Robert Fico, in Brüssel ähnlich unbeliebt wie Viktor Orban aus Ungarn, von der eigenen Bevölkerung aber demokratisch zum Regierungschef gewählt. Zufall oder ein Zeichen der Zeit? (Bild Smer)

Die Slowakei zeigt: auch ein kleines Land kann etwas bewirken

(Red.) Einmal mehr kommt aus Kiev die Meldung, dass hohe Regierungsbeamte sich anhand der Munitionslieferungen aus dem Westen um Millionen-Dollar-Beträge privat bereichert haben – für Kenner der ukrainischen Korruptions-Kultur nicht wirklich eine Überraschung. Aber so ganz langsam beginnen die Menschen in mehreren EU-Ländern sich die Frage zu stellen, ob es wirklich im Interesse ihres Landes ist, Waffen und Geld in die Ukraine zu liefern, während im eigenen Land das Leben immer teurer wird und die Armut zunimmt. In der Slowakei ist aufgrund solchen Umdenkens im Herbst eine neue Regierung zustande gekommen. Unser Berichterstatter Stefano di Lorenzo war in Bratislava und hat sich umgehört. (cm)

Es ist ein kalter und regnerischer Abend Mitte Januar in Bratislava, und auf dem Platz des Slowakischen Nationalaufstandes, am Rande der historischen Innenstadt, protestieren 26.000 Menschen gegen die von Robert Fico geführte Regierung. Dies ist nicht die erste Demonstration dieser Art, die Proteste begannen bereits im Dezember. Die Demonstranten, meist junge Leute, beklagen sich über die Korruption der neuen sozialistischen Regierung. Einige sprechen auch über die Behandlung von LGBT-Menschen, andere beschuldigen die neue Regierung, Putin-freundlich zu sein… 

„Die Regierung will die Korruption legalisieren“, sagen im makellosen Englisch zwei Jungs, die wie zwei Berliner Hipster aussehen. „Die alte Regierung war sehr pro-europäisch, die neue Regierung ist pro-russisch“, sagt eine junge Frau mit einem Plakat, auf dem „Fico muss weg“ steht. 

Auf der Bühne sprechen einige Oppositionspolitiker, sogar eine berühmte slowakische Schauspielerin und Sängerin ist da. Sie sprechen aus vollem Herzen und voller Sentimentalität darüber, wie die neue Regierung, die erst im September letzten Jahres gewählt wurde, die zerbrechliche Demokratie im Lande bedrohe. Es sind die geschwollenen und apokalyptischen Töne eines Wahlkampfs, der noch nicht vorbei zu sein scheint, die Töne einer schwer verdaulichen Niederlage. Es klingt wie ein Film, den wir in den letzten Jahren schon oft gesehen haben. Eine „autoritäre“ Regierung gegen uns, das Volk auf der Straße. Auf dem Platz wehen blaue Fahnen mit goldenen Sternen, es gibt auch viele Regenbogenfahnen. Aber heute Abend wird die Volksrevolution nicht stattfinden. Nach ein paar Stunden, um die Abendessenszeit, unter einem lästigen Regen, der nicht aufhören will, verlassen die Menschen den Platz und gehen nach Hause. Die Revolution kann warten.

Robert Fico, Vorsitzender der sozialdemokratischen Partei «Smer — sociálna demokracia», auch einfach Smer („Richtung“) genannt, hat nach dem Wahlsieg im September 2023 eine neue Regierung gebildet. Im Wahlkampf war viel von der Ukraine die Rede. Fico hatte im Bruch mit der Vorgängerregierung und der Europäischen Union zu sagen gewagt, dass sich die Slowakei nicht mehr an Rüstungslieferungen an die Ukraine beteiligen werde. Eine unverzeihliche Entscheidung für das europäische Establishment, das beschlossen hatte, dass es nach der russischen Invasion in der Ukraine keinen Dialog und keine Diplomatie mehr geben könne – Russland verstehe nur die Sprache der Gewalt. In einem Land, das an die Ukraine grenzt, ist die Frage des Krieges natürlich sehr heikel. Und wie in anderen europäischen Ländern machte sich nach anderthalb Jahren Krieg und dem Scheitern der viel beschworenen und als unaufhaltsam dargestellten ukrainischen Gegenoffensive eine erhebliche Kriegsmüdigkeit bemerkbar.

Im vergangenen September erhielt Smer 23 % der Stimmen und bildete danach eine Koalition mit der anderen sozialdemokratischen Partei Hlas — «sociálna demokracia» („Stimme“), einer Fraktion, die sich 2020 von Smer abgespalten hatte, und der nationalistischen Partei SNS, «Slovenská národná strana». Für Robert Fico, den Vorsitzenden der Smer-Partei und derzeitigen Premierminister, war es eine Rückkehr, da er bereits zwischen 2006 und 2010 und dann zwischen 2012 und 2018 als Premierminister fungiert hatte. Nach dem Skandal, der durch die Ermordung des Investigativjournalisten Jan Kuciak und seiner Freundin ausgelöst wurde, bot Fico 2018 seinen Rücktritt an, um die Regierungskrise zu beruhigen, und übergab das Amt des Premierministers an seinen damaligen Parteikollegen Peter Pellegrini. 2020 gab es Wahlen, damals gewann die anti-systemische Partei OĽaNO, eine Abkürzung für «Obyčajní ľudia a nezávislé osobnosti», das so viel wie „Gewöhnliche Leute und unabhängige Personen“ heißt.

Der Krieg in der Ukraine ermöglichte es Fico, an die Macht zurückzukehren. Auf einem Kontinent, Europa, wo die Rhetorik des Krieges und die Dämonisierung Russlands die letzten anderthalb Jahre dominiert haben, entschied Fico, dass er diesen Kurs nicht fortsetzen wolle. Jetzt werfen ihm Kritiker vor, pro-russisch zu sein. Denn in einem Krieg sei Neutralität unmöglich: nicht antirussisch zu sein, bedeute, pro-russisch zu sein. Dennoch behauptet Europa theoretisch, es befinde sich nicht im Krieg mit Russland, als ob das Narrativ eines Kriegs zwischen Europa, dem Westen, und Russland alles nur russische Propaganda wäre. Oder ist Europa im Ukrainekrieg vielleicht doch eine Kriegspartei? 

In einem vor kurzem erschienenen Artikel reihte das amerikanische Magazin Politico Robert Fico in das „dreckige Dutzend“ der Davos-Gäste ein, „Möchtegern-Autokraten, Diktatoren, Schläger, Erpresser, Elendshändler, Verderber und politische Parias auf der Davos-Gästeliste“, und beschuldigte ihn, einen pro-russischen Wahlkampf geführt zu haben.

Auch einige jüngste Äußerungen Ficos haben heftige Kritik hervorgerufen, insbesondere aus der Ukraine und von Freunden der Ukraine. Fico verkündete im slowakischen Staatsfernsehen, er werde dem ukrainischen Ministerpräsidenten Schmyhal sagen, dass er gegen eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO sei: „Sie könnte die Ursache für den dritten Weltkrieg sein“. Berichten zufolge bezeichnete Fico die Ukraine auch als ein nicht souveränes Land, das vollständig von den USA kontrolliert werde. „Im Jahr 2014, nach dem Maidan, wurde die Ukraine vollständig von den Vereinigten Staaten kontrolliert“, so Fico.

„Warum hat der russische Präsident den Einsatz militärischer Gewalt in der Ukraine angeordnet? Stellen Sie sich vor, dass es in Mexico das Verteidigungsministerium und die gesamte politische Szene, einschließlich des Präsidenten und der Regierung, vollständig unter russischer Kontrolle stehen würden. Nun stellen Sie sich vor, Mexiko würde sich einer militärischen Organisation anschließen, in der Russland eine entscheidende Rolle spielt. Was würden Sie tun? Dieses Argument ist rational! Die Ukraine ist nicht souverän und steht vollständig unter amerikanischer Kontrolle.“

„Der slowakische Regierungschef stellt die Souveränität der Ukraine in Frage“, kommentierte daraufhin die renommierte deutsche Wochenzeitung DIE ZEIT. Als ob die Souveränität der Ukraine nicht in Frage gestellt worden wäre, als im Winter 2013/14 europäische und amerikanische Politiker, darunter sogar der verstorbene damalige deutsche Außenminister Guido Westerwelle, auf den zentralen Platz in Kiew kamen, um die Bevölkerung gegen die demokratisch gewählte Regierung des damaligen „pro-russischen“ Präsidenten Janukowitsch aufzuwiegeln. Als Russland und die Ukraine letztes Jahr kurz davor standen, eine Vereinbarung über die Neutralität der Ukraine zu treffen — ohne Gebietsverluste für die Ukraine! —, stachelten die USA und Großbritannien die Ukraine dazu an, alle Verhandlungen mit Russland abzulehnen, um die Lösung des russisch-ukrainischen Konflikts ausschließlich mit militärischen Mitteln zu verfolgen. Bedeutet das nicht auch, die ukrainische Souveränität in Frage zu stellen?

„Die Ukraine muss möglicherweise einen Teil ihres Territoriums an Russland abtreten. Es muss einen Kompromiss geben, der für beide Seiten sehr schmerzhaft sein wird“, sagte Fico weiter. „Was erwarten sie? Dass die Russen die Krim, den Donbass und Luhansk verlassen? Das ist unrealistisch.“

Unter anderen Umständen wäre das schwer zu glauben, aber in einer Atmosphäre, die durch den Krieg der letzten zwei Jahre aufgeheizt wurde, einem Krieg, in den der Westen so viel investiert hat, ist sogar der Begriff „Realismus“ zu einer Art Schimpfwort geworden, gleichbedeutend mit einer zynischen und defätistischen Haltung. Es wiederholt sich, 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, der „Münchener Komplex“, die unkontrollierbare Phobie, dass jeder Krieg ein neuer Akt des Zweiten Weltkriegs sein muss. Dass jede Verhandlung mit dem „Feind“ a priori unmöglich und zur Katastrophe verdammt ist. Der Feind kann nur ein neuer Hitler sein, das absolute Böse, und niemand will den neuen Chamberlain spielen, der die Tschechoslowakei an Hitler abtritt. Jeder ist von einer lähmende Angst gefasst, wie der dumme und feige Chamberlain dazustehen, und deshalb will jeder versuchen, Churchills Kampfhaltung zu imitieren. Aber die Geschichte wiederholt sich selten. In jedem Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg eine Reinkarnation davon und in jedem neuen Feind einen neuen Hitler zu sehen, ist eine unwürdige und hinterhältige Vulgarisierung.

Dem slowakischen Premierminister Fico wird dazu noch vorgeworfen, ein Mini-Orban zu sein, ein autoritärer Populist, der gegen die Regeln der EU und damit gegen die Grundsätze der Demokratie verstoße. Denn die wahre Demokratie, das ist die EU. Fico scheint, wie Orban, beim EU-Establishment wegen seines Ansatzes, der mit dem Konsens der europäischen Experten bricht, heute ausgesprochen unbeliebt zu sein. Denn was sollte die Slowakei als kleines Land anderes tun, als der von der Europäischen Union etablierten Konsenswelle zu folgen? Und so wird Fico wie Orban zum Antidemokraten schlechthin, weil er gegen die EU ist, und die EU wäre natürlich der einzig wahre Ausdruck wahrer Demokratie. Die EU würde sich gezwungen sehen, die Demokratie vor den gewählten nationalen Regierungen zu verteidigen. Diese Vorstellung mag zwar paradox erscheinen, ist aber im heutigen Europa zur vorherrschenden Auffassung geworden: Die nationalen Regierungen sind gefährlich und populistisch. Aus diesem Grund bräuchten Länder wie die Slowakei, Ungarn und andere die EU, um ihnen beizubringen, was Demokratie bedeutet, und um sie zu bestrafen, wenn sie undemokratisch – d. h. in einer Weise, die der EU nicht gefällt – handeln.

Trotz der sentimentalen Rhetorik eines geeinten Europas als Familie der brüderlichen Nationen schwelgt oft das europäische Establishment hinter den Kulissen im brutalsten Realismus: „Die Slowakei ist ein so kleines Land, dass sie kaum einen Unterschied machen wird“, so ein EU-Beamter, der von der amerikanischen Zeitschrift Politico zitiert wurde. „Die Slowakei hat fast keinen Einfluss. Sie braucht die Kohäsionsfonds und das Wohlwollen der EU, sie kann es sich nicht leisten, in Brüssel Unruhe zu stiften“. Kurzum, abgesehen von den feierlichen und rituellen Hymnen auf die Brüderlichkeit ist man sich selbst in Brüssel des ungleichen Gewichts der verschiedenen Nationen durchaus bewusst. Für einige ist die Slowakei daher dazu verdammt, dem Brüsseler Konsens zu folgen, weil sie zu klein ist, um unabhängig zu handeln. Und sie sollte sich mit ihrem Schicksal abfinden und sich darüber freuen.

Die Regierung Fico, unterstützt von Orban in Ungarn, scheint (vorerst) zu beweisen, dass ein anderer Weg möglich ist. Dies könnte und sollte auch größeren Ländern Mut machen, dass ein Bruch mit dem Brüsseler und NATO-Konsens kein Sakrileg ist, das bestraft werden muss. Fico steht nun wie Orban vor vielen Herausforderungen. Die EU und die NATO zu verärgern, kann für viele Länder fatal sein. Die Proteste in der slowakischen Hauptstadt werden wohl auch in den kommenden Wochen weitergehen. Immerhin erhielt Ficos Partei in der Hauptstadt Bratislava nur 18,5% der Stimmen, ihre „progressiven“ und pro-europäischen Rivalen 31%. So unangenehm und unvorstellbar es den Bewohnern der Hauptstädte und der EU-Hauptstadt Brüssel auch erscheinen mag, auch „Provinzler“ haben das Recht zu wählen und ihre Stimme zählt genauso viel wie die der kosmopolitischen Großstädter. Zumindest in der Theorie. Denn in der Praxis sind es oft die „progressiven“ städtischen Minderheiten, die den Rest des Landes mit der Zeit mit sich bewegen. In kleinen Ländern wie der Slowakei wollen diese progressiven Kräfte mit der Zeit gehen und die neuesten Trends in Berlin, London oder New York nachahmen. Und so lassen sich die „progressiven“ Stadtminderheiten von modischen Fragen wie LGBT-Rechten und Einwanderung mitreißen. Themen, die in einer ruhigen Stadt wie Bratislava wie Nebensächlichkeiten erscheinen könnten. Aber sie lenken von der wichtigsten Frage überhaupt ab: die des Krieges und des Friedens.

Siehe dazu auch: «Wahlen in der Slowakei: Viel Kritik, aber auch ein paar positive Kommentare, z.B. aus Tschechien». (Auf Globalbridge.ch)