Stimmungsbild aus Leningrad, wo die deutsche Wehrmacht absichtlich eine Million Menschen verhungern ließ. Erst nach gut 28 Monaten konnte die Stadt von der Roten Armee wieder befreit werden. (Archiv-Bild)

Müssen künftig auch deutsche Wissenschaftler kuschen?

«Ein Zeitzeuge versuchte, das Grauen in Worte zu fassen: ‹Leningrad wurde zu einer Leichenhalle, die Straßen wurden zu Alleen der Toten. In jedem Haus werden im Keller Leichen gestapelt. Auf den Straßen liegen reihenweise Verstorbene.›» So berichtete der «Spiegel» am 8. September 2021 und zeigte dazu über 20 Bilder aus verschiedenen Archiven. Die deutsche Wehrmacht riegelte ab 8. September 1941 die russische Großstadt Leningrad hermetisch ab – mit dem erklärten Ziel, die Einwohner verhungern zu lassen. Die Strategie hieß: Warum sollen wir Munition verbrauchen, wenn es auch ohne geht. Es war gezielter Massenmord. Bis zur Befreiung Leningrads am 27. Januar 1944 – nach 872 Tagen! – durch die Rote Armee waren eine gute Million Leningrader Einwohner verhungert. Aber morgen Mittwoch, am 30. November 2022, will man in Berlin wider besseres Wissen die russische Hungersnot von 1932/33, von der Ukraine Holodomor genannt, formell zum «Genozid» erklären, womit auch Wissenschaftlern künftig verunmöglicht wird, die historische Wahrheit zu sagen.

Zum Thema Holodomor und Genozid gegen die Ukraine hat Globalbridge.ch vor ein paar Wochen eine detalierte Analyse publiziert: «Der Holodomor war eine katastrophale Hungersnot, aber kein Genozid.»

Zum gleichen Thema hat nun auch die Plattform «German Foreign Policy» eine Analyse publiziert – mit äusserst brisanten Informationen, warum morgen Mittwoch der Deutsche Bundestag den Holodomor formell zum Genozid erklären will:

Berlin und der „ukrainische Holocaust”

Bundestag will die Hungersnot in der Ukraine 1932/33 zum Genozid erklären und übernimmt damit politisch motivierte Positionen aus dem Milieu der ukrainischen Ex-NS-Kollaboration.

BERLIN/KIEW (Eigener Bericht) – Der Deutsche Bundestag will die Hungersnot in der Ukraine während der Jahre 1932 und 1933 zum Genozid erklären und übernimmt damit eine politisch motivierte Einstufung aus dem Milieu der ukrainischen Ex-NS-Kollaboration. Dies geht aus Untersuchungen von Historikern hervor. Demnach ist die Behauptung, bei der Hungersnot handle es sich um einen willentlich herbeigeführten „ukrainischen Holocaust“, im ukrainischen Exil in Kanada entstanden, in dem einstige NS-Kollaborateure den Ton angaben. Ende der 1980er Jahre wurde die Behauptung in dem neu geschaffenen Wort „Holodomor“ gebündelt. Historiker weisen sie in der überwiegenden Mehrheit zurück, nicht zuletzt, weil die Hungersnot die Bevölkerung in agrarischen Regionen in der gesamten Sowjetunion traf. Der Bundestag will seine Resolution zum „Holodomor“ schon an diesem Mittwoch verabschieden. Dies droht auch gravierende innenpolitische Folgen hervorzurufen: Am Freitag hat der Bundesrat die jüngste Verschärfung des §130 StGB abgenickt, nach der „das öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen“ von Kriegsverbrechen sowie darüber hinaus von Völkermord unter Strafe gestellt wird.

Die Hungersnot

Gegenstand der Bundestagsinitiative ist die verheerende Hungersnot, die die Sowjetunion in den Jahren 1932 und 1933 erfasste. Sie hatte verschiedene Ursachen. Im Jahr 1931 hatten erst eine Dürre, dann weitere widrige Wetterbedingungen die Ernte ernsthaft geschädigt. Dies geschah, als die 1929 eingeleitete Kollektivierung der Landwirtschaft zu Spannungen führte und zugleich so viel Getreide zur Versorgung der Industriearbeiter wie zur Sicherung des Exports zwangsweise aus den Anbaugebieten abtransportiert wurde, dass dort gravierender Mangel auftrat. Dies war in allen wichtigen Getreideanbaugebieten der Sowjetunion der Fall – neben dem bedeutendsten Anbaugebiet, der Ukraine, etwa auch in Teilen Russlands oder in Kasachstan. Die Hungersnot forderte in der Sowjetunion insgesamt mutmaßlich zwischen sechs und sieben Millionen Todesopfer, davon wohl rund 3,5 Millionen im größten Getreideanbaugebiet – der Ukraine –, weitere 1,5 Millionen in Kasachstan; es kamen zahllose Opfer in Russland und anderen Gebieten der Sowjetunion hinzu. Gemessen an der Größe der Bevölkerung hatte während der gesamten Hungersnot nicht die Ukraine, sondern vielmehr Kasachstan die höchste Zahl an Todesopfern zu beklagen. Fachhistoriker beurteilen die Verantwortung der sowjetischen Regierung unterschiedlich; von einem gezielten Genozid geht jedoch nur eine kleine, in der Regel weit rechts stehende Minderheit aus.

Im Milieu ehemaliger NS-Kollaborateure

Erstmals in einer breiteren Öffentlichkeit zum Thema und zugleich zum Mittel politischer Propaganda gemacht worden ist die Hungersnot in der Ukraine Anfang der 1980er Jahre, und zwar in der ukrainischen Exilcommunity in Kanada, in der ukrainische NS-Kollaborateure klar den Ton angaben. Hintergrund war, wie der Historiker Per Anders Rudling von der Universität Lund es bereits vor Jahren beschrieben hat [1], die Debatte über die Shoah, die nach der Ausstrahlung der Fernsehserie Holocaust im Jahr 1978 erstarkte. In diesem Kontext fürchteten ukrainische NS-Kollaborateure in Kanada, ins Visier von Öffentlichkeit und Ermittlungsbehörden zu geraten, und gingen zu einer Art Gegenoffensive über, indem sie – so schildert es Rudling – die Hungersnot von 1932/33 zu einem angeblich gezielten Massenmord, zum Genozid erklärten. Dabei seien Trennlinien zwischen Polit-Aktivismus und Wissenschaft verschwommen: So habe in den 1980er Jahren zum Beispiel ein Veteran der Waffen-SS-Division Galizien deren lokalen Traditionsverband im kanadischen Edmonton angeführt, dem Vorstand des Canadian Institute of Ukrainian Studies angehört und als Kanzler der University of Alberta gewirkt.[2] Zunächst sei vom „Hungersnot-Holocaust“ oder vom „ukrainischen Holocaust“ die Rede gewesen; Ende der 1980er Jahre sei dann der Begriff „Holodomor“ aufgekommen.

Das Geschichtsbild des Exils

Rudling beschreibt zudem, wie nach dem Zerfall der Sowjetunion die Geschichtsschreibung des ukrainischen Exils in der Ukraine dominant wurde. Zwar sei es dem ukrainischen Exil – anders als demjenigen der baltischen Staaten – nicht gelungen, staatliche Spitzenpositionen in der Ukraine zu erobern, stellt Rudling fest. Doch hätten ukrainische Exilhistoriker es binnen kürzester Zeit vermocht, die alte sowjetische Geschichtsschreibung zu verdrängen. Damit sei das im Exil dominante, stark von NS-Kollaborateuren geprägte Weltbild, dem zufolge die NS-Kollaborateure der OUN wie auch der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) als heldenhafte „Freiheitskämpfer“ einzustufen seien und die Hungersnot von 1932/33 als „Genozid“ zu gelten habe, in die Geschichtsschreibung in der Ukraine selbst übergegangen. Staatliche Weihen habe sie unter Präsident Wiktor Juschtschenko erhalten, schreibt Rudling.[3] Juschtschenko, in der „Orangenen Revolution“ des Jahres 2004 mit massiver Unterstützung des Westens an die Macht gelangt, erklärte nicht nur OUN-Führer Stepan Bandera im Jahr 2010 posthum zum „Helden der Ukraine“; während seiner Amtszeit stufte außerdem das Parlament die Hungersnot offiziell als „Genozid“ (2006) ein. Es widersprach damit der weit überwiegenden Mehrheit der Historiker außerhalb der Ukraine.

„Als Genozid anerkennen“

Der Einstufung der Hungersnot als „Genozid“, die mehrere westliche Staaten und Parlamente bereits vorgenommen haben – Kanadas Regierung etwa schon im Jahr 2008, der US-Senat im Jahr 2018 –, will sich jetzt auch der Bundestag anschließen. Zuletzt hatten ukrainische Politiker Druck gemacht; so hatte etwa Außenminister Dmytro Kuleba in der Tageszeitung Die Welt verlangt, der Bundestag solle „den Holodomor als Genozid anerkennen“.[4] Zudem hatte der ukrainische Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk erklärt, er würde sich einen „Holodomor-Beschluss des Bundestages“ „sehr wünschen“.[5] Jetzt heißt es in einer Vorlage für eine Parlamentsresolution, die Berichten zufolge von dem Grünen-Abgeordneten Robin Wagener initiiert wurde, die von den Fraktionen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und CDU/CSU unterstützt wird und an diesem Mittwoch vom Bundestag verabschiedet werden soll, „aus heutiger Perspektive“ liege „eine historisch-politische Einordnung“ der Hungersnot „als Völkermord nahe“: „Der Deutsche Bundestag teilt eine solche Einordnung“.[6] Damit macht sich das deutsche Parlament die Position des von NS-Kollaborateuren geprägten ukrainischen Exils im Kanada der 1980er Jahre ausdrücklich zu eigen.

„Historisch-politisch“

Aufschlussreich ist, dass der Resolutionsentwurf die Einstufung der Hungersnot als Genozid explizit als „historisch-politisch“ einschränkt. Berlin ist bis heute nicht bereit, den Genozid an den Herero und Nama unumwunden anzuerkennen, weil dann Entschädigungen gezahlt werden müssten. Um den Völkermord nicht auf Dauer stumpf leugnen zu müssen, versteift es sich inzwischen darauf, ihn „historisch-politisch“ anzuerkennen, nicht aber juristisch, da vor dem Inkrafttreten der UN-Völkermordkonvention am 12. Januar 1951 ein Straftatbestand Genozid schlicht nicht existiert habe (german-foreign-policy.com berichtete [7]). Diese Rechtsposition wäre schwer zu halten, stufte der Bundestag die Hungersnot uneingeschränkt als Völkermord ein; daher die Einschränkung „historisch-politisch“.

Berliner Prioritäten

Zudem wirft die Übernahme von Positionen des einstigen ukrainischen Exils in Kanada ein Schlaglicht auf die Haltung Berlins zu einer UN-Resolution, die seit Jahren regelmäßig bei den Vereinten Nationen eingebracht wird und die insbesondere die „Bekämpfung der Verherrlichung des Nationalsozialismus“ und „des Neonazismus“ zum Ziel hat. Bereits seit Jahren enthält sich die Bundesrepublik in der Abstimmung darüber, anstatt klar gegen NS-Verherrlichung Position zu beziehen.[8] Am 4. November dieses Jahres hat Deutschland sogar explizit mit Nein gestimmt. Der Grund: Der Resolutionsentwurf war, wie üblich, von Russland eingebracht worden, das dabei auch die Verherrlichung der NS-Kollaborateure im Sinne hat, wie sie in den baltischen Staaten und der Ukraine bis heute an der Tagesordnung ist.[9] Vor die Wahl gestellt, entweder NS-Verherrlichung inklusive der Ehrung von NS-Kollaborateuren zu verurteilen oder durch die Ablehnung des Entwurfs Russland zu brüskieren, hat sich Berlin für Letzteres entschieden: Der heutige Machtkampf des Westens gegen Moskau hat Vorrang vor dem Bekenntnis zum Kampf gegen den Nazismus.

Angriff auf die Meinungsfreiheit

Womöglich weit reichende Fragen wirft der Resolutionsentwurf schließlich in Verbindung mit der im Oktober erfolgten Verschärfung von §130 StGB auf, wonach jetzt „das öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen unter Strafe“ stehen. Die Verschärfung ist als Angriff auf die Freiheit der Meinungsäußerung scharf kritisiert worden. In Zukunft könnte sie, gestützt auf die für Mittwoch angekündigte Bundestagsresolution, auch auf Äußerungen über die Hungersnot der Jahre 1932/33 in der Ukraine angewandt werden. Das träfe die Mehrheit der Geschichtswissenschaft außerhalb der Ukraine, die die Hungersnot für eine furchtbare Katastrophe hält – mit durchaus divergierender Einschätzung der Verantwortung Moskaus –, aber eben nicht für einen Genozid.

Ende des Beitrags auf «German Foreign Policy». Die Fussnoten findet man im Original-Bericht.

Und was hat das nun mit der Leningrader Blockade zu tun?

Hunger ist Hunger. Und der Hungertod ist ein absolut schrecklicher Tod. Aber wenn es in den letzten hundert Jahren eine Hungersnot gegeben hat, die klar politisch gewollt war und die klar die Folge einer militärischen Entscheidung war, Hunderttausende Menschen mit der grausamen Methode des Hunger-Todes umzubringen, dann war es Leningrad 1941 bis 1944. Die jetzt vorgesehene Klassifizierung der allgemeinen russischen Hungersnot 1932/33 zum Genozid ist eine Geschichtsverfälschung sondergleichen. Sie kann nur ein Ziel haben: Russland zusätzlich schlecht zu reden.

PS: Und was ist es, übrigens, wenn die Ukraine 2014 den Nord-Krim-Kanal, der Wasser vom Dnepr auf die Krim bringt, mit einem Damm geschlossen hat? Das Ziel der Ukraine war die Trockenlegung der Landwirtschaft auf der Krim – und damit langfristig eine daraus entstehende Hungersnot auf der Krim. (cm)

PS vom 30. November 2022: Erwartungsgemäss wurde im deutschen Bundestag dem Antrag, den sogenannten Holodomor als Genozid anzuerkennen, zugestimmt, nicht ohne den zynischen Kommentar, Deutschland tue dies aus seiner speziellen historischen Verantwortung heraus. Der Abgeordnete der Partei B90/Grüne Robin Wagener erklärte zuerst, was Verhungern heisst, dann wurde er politisch und erklärte die Hungersnot in Russland von 1932/33 als politisch von Stalin gewollt. Von Leningrad kein Wort, wo die Hungersnot tatsächlich politisch und militärisch gewollt war, mit einer Million Verhungerten! Und schliesslich brauchte Robin Wagener sogar die Wendung Putins «Vernichtungskrieg». Das zeigt, dass er von der Geschichte des Zweiten Weltkrieges absolut keine Ahnung hat, wo die deutsche Wehrmacht im wörtlichsten Sinne einen Vernichtungskrieg führte und Millionen von Menschen einfach ermordete. Er soll sich mal den Film «Komm und sieh!» ansehen. Für einen solchen Politiker gibt es nur eines: abgrundtiefe Verachtung. Immerhin haben sich die Fraktionen «Die Linke» und «AfD» der Stimme enthalten. Das hilft einem als Ausländer wie mir, «die Deutschen» nicht generell zu verachten. (cm)