Tausende von Russen pilgerten Am Wochenende zur Crocus City Hall und legen in Erinnerung an die über hundert Opfer des Terroranschlages Blumen nieder. (Bild ZDF)

Der Terroranschlag in Moskau dürfte auch außenpolitische Folgen haben

(Red.) Die vor knapp drei Wochen entlassene Stellvertretende US-Außenministerin Victoria Nuland, die bisher für die Ukraine-Politik der USA verantwortlich war, und der Chef des ukrainischen militärischen Geheimdienstes HUR Kyrylo Budanow haben beide vor kurzem „unangenehme Überraschungen“ für Russland angekündigt. Wussten sie von einem geplanten Terroranschlag? Die USA behaupten aber, für den Terroranschlag in Moskau sei allein der «Islamische Staat» verantwortlich. Die Ermittlungen sind äusserst wichtig, denn ihr Resultat könnte auch auf den Krieg in der Ukraine massive Auswirkungen haben. (cm)

Der abscheuliche Mega-Terroranschlag vor den Toren Moskaus in der Nacht zum vergangenen Freitag, bei dem bis jetzt mindestens 133 Menschen ums Leben gekommen sind, hat Russland wahrscheinlich mehr erschüttert als alles andere seit einem ähnlichen Anschlag auf ein Moskauer Theater im Jahr 2002. Der Anschlag, der sich eben ereignet hat, wird mit Sicherheit große Auswirkungen auf das Bewusstsein der russischen Bevölkerung und auf die öffentliche Sicherheit des Landes haben. Er kann auch zu ernsthaften Veränderungen in der Außenpolitik Moskaus führen. Dies wird von den Ergebnissen der Ermittlungen über den Ursprung des Anschlags und seine Drahtzieher abhängen. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Ermittlungen äußerst gründlich und professionell durchgeführt werden, denn bei ihren Ergebnissen und Schlussfolgerungen steht enorm viel auf dem Spiel.

Russische Beamte und Kommentatoren haben die Version der US-Regierung über die Verbindung zum «Islamischen Staat» mit Skepsis aufgenommen. Sie waren zunächst überrascht, wie schnell – praktisch innerhalb von Minuten – Washington mit dem Finger auf die vermeintlichen Täter gezeigt hat. Was den Beobachtern ebenfalls auffiel, war die Tatsache, dass die USA eine mit dem IS verbundene Nachrichtenseite, die die Verantwortung für das Verbrechen übernommen hatte, als zuverlässige Quelle bezeichneten. Normalerweise werden alle derartigen Quellen zuerst gründlich überprüft. Diesmal nicht. Die Ermittler merkten auch an, dass der amerikanische Sprecher sofort – ohne jede Aufforderung – sagte, dass die Ukraine nichts mit dem Terrorakt zu tun habe.

Andere Kritikpunkte an der amerikanischen Version betrafen den Stil des Anschlags (keine politischen Erklärungen oder Forderungen), das Eingeständnis eines der gefangenen Angreifer, dass er unschuldige Menschen gegen Bezahlung erschossen hatte, und die Tatsache, dass dies nicht als Selbstmordaktion geplant war. Viele Experten wiesen darauf hin, dass der IS seine besten Zeiten hinter sich hat und dass die russischen Streitkräfte seine Elemente in Syrien schon vor Jahren besiegt haben. Das erlaubte den russischen Experten, auch über einen Anschlag unter falscher Flagge nachzudenken.

Die Ukraine, die dabei unter den Ländern der Welt allein dasteht, bezeichnete das, was in der Nähe von Moskau geschah, als eine Operation des russischen Geheimdienstes, um bessere Voraussetzungen für eine weitere Verschärfung des russischen politischen Regimes zu schaffen und eine neue Mobilisierungswelle anzukündigen. Diese offensichtlich unsinnige Interpretation rief in vielen russischen Köpfen das Sprichwort „Lügner, Lügner, Hosenscheißer“ hervor.

Präsident Wladimir Putin hat in seiner Ansprache an die Nation am Samstag darauf verzichtet, eine eigene Version des Kremls zu verbreiten. Putins Worte und sein Auftreten waren ruhig, aber der Stil seiner fünfminütigen Ausführungen war streng. Er sagte, dass diejenigen, die hinter dem Anschlag stecken, „bestraft werden, wer auch immer sie sind und wo auch immer sie sein mögen“. Die Richtung, in der Putin denkt, wurde durch zwei Fakten – keine Vermutungen –deutlich, die er dabei ansprach: dass die Terroristen, nachdem sie vom Ort des Anschlags geflohen waren, nicht weit (etwa 100 km) von der ukrainischen Grenze entfernt festgenommen worden sind und dass man „Informationen“ erhalten habe, dass sie beabsichtigten, die Grenze zur Ukraine zu überqueren, wo „sie Kontakte hatten“.

Zum jetzigen Zeitpunkt steht noch nichts fest. Die Ergebnisse der laufenden russischen Ermittlungen werden von enormer Bedeutung sein. Sollte Moskau zu dem Schluss kommen, dass der Anschlag von Ukrainern – etwa dem militärischen Nachrichtendienst HUR – konzipiert, geplant und organisiert wurde, würde Putins öffentliche Warnung logischerweise bedeuten, dass die Verantwortlichen dieser Organisation nicht nur „legitime“, sondern vorrangige Ziele für Russland sein werden. Da ein so schwerwiegender Angriff mit ziemlicher Sicherheit auch die Zustimmung des ukrainischen Präsidenten bräuchte, wäre die „Garantie“, die Putin informell gegenüber ausländischen Staatsoberhäuptern (z.B. dem damaligen israelischen Premierminister Bennet) abgegeben hat, dass Russland Selenskyj nicht persönlich angreifen werde, aufgehoben. In diesem Fall würde Russland eine seiner wichtigsten, sich selbst auferlegten Beschränkungen, die ukrainische Führungsspitze nicht anzugreifen, aufheben.

Der Terroranschlag auf die Konzerthalle in der Nähe von Moskau passt offensichtlich in ein gewisses Muster. Er ereignete sich vor dem Hintergrund verstärkter ukrainischer Artillerie- und Drohnenangriffe auf die Zivilbevölkerung in den an die Ukraine grenzenden Regionen Russlands und der – allesamt vereitelten – Versuche, russische Dörfer direkt an der Grenze anzugreifen. Dabei wurden zahlreiche russische Zivilisten getötet oder verwundet und Tausende von Kindern mussten weiter ins Landesinnere evakuiert werden. Viele Analysten hier in Moskau sind zu dem Schluss gekommen, dass die Ukraine durch die Konzentration auf „weiche“ zivile Ziele versucht hat, die Moral der russischen Bevölkerung im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen Mitte März zu untergraben und die innere Stabilität Russlands nach den Wahlen in Frage zu stellen. In Bezug auf das Massaker in der Konzerthalle kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu: Die US-Version der Komplizenschaft mit dem IS und des Einsatzes tadschikischer Staatsbürger bei der Ausführung des Anschlags könnte darauf abzielen, die interethnischen Spannungen in Russland zwischen der slawischen Mehrheitsbevölkerung und der muslimischen Bevölkerung – sowohl Einheimischen als auch Zuwanderern – zu schüren.

All dies zusammengenommen stärkt die Argumentation derjenigen in Russland, die seit langem sagen, dass die Ukraine unter dem derzeitigen ultranationalistischen Regime in Kiew ein terroristischer Staat ist und dass Russland ein solches Regime direkt an seinen Grenzen einfach nicht dulden kann. Jegliches Gerede über einen Waffenstillstand, Verhandlungen und dergleichen sollte aufhören. Russland muss einen vollständigen Sieg erringen – andernfalls wird es ständig durch die Hände der Terroristen an der Macht, die von Russlands Gegnern im Westen unterstützt und geschützt werden, geplagt werden. Wenn die Ergebnisse der Ermittlungen bestätigen, dass die Ukraine im großen Stil hinter dem jüngsten Terrorakt steckt, müssen die Kriegsziele Russlands erheblich ausgeweitet werden und der Krieg wird an Intensität deutlich zunehmen.

Der Krieg in der Ukraine ist ein Krieg gegen den Westen


Der Krieg in der Ukraine wird hier in Moskau jedoch nicht als ein Krieg gegen die Ukraine betrachtet. Vielmehr wird er als ein Krieg gegen den US-geführten Westen betrachtet, der die Ukraine als Rammbock benutzt, um Russland eine „strategische Niederlage“ zuzufügen. Es ist interessant, dass Dmitri Peskow, der offizielle Sprecher des russischen Präsidenten, erst letzte Woche zum ersten Mal öffentlich eingestanden hat, dass die „spezielle Militäroperation“ in der Ukraine tatsächlich ein Krieg ist. Er sagte, dieser sei durch die Beteiligung des Westens an dem Konflikt zustande gekommen. Wenn also die Komplizenschaft der Ukraine bei dem Anschlag tatsächlich nachgewiesen wird, deutet dies zumindest auf das Wissen und die faktische Billigung des Terrorakts durch die USA hin. In diesem Zusammenhang haben bereits einige Leute an die jüngsten Warnungen des HUR-Chefs General Kyrylo Budanow und der scheidenden Stellvertretenden US-Außenministerin Victoria Nuland erinnert, Russland stünden in naher Zukunft „unangenehme Überraschungen“ bevor.

Die Warnungen Russlands, Flugplätze in NATO-Ländern anzugreifen, wenn diese von der ukrainischen Luftwaffe genutzt werden, und französische oder auch andere NATO-Truppenkontingente auszulöschen, wenn solche in die Ukraine entsandt werden, gewinnen damit an Glaubwürdigkeit. Die Eskalation des Krieges, die bisher vor allem durch westliche Aktionen vorangetrieben wurde, die den militärischen Einsatz zugunsten der Ukraine jedes Mal um eine Stufe erhöhten, während Russland bekannterweise „Zurückhaltung“ übte, wird zu einer Einbahnstraße, die zu einem Frontalzusammenstoß führen könnte. Es sei denn, die USA beschließen irgendwann, dass es jetzt genug ist, dass es für sie selbst zu gefährlich wird und dass der Kampf in der Ukraine – im Gegensatz zu Russland – für Amerika selbst und auch für seine dominante Position in Europa nicht wirklich existenziell ist.


Zum Autor: Dmitri Trenin ist akademischer Leiter des Instituts für Militärische Weltwirtschaft und Strategie an der Higher School of Economics (HSE Universität) in Moskau. Er ist außerdem ein führender Forschungsstipendiat am Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen (IMEMO).

Dieser Kommentar von Dmitri Trenin ist bis zur Stunde auf keiner anderen Plattform publiziert worden. Die Zwischenüberschrift wurde von der Redaktion Globalbridge.ch eingesetzt. (cm)

Man beachte zum gleichen Thema auch den Bericht von Stefano Di Lorenzo, ebenfalls aus Moskau.