Ein US-Diplomat, der Russland verstand: George F. Kennan. Im Jahr 1997 schrieb er in der «New York Times»: «Die Meinung ist, offen herausgesagt, dass eine NATO-Erweiterung der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der ganzen Zeit seit dem Kalten Krieg wäre.» © GOV

«Der Krieg in der Ukraine wurde provoziert»

(Red.) Die Plattform Globalbridge.ch hat schon in mehreren Beiträgen darauf aufmerksam gemacht, dass etliche prominente Politologen und Politiker vor einer Osterweiterung der NATO gewarnt hatten und dass auch andere NATO-Aktivitäten, etwa die gigantischen NATO-Manöver an der russischen Grenze und auch die Pläne für eine Reform der NATO klar zeigen, dass es das Ziel der NATO war, auch die Ukraine in die NATO aufzunehmen und damit Russland bewusst zu provozieren. Am Ende des hier folgenden Beitrags findet man die Links zu den wichtigsten Artikeln von Christian Müller zu diesem Thema. Nun hat auch der prominente US-Politologe Jeffrey D. Sachs einen Artikel publiziert, in dem er zum unmissverständlichen Schluss kommt: «Der Krieg in der Ukraine wurde provoziert.» (cm)

George Orwell schrieb in seinem 1949 erschienen Buch mit dem Titel «1984»: „Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft; wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit.“

Regierungen arbeiten unerbittlich daran, die öffentliche Wahrnehmung der Vergangenheit zu verzerren. Was den Ukraine-Krieg betrifft, so hat die Regierung Biden wiederholt und fälschlicherweise behauptet, der Ukraine-Krieg habe mit einem unprovozierten Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 begonnen. Tatsächlich wurde der Krieg von den USA auf eine Art und Weise provoziert, die führende US-Diplomaten schon seit Jahrzehnten im Vorfeld des Krieges vorausgesehen hatten, was bedeutet, dass der Krieg hätte vermieden werden können und nun durch Verhandlungen beendet werden sollte. 

Die Erkenntnis, dass der Krieg provoziert wurde, hilft uns zu verstehen, wie wir ihn beenden können. Es rechtfertigt aber nicht die russische Invasion. Ein weitaus besserer Ansatz für Russland wäre es gewesen, die Diplomatie mit Europa und der nicht-westlichen Welt zu verstärken, um den Militarismus und Unilateralismus der USA zu erklären und abzulehnen. Der unerbittliche Druck der USA, die NATO zu erweitern, stößt in der ganzen Welt auf breite Ablehnung, so dass russische Diplomatie anstelle eines Krieges wahrscheinlich wirkungsvoller gewesen wäre.

Die zwei Hauptprovokationen

Das Team von Biden verwendet unablässig das Wort „unprovoziert“, zuletzt in Bidens großer Rede zum ersten Jahrestag des Krieges, in einer kürzlichen Erklärung der NATO und in der jüngsten Erklärung der G7.

Die Mainstream-Medien, die Biden freundlich gesinnt sind, plappern das Weiße Haus einfach nach. Die «New York Times» ist dabei der Hauptschuldige und hat die Invasion nicht weniger als 26 Mal als „unprovoziert“ bezeichnet, in 5 Leitartikeln, in 14 Meinungskolumnen von NYT-Autoren und in 7 Gastbeiträgen. 

In der Tat gab es zwei Hauptprovokationen der USA. Die erste war die Absicht der USA, die NATO auf die Ukraine und Georgien auszuweiten, um Russland in der Schwarzmeerregion von NATO-Ländern (Ukraine, Rumänien, Bulgarien, Türkei und Georgien, gegen den Uhrzeigersinn) einzukreisen. Die zweite war die Rolle der USA bei der Installation eines russophoben Regimes in der Ukraine durch den gewaltsamen Sturz des prorussischen Präsidenten der Ukraine, Viktor Janukowitsch, im Februar 2014. Der Schießkrieg in der Ukraine begann mit dem Sturz Janukowitschs vor neun Jahren, nicht im Februar 2022, wie uns die US-Regierung, die NATO und die G7-Führer glauben machen wollen. 

Biden und sein außenpolitisches Team weigern sich, diese Wurzeln des Krieges zu diskutieren. Sie anzuerkennen, würde die Regierung in dreifacher Hinsicht unterminieren:

Erstens würde er aufzeigen, wie der Krieg hätte vermieden oder frühzeitig beendet werden können, so dass der Ukraine die gegenwärtigen Verwüstungen und den USA die bisher mehr als 100 Milliarden Dollar an Ausgaben erspart geblieben wären.

Zweitens würde es Bidens persönliche Rolle in diesem Krieg aufdecken, da er am Sturz Janukowitschs beteiligt war und schon vorher ein überzeugter Unterstützer des militärisch-industriellen Komplexes und ein sehr früher Befürworter der NATO-Osterweiterung war.

Drittens würde es Biden an den Verhandlungstisch drängen und damit das anhaltende Drängen seiner Regierung auf eine NATO-Erweiterung unterminieren.

Man schaue in die Archive!

Aus den Archiven geht unwiderlegbar hervor, dass die amerikanische und die deutsche Regierung dem sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow wiederholt versprochen haben, dass die NATO sich „keinen Zentimeter nach Osten“ bewegen werde, wenn die Sowjetunion das Militärbündnis des Warschauer Paktes auflöse. Nichtsdestotrotz begannen die Planungen der USA für die NATO-Erweiterung bereits in den frühen 1990er Jahren, lange bevor Wladimir Putin russischer Präsident war. Im Jahr 1997 legte der nationale Sicherheitsexperte Zbigniew Brzezinski den Zeitplan für die NATO-Erweiterung mit bemerkenswerter Präzision fest. 

US-Diplomaten und die ukrainische Führung wussten sehr wohl, dass die NATO-Erweiterung zu einem Krieg führen könnte. Der amerikanische Staatswissenschaftler George Kennan nannte die NATO-Erweiterung einen „verhängnisvollen Fehler“ und schrieb in der «New York Times»:

„Es ist zu erwarten, dass eine solche Entscheidung die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der russischen Öffentlichkeit anheizen, sich negativ auf die Entwicklung der russischen Demokratie auswirken, die Atmosphäre des Kalten Krieges in den Ost-West-Beziehungen wiederherstellen und die russische Außenpolitik in eine Richtung lenken wird, die uns ganz und gar nicht gefällt.“

Der Verteidigungsminister von Präsident Bill Clinton, William Perry, erwog aus Protest gegen die NATO-Erweiterung seinen Rücktritt. Als er sich an diesen entscheidenden Moment Mitte der 1990er Jahre erinnerte, sagte Perry im Jahr 2016 Folgendes:

„Unsere erste Aktion, die uns wirklich in eine schlechte Richtung brachte, war die Erweiterung der NATO um osteuropäische Staaten, von denen einige an Russland grenzten. Zu dieser Zeit arbeiteten wir eng mit Russland zusammen und es begann sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass die NATO eher ein Freund als ein Feind sein könnte … aber es war ihnen sehr unangenehm, die NATO direkt an ihrer Grenze zu haben und sie baten uns eindringlich, damit nicht weiterzumachen.“

1998 schickte William Burns, damals US-Botschafter in Russland und heute Direktor der CIA, ein Telegramm nach Washington, in dem er ausführlich vor den ernsten Risiken der NATO-Erweiterung warnte:

„Die NATO-Aspirationen der Ukraine und Georgiens treffen nicht nur einen wunden Punkt in Russland, sondern geben auch Anlass zu ernster Sorge über die Folgen für die Stabilität in der Region. Russland sieht sich nicht nur eingekreist und damit bedroht, Russlands Einfluss in der Region werde untergraben, sondern es fürchtet auch unvorhersehbare und unkontrollierte Folgen, die russische Sicherheitsinteressen ernsthaft beeinträchtigen würden. Experten sagen uns, Russland sei besonders besorgt darüber, dass die starken Meinungsverschiedenheiten in der Ukraine über die NATO-Mitgliedschaft, bei denen ein Großteil der ethnisch-russischen Gemeinschaft gegen die NATO-Mitgliedschaft ist, zu einer größeren Spaltung führen könnten, die dann Gewalt oder schlimmstenfalls sogar einen Bürgerkrieg zur Folge hätte. In diesem Fall müsste Russland entscheiden, ob es eingreift – eine Entscheidung, die es lieber nicht treffen möchte.“ 

Die ukrainische Führung wusste genau, dass ein Drängen auf eine NATO-Erweiterung um die Ukraine Krieg bedeuten würde. Der ehemalige Selenskyj-Berater Oleksiy Arestovych erklärte in einem Interview 2019, „dass unser Preis für den Beitritt zur NATO ein großer Krieg mit Russland ist.“

Zwischen 2010 und 2013 setzte Janukowitsch im Einklang mit der öffentlichen Meinung in der Ukraine auf Neutralität. Die USA arbeiteten jedoch verdeckt daran, Janukowitsch zu stürzen, wie das Tonband zeigt, auf dem die damalige Stellvertretende US-Außenministerin Victoria Nuland und der US-Botschafter Geoffrey Pyatt Wochen vor dem gewaltsamen Sturz Janukowitschs bereits die Nachfolgeregierung planen.

Nuland macht in dem Telefonat deutlich, dass sie sich eng mit dem damaligen Vizepräsidenten Biden und seinem nationalen Sicherheitsberater Jake Sullivan abstimmte, also demselben Team aus Biden, Nuland und Sullivan, das jetzt im Mittelpunkt der US-Politik gegenüber der Ukraine steht. 

Nach dem Sturz von Janukowitsch brach der Krieg im Donbass aus, während Russland die Krim beanspruchte. Die neue ukrainische Regierung beantragte die Mitgliedschaft in der NATO und die USA bewaffneten die ukrainische Armee und halfen ihr bei der Umstrukturierung, um sie mit der NATO interoperabel zu machen. Im Jahr 2021 sprachen sich die NATO und die Regierung Biden nachdrücklich für eine Zukunft der Ukraine in der NATO aus.

Im unmittelbaren Vorfeld der russischen Invasion stand die NATO-Erweiterung im Mittelpunkt. Putins Entwurf des NATO-Russland-Vertrags (17. Dezember 2021) forderte einen Stopp der NATO-Erweiterung.

In der Sitzung des russischen Nationalen Sicherheitsrates am 21. Februar 2022 nannte die russische Führung die NATO-Erweiterung als Kriegsursache. In seiner Ansprache an die Nation an diesem Tag erklärte Putin die NATO-Erweiterung zu einem zentralen Grund für die Invasion. 

Der Historiker Geoffrey Roberts schrieb kürzlich:

„Hätte der Krieg durch ein russisch-westliches Abkommen verhindert werden können, das die NATO-Erweiterung gestoppt und die Ukraine im Gegenzug für solide Garantien der ukrainischen Unabhängigkeit und Souveränität neutralisiert hätte? Das wäre durchaus möglich gewesen.“

Im März 2022 meldeten Russland und die Ukraine Fortschritte auf dem Weg zu einer schnellen Beendigung des Krieges auf der Grundlage der Neutralität der Ukraine durch Verhandlungen. Laut Naftali Bennett, dem ehemaligen Premierminister Israels, der als Vermittler fungierte, stand ein Abkommen kurz vor dem Abschluss, bevor die USA, Großbritannien und Frankreich es blockierten.

Während die Biden-Administration die russische Invasion als unprovoziert bezeichnet, suchte Russland 2021 nach diplomatischen Optionen, um einen Krieg zu vermeiden, während Biden die Diplomatie ablehnte und darauf bestand, dass Russland in der Frage der NATO-Erweiterung keinerlei Mitspracherecht habe. Und Russland drängte auch im März 2022 auf Diplomatie, während das Team von Biden erneut eine diplomatische Beendigung des Krieges blockierte. 

Wenn wir erkennen, dass die Frage der NATO-Erweiterung im Mittelpunkt dieses Krieges steht, verstehen wir, warum die Waffen der USA diesen Krieg nicht beenden werden. Russland wird bei Bedarf eskalieren, um die NATO-Erweiterung um die Ukraine zu verhindern. Der Schlüssel zum Frieden in der Ukraine liegt in Verhandlungen auf der Grundlage der Neutralität der Ukraine und der Nichterweiterung der NATO.

Das Beharren der Biden-Regierung auf der NATO-Erweiterung um die Ukraine hat die Ukraine zum Opfer falsch verstandener und unerreichbarer militärischer Ziele der USA gemacht. Es ist an der Zeit, dass die Provokationen aufhören und dass Verhandlungen den Frieden in der Ukraine wiederherstellen.


Zum Originalartikel von Jeffrey D. Sachs auf «Commondreams.org». Übersetzt mit Deepl.com, kontrolliert, korrigiert und präzisiert von Christian Müller.

Siehe dazu auch die folgenden Artikel von Christian Müller:

«1997 – 2007 – 2017: 20 Jahre Fehlpolitik der USA»

«Die Mitverantwortung der USA und der NATO: Vor der NATO-Osterweiterung wurde mehrfach gewarnt»

«NATO: vom Verteidigungsbündnis zum Angriffspakt»

«NATO: sie provoziert und provoziert und provoziert»

«Europas falsche Politik gegenüber Russland»