Die Anzahl der zum "Friedensgipfel" Angereisten darf für die Schweizer Bundespräsidentin Viola Amherd (rechts) und Außenminister Ignazio Cassis als Achtungserfolg gewertet werden. Bei näherer Analyse wird allerdings sichtbar, dass es fast ausschließlich die Staatschefs und Vertreter jener Staaten sind, die eh nach der Geige der USA tanzen. Die Gefahr ist deshalb groß, dass der Anlass zur reinen Ukraine-Propaganda-Veranstaltung verkommt. (Bild Admin)

Der „Friedensgipfel“, der keiner ist

Als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj anlässlich seines Besuchs des WEF in Davos Mitte Januar 2024 im Gespräch mit der Schweizer Bundespräsidentin Viola Amherd die Idee lancierte, in der Schweiz einen Friedensgipfel zu veranstalten, ging es ihm klar um seinen eigenen 10-Punkte-Friedensplan, der die Forderung einer bedingungslosen Kapitulation Russlands enthielt. Viola Amherd und der Schweizer Außenminister Ignazio Cassis waren begeistert, erkannten aber bald, dass die Thematik ausgeweitet werden musste, um mehr Staaten zur Teilnahme zu veranlassen. Was kann nun als Resultat der Prestige-Veranstaltung erwartet werden?

Die offizielle Schweiz fand schnell einen geeigneten Treffpunkt für die Polit-Eliten der Welt: den Bürgenstock, die Luxushotel-Residenz hoch über dem Zentralschweizer Vierwaldstättersee, der damit allerdings auch gleich vom Bürgenstock zum Würgenstock wurde: Schon bald nämlich begann das Würgen um ein Programm, das die ursprüngliche Idee wenigstens noch halbherzig enthalten sollte, aber auch die am Krieg in der Ukraine nicht wirklich interessierten Staaten des globalen Südens anziehen würde. Aufs Programm kamen nun die nukleare Sicherheit, die Ernährungssicherheit und der Austausch von Kriegsgefangenen zwischen der Ukraine und Russland. Damit bestätigte die Schweizer Regierung aber auch gleich ihre Doppelmoral, denn im gleichen Moment, in dem auch der Hunger in der Welt zum Thema erklärt wurde, beschloss Bern eine dramatische Kürzung des nationalen Budgets für die Entwicklungshilfe – zugunsten einer stärkeren finanziellen Unterstützung der Ukraine.

Russland erlaubte sich – zu Recht! – darauf aufmerksam zu machen, dass die Schweiz sich mit der pauschalen Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland von ihrer früheren für Vermittlungsgespräche prädestinierten Neutralität klar verabschiedet hat, und ging zur Idee dieses Gipfels auf Distanz – und wurde schließlich auch gar nicht eingeladen. Ein „Friedensgipfel“, an dem nur eine Seite beteiligt ist?

Kritik auch von unerwarteter Seite

Die Idee einer solchen sogenannten „Friedenskonferenz“ wurde aber nicht nur von Russland kritisiert, Kritik kam auch von ganz anderer Seite. Gerade gestern noch, am 15. Juni, erklärte NZZ-Ausland-Redakteur Andreas Rüesch, wie „diese kuriose Grossveranstaltung“ „aus dem Hut gezaubert“ wurde. Und er schilderte das Würgen der Schweiz, um einem geplanten „Friedensgipfel“, ohne beide Kriegsbeteiligte am Tisch zu haben, einen Sinn zu geben. Sein Kommentar lief schließlich auf einen überraschenden – um nicht zu sagen „schockierenden“ – Schluss hinaus: An einem Friedensgipfel könnte ja ein Kompromiss zustandekommen, und das wäre alles andere als erwünscht. Es darf nie und nimmer einen Kompromiss geben, denn das wäre ja dann ein Erfolg für den Aggressor Russland! Andreas Rüeschs drei letzte Sätze wörtlich: «Dass Moskau nicht vertreten ist auf dem Bürgenstock, ist daher kein Mangel, sondern ein Vorteil. Es gilt eine Situation zu vermeiden, in der die Ukraine plötzlich zu Konzessionen gegenüber dem Angreifer gedrängt wird und Moskau einen Propagandaerfolg erzielt. Wird die Ukraine dagegen gestärkt, so ist dies auch im besten Interesse der Schweiz.»

Also, laut Andreas Rüesch von der NZZ, der Krieg muss weitergeführt werden, Zehntausende von Toten, auf beiden Seiten, hin oder her. Es darf keinen Kompromiss geben!

Hat die NZZ vergessen, dass es gemäß Artikel 1 Ziffer 2 der UNO-Charta ein Selbstbestimmungsrecht der Völker gibt? Dass es im Jahr 2014 in Kiev zu einem – von den USA massiv unterstützten – Putsch kam und eine klar antirussische Regierung an die Macht kam, eine Regierung, die nicht mehr legitimiert war, alle Regionen der Ukraine zu vertreten? Hat die NZZ vergessen, dass die Bevölkerung der Krim sich in einem Referendum großmehrheitlich für einen Anschluss an Russland ausgesprochen hat? Dass die Bevölkerung des Donbass sich ebenfalls – völkerrechtskonform – von der Ukraine lossagen wollte, weil sie sich von Kiev nicht mehr vertreten fühlte? Dass die ukrainische Armee die gemäß ihrer eigenen Vorstellung immer noch ukrainische Bevölkerung im Donbass acht Jahre lang beschoss und bombardierte – mit Tausenden von Toten?

Ich selber war mehrmals in der Ukraine, auch im Jahr 2014, und ich habe mit eigenen Ohren eine ukrainische Geschäftsfrau sagen hören, die russlandfreundlichen Leute im Südosten der Ukraine seien eh nur Untermenschen. Warum beharrt Kiev darauf, den Südosten – das dortige Territorium – zu behalten, wenn die dortigen unbeliebten, russlandfreundlichen Leute lieber zu Russland gehören möchten?

Es gäbe positive Ereignisse, um daraus zu lernen

1955 konnte die Bevölkerung des Saarlandes im Einverständnis von Deutschland und von Frankreich darüber abstimmen, ob sie zu Frankreich oder zu Deutschland gehören wollten. Sie entschied sich, zur Überraschung und Enttäuschung Frankreichs, für Deutschland. Dieses Vorgehen wäre ein gutes Beispiel gewesen, um zahlreiche Konflikte auf dieser Welt friedlich zu lösen. Aber auch die UNO hat es versäumt, dieses Vorgehen zu propagieren und zu fördern, weil die Abgeordneten in der UNO-Generalversammlung von den Regierungen, nicht von den Parlamenten, bestimmt werden – und die Regierungen sind nicht interessiert am Wohl ihrer Bevölkerung, sondern an Macht und deshalb aus Prinzip gegen die Selbstbestimmung der Völker.

Die Anzahl der Angereisten zu dieser laut NZZ „kuriosen Grossveranstaltung“ auf den Bürgenstock ist trotz allem beachtlich. Zieht man davon allerdings die 26 Staats- und Regierungschefs der EU ab – nur Ungarns Regierungschef Viktor Orban kommt nicht persönlich –, dann sind es schon nicht mehr so viele. Und unter den Angereisten sind wie immer auch einige Chefs von Miniaturstaaten – darunter Andorra, San Marino, Liechtenstein und Monaco, die in der UNO zwar je eine vollwertige Stimme haben, aber alle vier zusammen weniger als 200’000 Einwohner haben.

Wolodymyr Selenskyj hat in seiner Rede im Anschluss an die offizielle Eröffnungsrede von Bundespräsidentin Viola Amherd seiner Überzeugung Ausdruck gegeben, dieser „Gipfel“ werde Geschichte schreiben. „Der Berg hat eine Maus geboren“ ist die wahrscheinlichere Variante.