelöscht“ werden! Ausgelöscht werden! Es ging also klar um die geplante und teilweise realisierte Ermordung von Millionen von russischen Zivilisten!

Im Vernichtungslager Treblinka in Polen wurden zwischen Juli 1942 und August 1943 von den Nazis über 700.000 Menschen ermordet, fast alles Juden. Die Schätzungen gehen bis auf eine Million. Weil es gezielt gegen Juden ging und weil die Juden in aller Welt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dafür sorgten, dass dies als Genozid ohne Vergleich in die Geschichte einging, weiss heute zumindest in Deutschland fast jedes Kind, welches Kriegsverbrechen Deutschland damals begangen hat. Und wie ist es mit der gewollten Verhungerung von Millionen von Russen? Die totale militärische Blockade der russischen Millionenstadt Leningrad begann am 8. September 1941. Erst 872 Tage später, am 27. Januar 1944, konnte die Rote Armee diese Blockade mit Waffengewalt durchbrechen und wieder Lebensmittel in die Stadt einführen. Da die gewollte Hungersnot zur totalen Vernichtung der Leningrader Bevölkerung ja nicht am ersten Tag der Blockade begann, aber bald einmal dramatisch anwuchs, muss davon ausgegangen werden, dass im Januar 1944, also nach mehr als zwei Jahren ohne jede Lebensmittel-Zufuhr, jeden Tag – jeden Tag! – bis zu 3000 Menschen oder gar mehr den Hungertod erlitten. Die Juden in Treblinka wurden vergast, die Russen in Leningrad wurden dem Hungertod übergeben: Gibt es schrecklichere Methoden, Menschen en masse umzubringen?

Heute liefert Deutschland Waffen gegen Russland

Aber heute liefert Deutschland Kampfpanzer – die besten der Welt! – gegen Russland! Und bemäntelt diesen Entscheid mit der Erklärung, es sei eine „gemeinsame Entscheidung“ mit den USA. Zur Erinnerung: Nach dem Ende des Kalten Krieges erlaubte Russland freiwillig die Wiedervereinigung der beiden Deutschland. Der Warschau-Pakt wurde aufgelöst. Die in der DDR stationierten Militärs wurden bis 1995 alle abgezogen und ihre Waffen und ihre Infrastruktur, alles wurde geräumt. Die NATO aber blieb erhalten – gegen welchen Feind? Und sie erweiterte sich entgegen allen Zusicherungen nach Osten – gegen Russland! – um 14 Länder! Und die USA beließen ihre Militärbasen in Deutschland und lagern bis heute in Deutschland und auch in Italien einsatzbereite Atombomben.

Man muss wissen: In Russland gibt es noch heute Millionen von älteren Russen und Russinnen, die nur eine Oma hatten, aber keinen Opa. Der Opa war schon in jungen Jahren einer der 27 Millionen militärischen und zivilen sowjetischen Kriegsopfer des von Deutschland initiierten Zweiten Weltkrieges. In Russland ist die eigene Geschichte präsent, bei Jung und Alt. Und auch diesmal werden die Russen und Russinnen lieber kämpfen und nötigenfalls auch hungern, als dass sie passiv zuschauen, wie ihr Heimatland mit Hilfe von deutschen Panzern zerstört wird.

Im Winter 1944 verhungerten in der von den deutschen Truppen abgesperrten Stadt Leningrad jeden Tag Tausende Menschen. Die Russen und Russinnen haben das – zu Recht! – noch nicht vergessen. (Bild Archiv)

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Zum 80. Jahrestag der Befreiung Leningrads durch die Rote Armee hat Dr. Wolfgang Schacht einen eindrücklichen Bericht publiziert. Er zeigt das unermessliche Leid der Menschen in Leningrad am konkreten Beispiel einer Familie. Sein Beitrag kann hier geöffnet und auf Wunsch als PDF downgeloadet werden.

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Wenigstens die Liebhaber klassischer Musik wissen um den Genozid von Leningrad

Leo Ensel, der geschichtsbewusste deutsche Essayist, ist so ein Liebhaber klassischer Musik. Zur Siebten Sinfonie des Komponisten Dmitri Schostakowitsch, der selber aus Leningrad damals noch knapp fliehen konnte, lieferte er uns für den heutigen Erinnerungstag folgende Ergänzung:

«Schon ab September 1941 begann Schostakowitsch in der Presse über die Arbeit an seiner Siebten Sinfonie op. 60 zu berichten. Die Deutschen rückten immer näher an Leningrad heran. Den ersten Satz der Sinfonie hatte er am 3. September abgeschlossen, noch bevor am 8. September die Blockade begann, die die Stadt für 870 Tage vollständig abriegeln sollte. Die ständig bombardierte Stadt konnte nur noch aus der Luft versorgt werden, im Winter sorgte das Eis des Ladogasees für eine Verbindung. Am 14. September gab Schostakowitsch in der Leningrader Philharmonie ein Konzert, dessen Einnahmen in den Verteidigungsfonds flossen. In seiner „Ansprache aus Leningrad“ berichtete er: „Meine lieben Freunde! Ich spreche von Leningrad aus zu euch, während direkt vor den Toren der Stadt erbittert gegen den Feind gekämpft wird. Ich spreche von der Front aus. Gestern morgen habe ich die Partitur des zweiten Satzes meiner neuen, großen Sinfonie abgeschlossen. Wenn es mir gelingt, dieses Werk gut zu Ende zu führen, wenn ich den dritten und vierten Satz abschließen kann, dann werden wir dieses Werk als ‚Siebente Sinfonie‘ bezeichnen dürfen. Ich erzähle das, damit alle wissen: die Gefahr, in der Leningrad schwebt, hat dessen pulsierendes Leben nicht zum Schweigen gebracht.“

Schostakowitschs Siebte Sinfonie wurde schon eine Legende, bevor sie fertig komponiert war. Aus Amerika kamen Bitten um das Erstaufführungsrecht: von Toscanini und Anderen. Der dritte Satz war am 29. September in Leningrad beendet worden, dann wurde auch Schostakowitsch evakuiert. Er kam nach Kuibyschew (Samara). Dort entstand im Dezember das Finale, und dort wurde die Sinfonie vom Orchester des Moskauer Bolschoi Theaters am 5. März 1942 uraufgeführt. Als anerkannter Künstler konnte Schostakowitsch unter vergleichsweise günstigen Umständen leben. Im Frühjahr 1942 schrieb er: „Wir sind gut untergekommen. Wir haben eine Wohnung mit zwei Zimmern. Meine Mutter, meine Schwester und mein Neffe sowie die Verwandten meiner Frau sind in Leningrad geblieben. Nur selten kommen von dort Briefe, die ungewöhnlich schwer zu lesen sind. Zum Beispiel wurde mein Hund gegessen; gegessen wurden auch einige Katzen.“

Der Erfolg der „Leningrader Sinfonie“ war sensationell, in der Sowjetunion wie im Ausland, wo sie schon am 22. Juni 1942 in London und am 19. Juli von Toscanini in New York erstmals aufgeführt wurde.  Schostakowitsch hatte durch zahlreiche Kommentare dafür gesorgt, dass der Hörer wusste, welches Programm er seinen Empfindungen zugrunde zu legen hatte. Und die Musik legte programmatische Ausdeutungen nicht nur durch die Umstände ihres Entstehens, sondern auch durch eine effektvolle Episode im ersten Satz nahe, die am meisten zur Berühmtheit der Sinfonie beitrug: Dort steigert sich eine banale Melodie durch immer stärkere Instrumentierung zu einem brutalen Marsch von aggressiver Lautstärke. Dieser Abschnitt ging in die Musikgeschichte als die Episode der „Invasion“ ein, eine Schlagermelodie, die leise beginnt und wüst endet: Sie sollte, so schrieb Schostakowitsch im Frühjahr 1970 an einen deutschen Kommunisten, den Einmarsch der Nazi-Truppen symbolisieren: „Das Marschthema aus meiner Sinfonie verkörpert den Einfall des aggressiven deutschen Faschismus.“ 

Im Laufe des Finales der Sinfonie klingen militärische Signale aus weitester Ferne. Langsam, aber ständig wächst die Musik zu wildem, kämpferischem Stampfen an – das untergeht und in einen schweren Trauermarsch, in pathetische Totenklage mündet. Aus dieser Klage über das vergossene Blut, begleitet von fernen Militärsignalen, entwickelt sich der Schluss. Die Musik fleht um Erlösung, schreit nach Rache, wächst an zu brüllendem Tosen, bis sie umschlägt und ein Hoffnungsstrahl in die düstere Szenerie fällt.»

Hier kann die „Leningrader Sinfonie“ gehört werden.

Zu einem informativen, siebeneinhalb Minuten dauernden Video mit historischen Aufnahmen aus jener Zeit. Sehenswert!

Siehe auf dem Bildschirm rechts die oben die Empfehlungen auf wichtige Artikel auf anderen Plattformen. Heute ebenfalls zum Thema Leningrad.

Siehe auch: «Müssen künftig auch deutsche Wissenschaftler kuschen?» – zum Thema Genozid, auch auf Globallbridge.ch, hier anklicken.