Abschuss einer SM-3-Rakete von einem US-amerikanischen Aegis-Schiff. Warum solche Systeme ausgerechnet im Schwarzen Meer? (Foto U.S.Navy)

Darum waren die USA an einem Einmarsch Russlands in die Ukraine interessiert

Red. Am 7. Februar, also nur 15 Tage vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, veröffentliche der US-amerikanische Politologe Jack Rasmus, Professor an der Santa Clara University und am Saint Mary’s College in Kalifornien, eine Analyse, warum die USA nachgerade daran interessiert seien, dass Russland in die Ukraine einmarschiere. Diese Analyse heute, drei Monate nach dem Einmarsch, zu lesen hilft verstehen, warum US-Präsident Joe Biden bis heute nicht nur nichts unternommen hat, den militärischen Konflikt mit diplomatischen Mitteln zu stoppen, sondern im Gegenteil mit massiven Waffenlieferungen weiterhin Öl ins Feuer gießt. Die USA unter Joe Biden sind an diesem Krieg interessiert, weil sie davon zu profitieren hoffen. (cm)

In den letzten Wochen sind sowohl die USA als auch die NATO auf eine Konfrontation mit Russland zugesteuert – dies vor allem in der Frage, ob die Ukraine in die NATO aufgenommen werden soll. Es gibt zwar zurzeit verschiedene sekundäre Themen auf dem Verhandlungstisch – u.a. die Stationierung von US-Truppen in Polen, dem Baltikum und Rumänien und russische Erdgaslieferungen nach Deutschland –, aber man darf sich nicht täuschen: In dem sich entwickelnden Konflikt geht es im Wesentlichen um die NATO-Mitgliedschaft. Die New York Times, eines der wichtigsten Medienorgane des US-Imperialismus, titelte kürzlich „U.S. Won’t Bow to Russia Over Who Can Join NATO“. („In der Frage, wer der NATO beitreten darf, werden sich die USA Russland gegenüber nicht beugen.“ 3. Februar 2022).

Zum historischen Hintergrund des heutigen Konflikts 

Der anstehende Konflikt um die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine hat sich in letzter Zeit verschärft. Die Auseinandersetzung begann aber bereits mit der sogenannten Orangenen Revolution im Januar 2005 in der Ukraine, als aufstrebende, politisch rechts stehende Kräfte auf einer Welle des Protestes gegen die vorangegangenen nationalen Wahlen im November 2004 ritten.

Im November 2004 erhielt der pro-russische Kandidat Wiktor Janukowitsch 39 Prozent der Stimmen, aber der antirussische Kandidat Wiktor Juschtschenko, der von wachsenden faschistischen Kräften unterstützt wurde, gewann ebenfalls 39 Prozent. Janukowitschs Unterstützung basierte stark auf der Ost- und Südukraine, Juschtschenkos auf der Westukraine. Noch während die Wahl lief und noch nicht abgeschlossen war, rief Juschtschenko zu Massendemonstrationen auf der Straße auf und erklärte sich sofort zum Präsidenten, als die Demonstranten drohten, das ukrainische Parlament zu stürmen. Und nur einen Tag nach der Wahl legte Juschtschenko vor seinen versammelten Anhängern in Kiew einseitig den „Präsidenten-Eid“ im Parlament ab, in dem allerdings nur seine Anhänger anwesend waren und das daher nicht beschlussfähig war, um das Wahlergebnis vom November zu legitimieren.  Anschließend rief er sofort zu weiteren Massenstreiks, Protesten und Sitzstreiks auf, um die Anerkennung seines erklärten Sieges und seines fragwürdigen „Eides“ zu erzwingen.

Juschtschenkos Erklärung wurde von der Zentralen Wahlkommission unterstützt, die, wie sich später herausstellte, wichtige regionale Stimmen von der Auszählung zurückhielt und eine separate Computerauszählung der Stimmen vornahm. Um eine Verschärfung des politischen Konflikts auf der Straße zu vermeiden, griff der Oberste Gerichtshof der Ukraine Anfang Dezember ein und erklärte die Wahl vom November, bei der Janukowitsch mit einem knappen Vorsprung von weniger als einem Prozent der Stimmen gewonnen hatte, für ungültig und setzte eine Stichwahl für Ende Dezember 2004 an. Dieselbe Zentrale Wahlkommission ermittelte dann 52 Prozent der Stimmen für Juschtschenko und 44 Prozent für Janukowitsch, da sich mehrere kleinere Parteien entweder der Stimme enthielten oder Juschtschenko unterstützten.

Bei der nächsten Wahl im Jahr 2010 gewann Janukowitsch erneut, und zwar in einer Wahl, die von internationalen Beobachtern als „fair“ bezeichnet wurde.  Die aufstrebenden rechten Kräfte akzeptierten die Ergebnisse von 2010 jedoch nicht. 2014 kam es zu einem weiteren Aufstand, der sich auf die Hauptstadt Kiew konzentrierte und dieses Mal weitaus gewalttätiger war als im Januar 2005. Diesmal, im Februar 2014, ermordeten faschistische Kräfte mehr als 100 Menschen auf den Straßen. (Der Putsch gelang, Janukowitsch wurde vertrieben, Red.)

Der Aufstand von 2014 wurde eindeutig von US-imperialistischen Interessen organisiert und finanziert. Es war die US-Unterstaatssekretärin für Osteuropa, Victoria Nuland, die die Kräfte hinter dem Aufstand manipulierte. In einer öffentlichen Rede in der Ukraine nach dem Aufstand von 2014 prahlte Nuland – ohne zu ahnen, dass die Presse sie zitieren würde –, dass die USA 5 Milliarden Dollar für die Finanzierung verschiedener politischer Basisbewegungen hinter dem Aufstand ausgegeben hatten, worauf der fair gewählte pro-russische Prsident Janukowitsch gestürzt wurde.

Der Kern dieser Bewegungen waren größtenteils selbsterklärte faschistische Organisationen, die seit 2005 gewachsen waren und sich mobilisiert hatten. Mit klassischer faschistischer Gewalt, darunter Attentate und Schießereien auf Polizisten und Regierungsbeamte in Kiew (sowie mehrere Morde in der zweitwichtigsten Stadt der Ukraine, Odessa), übernahmen die von den USA unterstützten faschistischen Kräfte im Februar 2014 zusammen mit ihren politischen Vertretern die Kontrolle über die Regierung der Ukraine.

Im Zuge des Aufstands und der Machtübernahme wurde Victoria Nuland von der neuen rechtsgerichteten ukrainischen Regierung zur „Wirtschaftszarin“ ernannt.  Nuland war zuvor Inhaberin eines bekannten US-Finanzunternehmens in Chicago gewesen, bevor sie zur Unterstaatssekretärin für die Region ernannt wurde. Nach ihrer Ernennung zur „Wirtschaftszarin“ begannen US-Investoren in die Ukraine zu strömen – darunter auch Verwandte bekannter US-Politiker wie etwa des damaligen Vizepräsidenten Joe Biden – und nahmen Positionen in den Aufsichtsräten verschiedener ukrainischer Unternehmen ein. Der US-Wirtschaftsimperialismus drang nun tief in die wirtschaftliche Infrastruktur der Ukraine ein.

Auf den Aufstand von 2014 und die Absetzung des fair gewählten Wiktor Janukowitsch reagierte Russland mit der Unterstützung der stark pro-russischen Ostprovinzen. Als 2014 klar wurde, dass Mitglieder einer offen faschistischen Organisation Schlüsselpositionen im Parlament und in der Regierung übernommen hatten, entsandte Russland militärische Kräfte, um die strategisch wichtige Halbinsel Krim, auf der die russischen Seestreitkräfte im Schwarzen Meer stationiert waren, zurückzuholen. (Dabei fiel allerdings kein Schuss, da die grosse Mehrheit der Krim-Bevölkerung die Wiedervereinigung der Krim mit Russland ausdrücklich wollte und dies in einem Referendum auch zum Ausdruck brachte. Siehe dazu die sieben Berichte über die Krim von Christian Müller. Red.) Die Krim war schon immer Teil Russlands, wurde aber in den 1950er Jahren von der UdSSR im Rahmen einer staatlichen Umstrukturierung der Provinzen an die Ukraine „übergeben“.  Im Jahr 2016 brach in den ostukrainischen Provinzen Donezk und Lugansk ein weiterer Konflikt aus, als ukrainische faschistisch geführte Streitkräfte versuchten, die (sich als unabhängig erklärten) Provinzen zurückzuerobern, aber an der russischen Militärhilfe für die Region scheiterten.  Die USA und die NATO verhängten daraufhin Sanktionen gegen Russland.

Es ist wichtig zu erwähnen, dass die US-Kriegsfalken während dieser Ereignisse in der Ukraine von 2004 bis 2016 auf eine Ausweitung der NATO nach Osteuropa drängten und diese auch durchsetzten – im Gegensatz zu den Zusicherungen, die die Clinton-Regierung Russland in den 1990er Jahren gegeben hatte. Im selben Jahr, 2004, als der erste Aufstand der Rechten in der Ukraine stattfand, erweiterten die USA die NATO auf sieben weitere osteuropäische Länder, darunter die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen.  Die NATO-Truppen befanden sich nun weniger als 400 Meilen von Moskau entfernt.

2008 signalisierten und ermutigten politische Fraktionen der US-Regierung unter der Führung von US-Senator John McCain den damaligen georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili, in Südossetien an der Nordgrenze des Landes einzumarschieren. Georgien hatte die USA mindestens seit 2003 umworben und eine NATO-Mitgliedschaft gefordert, indem es bedeutende Truppen zur Unterstützung der US-Invasion in den Irak entsandte. Am 7. August 2008 nun drangen georgische Streitkräfte in die Provinz Südossetien ein. Russland schlug sie zurück und marschierte eine Woche später nun selbst in Georgien ein. Später zog sich Russland wieder zurück und beendete den militärischen Konflikt im Oktober 2008.

In den Jahren 2009 und 2010 kündigten die USA an, NATO-Raketensysteme neuster Technologie in Polen und Rumänien zu stationieren, was dann bis 2016 auch realisiert wurde. Die USA setzten auch schiffsgestützte Tomahawk-Offensivraketen-Systeme auf Kriegsschiffen ein, die sie anschliessend ins Schwarze Meer schickten. Sowohl die landgestützten rumänischen als auch die schiffsgestützten US-Raketen gehörten zum modernsten „Aegis“-Typ, der in kürzester Zeit mit nuklearen Sprengköpfen aufgerüstet werden kann (siehe dazu das Aufmacher-Bild oben, Red.). Falls Russland sich in die US-Wahl 2016 tatsächlich eingemischt hat, dann hatte es dafür durchaus eine gewisse Berechtigung …

Russland reagierte 2017 und 2018 äusserst ungehalten auf diese US-Raketenstationierungen von 2016 und erklärte, diese verstießen gegen den 1987 mit den USA unterzeichneten INF-Vertrag (Intermediate Nuclear Forces), in dem beide Seiten vereinbart hatten, keine nuklearfähigen Raketen in Osteuropa oder an Russlands Westgrenze zu stationieren.  In einer noch nie dagewesenen direkten öffentlichen Reaktion erklärte Russland außerdem, dass es die Raketensysteme in Rumänien notfalls zerstören könnte und würde. Die USA reagierten daraufhin mit der Stationierung eines Patriot-Raketenabwehrsystems in Rumänien.

Im Juli 2019 traten die USA formell aus dem 1987 zwischen Reagan und Gorbatschow ausgehandelten Raketenvertrag aus. Während des US-Wahljahres 2020 und der Covid-Gesundheits- und Wirtschaftskrise wurden weitere Eskalationen aber mehr oder weniger eingefroren.

Vor diesem Hintergrund der Ereignisse in der Ukraine von 2004 bis 2016, der Stationierung von US-Raketensystemen in Osteuropa und im Schwarzen Meer und dem Rückzug der USA aus dem INF-Vertrag im Jahr 2019 müssen nun auch die jüngsten Ereignisse der US-NATO-Expansion in die Ukraine verstanden werden. Die Geschichte und ihr Kontext erklären alles. Erklärungen, die nur auf unmittelbaren Einzelereignissen basieren, werden von den Mainstream-Medien und den politischen Kräften dahinter leicht manipuliert.

USA/NATO vs. Russland: Ukraine 2021-22 

Nachdem Biden gewählt wurde und die Demokraten 2021 wieder an der Macht waren, begannen die politischen Kräfte in den osteuropäischen NATO-Staaten und in der neu gewählten Selenskyj-Regierung in der Ukraine, auf eine stärkere Aufrüstung durch die USA und erneut auf die Aufnahme der Ukraine in die NATO zu pochen. Im Spätsommer 2021 reagierte Russland auf die neue Initiative zur Aufnahme der Ukraine in die NATO. Russland war sich des neuen Drucks bewusst, die Ukraine in die NATO aufzunehmen, und wusste, dass die US-Demokraten im Vergleich zu Trump (den sie, die Russen, aus noch unbekannten Gründen weitgehend neutralisiert hatten) mehr Sympathie für Sanktionen gegen Russland hegten.

Im Spätsommer 2021 verfasste Putin deshalb ein ausführliches Positionspapier, in dem er mehr oder weniger einen Schlussstrich unter die Aufnahme der Ukraine in die NATO zog. Er wies insbesondere auf die Tatsache hin, dass die USA und andere NATO-Regierungen 2008 erklärt hatten, dass die Ukraine „in Zukunft Mitglied der NATO werden wird“, ohne genauer zu sagen, wann, und dass die USA/NATO diese Erklärung nie zurückgezogen oder zurückgewiesen hatten. Diese Tatsache und die Stationierung von hochentwickelten und potenziell nuklear bewaffneten Raketen in Polen, Rumänien und auf dem Schwarzen Meer durch US-Schiffe stellten eine klare Bedrohung für Russland dar. Der Rückzug der USA aus Afghanistan und dem Nahen Osten bei gleichzeitiger Verstärkung ihrer Atom-U-Boot-Streitkräfte in Australien war ein klares Signal, dass das US-Imperium seine militärischen Ressourcen verlagert und sich auf neue Konflikte mit Russland und China vorbereitet. Eine NATO-Ukraine würde deshalb bedeuten, dass die rumänischen und Schwarzmeer-US-Raketen nach Norden in die Ukraine verlegt würden. Mit ähnlichen NATO-Streitkräften im Baltikum wäre Russland damit eingekesselt und die Raketen wären nur wenige Minuten von Moskau entfernt.

Gleichzeitig brachen 2021 in Weißrussland und Kasachstan Aufstände aus, die Russland leicht als Vorboten künftiger Aufstände in diesen Grenzstaaten nach dem Vorbild von «Kyiv 2014» betrachten konnte. Ein weiterer „ukrainischer“ Putsch in Weißrussland oder Kasachstan würde aber bedeuten, dass Russland noch enger eingekreist wäre. Russland hat die Regierungen dieser Länder bisher unterstützt und geholfen, die Proteste niederzuschlagen. Künftige Aufstände in diesen Staaten sind jedoch nicht ausgeschlossen. Und es ist wahrscheinlich, dass Russland und Putin diese Aufstände als von der US-CIA unterstützt interpretiert haben – nicht anders als 2014 in der Ukraine.

Es ist leicht zu verstehen, warum Putin und Russland sich von der NATO in Osteuropa und im Baltikum zunehmend eingekreist fühlten, da die von den USA angezettelten und unterstützten Kräfte in Georgien, Weißrussland und Kasachstan die Grenzen des Landes destabilisierten. Eine NATO-Ukraine würde Russland strategisch noch mehr einkesseln und den Ring um das Land schließen. Die NATO würde erreichen, was Nazi-Deutschland nicht geschafft hat. Die Erinnerung an den deutschen Überfall auf die Ukraine in den Jahren 1941-42 sitzt in Russland tief. Sie wird von westlichen Politikberatern oft unterschätzt – vor allem von den sogenannten nicht-militärischen „Experten“, die US-Präsidenten beraten und seit langem militärische Abenteuer der USA im Ausland befürwortet haben und noch immer befürworten – vor allem in Vietnam, Irak, Libyen und Syrien.  Man könnte sich fragen: „Würde Russland der NATO und den USA erlauben, in die Ukraine einzumarschieren und sie ‚einzunehmen‘ – nachdem es 10 Millionen seiner Bürger verloren hat, um den Nazis dasselbe zu verwehren?“ [de facto waren es weit mehr: die meisten Nachforschungen ergaben, dass die Sowjetunion um die 27 Millionen Kriegsopfer zu verzeichnen hatte. Red.] Auch wenn diese Frage unter den US-Beratern keine Rolle spielt, ist sie zweifellos eine zentrale Überlegung in russischen Kreisen – sowohl im militärischen als auch im zivilen Bereich.

Es stimmt, dass Putin und Russland begonnen haben, ihre militärischen Ressourcen an der ukrainischen Grenze aufzustocken. Aber bisher war es ein „maßvoller“ Aufbau. Es handelt sich hauptsächlich um militärische Ausrüstung, die in vorgeschobene Stützpunkte verlegt wurde, mit begrenzten Truppen, die sie unterstützen. Die meisten der angeblichen 175’000 Soldaten an der Grenze, die von Biden und den US-Mainstream-Medien erwähnt werden, befinden sich nicht auf vorgeschobenen Grenzposten. Sie befinden sich zum Teil Hunderte von Kilometern innerhalb Russlands auf ihren regulären Stützpunkten. Ein deutlicheres Signal für die Absicht, in die Ukraine einzumarschieren, wird es geben, wenn die Unterstützungsbataillone an die Grenze vorrücken, d. h. mit Sanitäts-, Munitions-, Lebensmittel- und ähnlichen logistischen Truppen und Vorräten. Das scheint aber noch nicht der Fall zu sein. Russlands bisherige militärische Bewegungen dienten offensichtlich dazu, die Aufmerksamkeit von Biden und den USA zu erregen, um sie an den Verhandlungstisch zu bringen. Und Anfang Januar hat es funktioniert.

Biden veröffentlichte ein Angebot, das in den Medien als „Transparenzmechanismus“ bezeichnet wird. Darin boten die USA den Russen an, zu überprüfen, ob ihre Raketensysteme in Polen und Rumänien defensiv sind oder nicht. Im Gegenzug wollten die USA, dass Russland ihnen Zugang zu den russischen Raketenstellungen an der Grenze gewährt – darunter auch zu den russischen Anlagen in der Region Kaliningrad, einem kleinen Gebiet zwischen Litauen und Polen an der Ostseeküste. Die USA boten in dem „Mechanismus“ auch an, dass sie keine permanenten Offensivraketen in der Ukraine stationieren würden – was darauf hindeutet, dass sie das Recht haben könnten, dies „vorübergehend“ zu tun, wie auch immer das definiert werden mag. Der eigentliche Knackpunkt des Mechanismus-Angebots war jedoch, dass sich Russland als Teil eines jeden Abkommens aus der Ostukraine und aus der Krim hätte zurückziehen müssen. Das war natürlich keine Option, aber es gab den USA die Sicherheit, einen Vorschlag auf den Tisch gelegt zu haben.

Während Biden dieses Angebot unterbreitete, kündigte er an, dass die USA weitere 5000 US-Soldaten nach Osteuropa schicken würden, zweifellos um Polen und die baltischen NATO-Staaten zu besänftigen, die jetzt noch mehr moderne NATO-Waffen fordern. Und Biden wiederholte seine seit Dezember oft wiederholte Drohung, dass die USA und ihre Verbündeten weltweit neue massive Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängen würden, falls Russland einmarschieren würde. Er hat noch nicht gesagt, was genau das sein könnte, aber es deutet eindeutig auf neue Sanktionen hin, die nicht nur strenger sein werden. (Dazu könnte nach Meinung des Autors auch gehören, Russland den Zugang zum US-kontrollierten internationalen Zahlungssystem SWIFT zu verwehren, was Russland daran hindern würde, sein Öl auf den Weltmärkten zu verkaufen.) Gleichzeitig hat der US-Kongress in aller Eile neue Nothilfe und Militärhilfe für die Ukraine beschlossen. Und die „Kriegsfalken“ in den USA haben gefordert, US-Sanktionen gegen Russland verhängen, noch vor einem Einmarsch. Offensichtlich denken diese, dies sei eine Abschreckung und keine Provokation.

Den ganzen Januar 2022 über verbreiteten Biden und die US-Medien die Botschaft, dass eine Invasion „unmittelbar bevorsteht“.  Diese verfrühte Erklärung, die oft wiederholt wurde, hat die soziale Stabilität in der Ukraine selbst gestört, was den ukrainischen Präsidenten Selenskyj dazu veranlasste, Bidens Botschaft öffentlich zu widersprechen. Die USA haben das Thema „bevorstehende Invasion“ weiterverfolgt, indem sie die Briten veranlasst haben, ein angebliches Dokument zu veröffentlichen, das russische Invasionspläne aufzeigt (Man fragt sich, warum die Briten typischerweise solche politisch anzüglichen, aber unbestätigten „Berichte“ – d.h. Dossiers, Falschmeldungen usw. – im Namen ihres großen Bruders USA veröffentlichen?)  In der Zwischenzeit wächst der Druck auf die ukrainischen Politiker, während in der Bevölkerung fast Panik ausbricht.

Am 1. Februar lehnte Putin den Vorschlag des „Transparenzmechanismus“ ab und erklärte öffentlich, er glaube, dass die USA und die NATO versuchten, Russland zu einem Krieg in der Ukraine zu provozieren. In einem klaren Appell an die westeuropäischen NATO-Länder (die im Gegensatz zu den USA bei einem Krieg in der Ukraine wirtschaftlich und politisch am meisten zu verlieren hätten) fügte Putin hinzu, er erwarte, dass „der Dialog fortgesetzt wird“. Dies löste eine Reihe von Ankündigungen und Besuchen von Staatschefs in Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien aus. Boris Johnson, der kurz davor stand, von seiner eigenen Partei in Großbritannien entlassen zu werden, reiste für ein paar Fototermine nach Kiew.  Frankreichs Macron verkündete, mit Putin telefoniert zu haben und ihn direkt treffen zu wollen. Das tat auch der neu gewählte deutsche Bundeskanzler Olaf Schultz.

Putin flog unterdessen nach China, um sich während der Eröffnung der Olympischen Winterspiele mit Präsident Xi zu treffen. Beide veröffentlichten eine direkte gemeinsame Erklärung, in der sie den USA aggressive militärische Schritte im Pazifik und in der Ukraine vorwarfen, die den Weltfrieden und den Status quo ernsthaft destabilisieren würden.

Der Medienkrieg im Westen spitzt sich weiter zu: Die Biden-Administration ließ einen Bericht durchsickern, in dem behauptet wurde, Russland plane eine Operation unter falscher Flagge als Vorspiel für eine Invasion. Im Gegenzug veröffentlichte die spanische Zeitung El Pais einige US/NATO-Pläne, die in Arbeit sind.

Die vorangegangenen Ereignisse und Aktionen beider Seiten rund um die Ukraine erinnern daran, wie beide Seiten im August 1914 den Einsatz immer weiter erhöhten, zunächst mit kleinen, unbedeutenden Aktionen, die sich dann aber beschleunigten und immer bedrohlicher wurden, bis sie schließlich zu einem militärischen Konflikt und zum Ersten Weltkrieg führten. Heute umkreisen sich beide Seiten in der Ukraine wie Boxer, die in der ersten Runde in den Ring steigen, um zu testen und zu täuschen, nach Schwachstellen zu suchen, den anderen einzuschätzen und um herauszufinden, was der erste Schritt des anderen sein könnte.  Sollte einer der beiden ausrutschen oder fallen oder der andere unbewusst signalisieren, dass ein Schlag bevorsteht, könnte es zu einem allgemeinen Schlagabtausch zwischen beiden kommen.

Zehn Gründe, warum die US-Eliten daran interessiert sein könnten, dass Russland in die Ukraine einmarschiert. (Und Achtung: dies alles wurde geschrieben, drei Wochen vor dem effektiven Einmarsch Russlands in die Ukraine. Red.)

Ein Großteil der Mainstream-Medien konzentriert sich weiterhin darauf, warum Russland in die Ukraine einmarschieren will. Dabei wird die Tatsache außer Acht gelassen, dass es für die USA erhebliche Vorteile hat, Russland zu einem Einmarsch in die Ukraine zu provozieren. Die US-Medien, die Regierung Biden und die US-Kriegsfalken im Kongress behaupten, sie wollten Putin und Russland von einer Invasion abhalten. Aber was sie sagen und was sie tun, ist nicht dasselbe. Vieles deutet darauf hin, dass die USA und die NATO eine Konfrontation wollen, solange es sich um einen Stellvertreterkrieg zwischen Russland und der Ukraine handelt, dem sie tatenlos zusehen, den Flächenbrand mit Waffen anheizen und dabei andere US-NATO-Ziele erreichen können. 

Was genau könnten diese anderen Ziele der USA/NATO sein?

Hier sind mindestens 10 Gründe, warum die politischen Eliten der USA beider Parteien, die Kriegsfalken und die Kapitalisten des militärisch-industriellen Komplexes eine russische Invasion in der Ukraine befürworten:

1. Die NATO wieder vereinen und die Hegemonie der USA über sie wieder stärken.

In den letzten Jahren – und vor allem seit Trump – haben einige NATO-Mitglieder in Frage gestellt, ob die USA ein so verlässlicher Partner für das Bündnis sind, wie sie es in den vergangenen Jahrzehnten waren.  Länder wie Frankreich und jetzt auch Deutschland haben wachsende Zweifel. Innerhalb der EU sind Stimmen laut geworden, dass sie ihren eigenen Weg mit ihrer eigenen Verteidigung und Strategie gehen sollte.  China ist wirtschaftlich stark in die EU-NATO-Staaten eingedrungen. Europa und China sind jetzt entweder der erste oder der zweitgrößte Exporteur/Importeur des jeweils anderen. Die führenden Politiker der europäischen Staaten sind sehr nervös, wenn die USA sie in einen Konflikt in der Ukraine hineinziehen, der zumindest schwerwiegende Auswirkungen auf ihre Wirtschaft haben könnte, und das zu einer Zeit, in der die europäische Wirtschaft weiterhin damit zu kämpfen hat, sich von der durch Covid ausgelösten Rezession der letzten zwei Jahre zu erholen.  Die Erfolgsbilanz der USA im Nahen Osten lässt sie zögern: Sie haben wenig erreicht, die Region in Schutt und Asche gelegt und sich gerade zurückgezogen, um ihren Fokus auf China zu richten.  Außerdem sind die europäischen NATO-Verbündeten untereinander ziemlich gespalten. Die Osteuropäer, die erst kürzlich der NATO beigetreten sind, folgen dem Beispiel der USA in der Hoffnung auf mehr Waffen und Truppen. Große Akteure wie Frankreich und Deutschland tun das weniger.  Wenn eine US-Provokation des Konflikts in der Ukraine schief geht, sind die politischen und wirtschaftlichen Risiken für die westeuropäischen NATO-Staaten hoch.

2. Deutschland dazu bringen, die russische Gaspipeline Nord Stream 2 zu stornieren; Europa dazu bringen, stattdessen US-Gas zu kaufen; die US-Erdgasexporte nach Europa erhöhen und dadurch eine Angebotsverknappung in den USA herbeiführen, um Gaspreiserhöhungen im Inland und US-Gewinne zu rechtfertigen.

Deutschland ist besonders unsicher, ob es dem Beispiel der USA in einen weiteren Sumpf in der Ukraine folgen soll. Der neue Bundeskanzler, Olaf Schulz, ist besonders nervös wegen dieser Aussicht. In der Öffentlichkeit regt sich erheblicher Widerstand gegen eine auch nur indirekte Einmischung in die Ukraine. Und die deutschen Kapitalisten sind auch über das Schicksal der russischen Erdgaspipeline Nord Stream 2 gespalten. Deutschland braucht die Lieferung dringend. Das russische Gas ist deutlich günstiger als der Kauf von Erdgas aus den USA. Seit Jahren setzen die USA Deutschland unter Druck, Nord Stream 2 zu stoppen und stattdessen verflüssigtes Erdgas aus den USA zu kaufen – zu höheren Preisen und mit der Auflage, dass auch Deutschland sehr teure neue Hafenanlagen für den Import des US-Gases bauen muss. Die US-amerikanischen Ölkonzerne wollen das Gas verkaufen, um das Überangebot an Erdgas in den USA abzubauen. Das würde nicht nur Gewinne aus mehr Verkäufen nach Deutschland bringen, sondern auch zu einer Verknappung des Angebots in den USA führen, die es den US-Konzernen ermöglichen würde, die Preise auf dem US-Inlandsmarkt zu erhöhen. Die US-Gaskonzerne – die meisten von ihnen gehören den großen Ölkonzernen – würden einen Gewinn erzielen.  Hinter den Kulissen des Konflikts in der Ukraine ist die graue Präsenz der US-amerikanischen Ölkonzerne zu erkennen, die seit den 1960er Jahren bei so gut wie jedem amerikanischen Militärabenteuer ihre Finger im Spiel hatten.

3. Vorwand schaffen, um noch mehr Truppen und moderne Waffen ins Baltikum (Estland, Lettland, Litauen) und nach Osteuropa (Polen, Rumänien) zu schicken.

Es gibt politische Kräfte in den USA, die Polen, Rumänien und die baltischen Länder bis zum Äußersten aufrüsten wollen, einschließlich der Stationierung von Atomwaffen in ihren Ländern.  Die Regierungen in der Region sind mehr als bereit, sich mit diesen US-Kriegsfanatikern zu verbünden. Das bedeutet neue massive Finanzmittel aus den USA, mehr US-Waffen und Truppen und einen Aufschwung für ihre Wirtschaft (und zweifellos auch für die Taschen der Politiker).

4. Mehr wirtschaftliche Zugeständnisse von der Ukraine für US-Geschäfte im Austausch für mehr und bessere US/NATO-Waffen zu erhalten. 

Das US-Imperium leistet keine Hilfe, ohne dass dafür bezahlt wird. US-Investoren und -Konzerne sind bereits nach 2014 tief in die ukrainische Wirtschaft eingedrungen. Sie haben eine beträchtliche Anzahl von ehemals ukrainischen Unternehmen in Schlüsselsektoren der Wirtschaft finanziert, aufgekauft oder anderweitig kontrolliert.  Bidens Sohn ist nicht der einzige Vertreter der nächsten Generation der US-Polit-Elite (aus beiden Parteien), der in den Vorständen ukrainischer Unternehmen sitzt.  Wenn die USA der Ukraine noch mehr Geld und Waffen zur Verfügung stellen, werden sie dafür einen Preis verlangen. Sie werden ihren Einfluss auf die ukrainische Wirtschaft und das Bankensystem weiter ausbauen.  Die ukrainischen Eliten werden sie mehr als willkommen heißen, denn die US-Form des Wirtschaftsimperiums integriert die kolonialen Eliten, indem sie ein großes Stück des wirtschaftlichen Kuchens mit ihnen teilt.

5. Wachsende politische Unterstützung der USA, um Moldawien anzugreifen, um die russischen Unterstützer zu vertreiben und ein US-Marionettenregime über das ganze Land zu installieren. 

Sollte es in der Ukraine zu einem militärischen Konflikt kommen, werden die USA und ihre Geheimdienste (CIA, Außenministerium usw.) mit Sicherheit auch die Republik Moldau ins Visier nehmen. Moldawien ist ein kleiner Staat, der zwischen der südwestlichen Ukraine und Rumänien liegt. Seit Jahren herrscht dort ein unruhiger Waffenstillstand zwischen den von Russland unterstützten Kräften, die die eine Hälfte des Landes regieren, und den pro-westlichen Kräften in der anderen Hälfte. Die USA werden versuchen, dies zu ändern und das Land vollständig zu einer pro-westlichen Hegemonie zu machen.

6. Rechtfertigung weiterer US-Bemühungen und -Finanzierungen zur Destabilisierung von Belarus und Kasachstan. 

Es ist naiv zu glauben, dass die US-Geheimdienste und die mit ihnen verbundenen Kräfte tief in die jüngsten öffentlichen Demonstrationen und Proteste in Weißrussland und Kasachstan verwickelt sind, letzteres erst vor wenigen Wochen, als die Spannungen in der Ukraine zunahmen.  Zumindest aber testen die USA das Ausmaß der antirussischen Opposition in diesen Ländern, die wirtschaftlich und politisch eng mit Russland verbunden sind. Russland hat diesen Regierungen geholfen, die Demonstrationen niederzuschlagen, von denen einige, wie in Kasachstan, besonders gewalttätig waren. Sollten die USA die Ukraine vollständig der NATO zuwenden, werden sie mit Sicherheit ihre Bemühungen zur Destabilisierung von Weißrussland und Kasachstan an Russlands Grenzen verstärken. Sie werden die nächsten „ukrainischen“ Ziele sein, nach der Vorlage für die Ukraine, die 2014 begann und nun 2022 ihren Höhepunkt erreicht.

7. Eine große außenpolitische Ablenkung für die Demokraten vor den Zwischenwahlen im November 2022. 

Die potenziellen Vorteile eines außenpolitischen Themas wie der Ukraine für den amtierenden Präsidenten und seine Partei (die Demokraten) sind nicht von der Hand zu weisen. So können Biden und die Partei in einem Wahljahr „hart auftreten“, was der Partei, die „hart gegen Russland vorgeht“, immer mehr Unterstützung bringt, solange dies nicht zu einem direkten Konflikt mit den USA führt. Die Ukraine ist eine klassische Möglichkeit für einen „Stellvertreterkrieg“ der USA, den sie am liebsten aus der Ferne auf dem Boden eines anderen Landes (der Ukraine) mit ihren Truppen und/oder unter dem Schutz der NATO-Streitkräfte führen – so auch in diesem Fall.

8. Den Kongress dazu bringen, eine weitere Erhöhung des US-Verteidigungsbudgets zusätzlich zu den 778 Milliarden Dollar zu bewilligen. 

Die US-Kriege im Nahen Osten sind vorbei. Es wird Zeit brauchen, um neue technologische Waffen und Streitkräfte aufzubauen, um China in Asien zu konfrontieren. Der US-Deal, Australien mit den neuesten US-Atom-U-Booten auszustatten, ist nur ein Beispiel dafür. Der Stellvertreterkrieg in der Ukraine dient als bequeme Zwischenausrede, um die Verteidigungsausgaben, die dem militärisch-industriellen Komplex der USA zugute kommen, nicht zu senken, sondern sie sogar noch zu erhöhen. Die US-Verteidigungsausgaben sind eindeutig außer Kontrolle geraten. Allein die Ausgaben des Pentagons belaufen sich derzeit auf 778 Milliarden Dollar und steigen auch nach dem Rückzug der USA aus dem Nahen Osten weiter an. (Die gesamten Verteidigungsausgaben der USA belaufen sich auf weit über 1 Billion Dollar pro Jahr, wenn man auch die anderen Ministerien mit einbezieht: Energie, Staat, AEC, Homeland Security, CIA, NSA, DARPA usw.) Das MIC verschwendet keine Zeit damit, die USA zu ermutigen, in einen weiteren Konflikt zu geraten, sobald sie einen beendet haben, um Kürzungen der Verteidigungsausgaben nach dem Krieg zu verhindern. Als die UdSSR Ende der achtziger/Anfang der neunziger Jahre zusammenbrach, wurde Saddam Hussein zum militärischen Hoffnungsträger. Das war der Auslöser für den ersten Golfkrieg 1991 und die weiteren Kriegsausgaben danach und lenkte die Aufmerksamkeit der USA auf den Nahen Osten. Die US-Intervention in Somalia in den 1990er Jahren und auf dem Balkan setzte diese Entwicklung fort. Der nächste bequeme Feind war die „terroristische Bedrohung“ im Gefolge der Anschläge vom 11. September in den USA. Das trieb die Verteidigungs- und Kriegsausgaben in den nächsten zwei Jahrzehnten noch weiter in die Höhe, einschließlich der Kriege im Irak, in Afghanistan, Libyen, Syrien und dem Stellvertreterkrieg der USA im Jemen. Jetzt, da sich die USA aus den direkten Kriegen im Nahen Osten zurückgezogen haben, brauchen sie einen neuen Feind, um die Kriegsausgaben aufrechtzuerhalten. Es wird eine Weile dauern, bis China als Ziel aufgebaut ist. In der Zwischenzeit werden die Ukraine und Russland jedoch gut dafür sorgen, dass der Kongress weiterhin Dollars in die Kriegsmaschinerie des militärisch-industriellen Komplexes der USA fließen lässt.

9. Ein Vorwand, um gegen pro-russische Unterstützer vorzugehen: Venezuela, Nicaragua und wieder Kuba. 

Ein langwieriger Konflikt in der Ukraine, der von den USA und den NATO-Verbündeten in Osteuropa finanziert und unterstützt wird, könnte schließlich zu einer Ausweitung des Konflikts auf andere „Stellvertreterstaaten“ führen. Im Falle von Russland bedeutet das Venezuela, Kuba und Nicaragua. Im Falle eines Krieges in der Ukraine werden die Kriegsfalken in den USA zweifellos eine Rechtfertigung dafür finden, diese Länder mit neuen Destabilisierungsbemühungen der US-Geheimdienste und vielleicht sogar mit Spezialkräften anzugreifen.

10. Man kann die Effektivität der neuesten US-Waffen gegen russische Streitkräfte und die Effektivität russischer Waffen gegen die USA testen, ohne Russland direkt konfrontieren zu müssen; man kann Russland dazu bringen, den Stand seiner Cyberfähigkeiten offenzulegen.

Stellvertreterkriege sind ein guter Vorwand, um neue US-Waffen auf einem Schlachtfeld in einem Drittland zu testen. Das bedeutet, dass nicht nur getestet wird, wie gut offensive US-Waffen gegen russische funktionieren, sondern auch, wie gut russische Waffen gegen die US-Abwehr funktionieren. Dabei treten unweigerlich Schwächen zutage, die es ermöglichen, die Waffen zu korrigieren und für einen möglichen späteren Einsatz in anderen Ländern aufzurüsten. Die USA sind besonders daran interessiert, ihre Cybersecurity-Waffen zu testen und Russland dazu zu bringen, das Ausmaß vieler seiner Fähigkeiten offenzulegen. Ein weiterer interessanter Bereich ist es, zu testen, wie gut US-Panzerabwehrraketen funktionieren und wie gut US/NATO-Raketen gegen russische Raketenabwehrsysteme (wie die S-500) funktionieren.

Einige Schlussfolgerungen (Achtung: auch das geschrieben, drei Wochen vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, Red.)

Alle oben genannten Punkte sind für die USA von Vorteil, sollte es in der Ukraine zu einem direkten Konflikt mit den russischen Streitkräften kommen.  Die Ukrainer werden den menschlichen und wirtschaftlichen Preis zahlen. Die USA und ihre Konzerne werden wirtschaftlich und strategisch profitieren. Europa wird in einer Zwickmühle gefangen sein, da es nicht weiß, welche wirtschaftlichen Auswirkungen ein Konflikt auf Europa haben wird und welche großen politischen Risiken es eingehen wird, wenn der Konflikt nicht gut verläuft.

Das Verhalten der US-Interessen in den letzten zwei Monaten deutet zunehmend darauf hin, dass die USA einen offenen Konflikt in der Ukraine befürworten. Für die USA ist es eine Win-Win-Situation, wenn es zu einem offenen Konflikt kommt. Es gibt strategisch, innenpolitisch und wirtschaftlich viel zu gewinnen: die Wiederherstellung ihrer unangefochtenen Hegemonie über die NATO; die Verdrängung Russlands aus der europäischen Wirtschaft und noch stärkere wirtschaftliche Abhängigkeit Europas von US-Ressourcen statt von Russland; die Vertiefung des US-Einflusses und der Kontrolle über die ukrainische Wirtschaft und Regierung; die Befriedigung der Forderungen der US-Kriegsfalken nach Destabilisierung anderer Länder, die wie die Ukraine an Russland grenzen; die Wiederaufnahme von Ausgaben und Operationen gegen befreundete lateinamerikanische Staaten; die Schaffung von Rechtfertigungen im Kongress, um in der Zwischenzeit noch mehr für die US-Verteidigung und den Krieg auszugeben, bis die größere, längerfristige Aufrüstung und die Militärausgaben gegen China anlaufen können; und die Erprobung der Effektivität der US-Defensiv- und Offensivwaffen gegen einen hochentwickelten Gegner wie Russland in einem echten Einsatzgebiet.

Die Zeit wird zeigen, ob Russland und Putin auch einen offenen Konflikt in der Ukraine befürworten – oder ob die westlichen Medien die russische Bedrohung übertreiben und die Trommeln für eine „bevorstehende Invasion“ schlagen, um den Interessen der USA und der NATO zu dienen.

Längerfristig könnte Russland keine andere Wahl haben, als einzumarschieren, wenn die USA ihre „letzte Karte“ ausspielen und erklären, die Ukraine in die NATO aufzunehmen. Die USA sagen, sie hätten keine solche Absicht. Aber wenn das so ist, warum weigern sie sich dann, ihre Erklärung von vor einem Jahrzehnt zurückzunehmen, dass die Ukraine irgendwann in der Zukunft in die NATO aufgenommen werden soll? Ist die Zukunft jetzt? Sollte die Ukraine in die NATO aufgenommen werden, ist für Russland auf Jahrzehnte hinaus das Spiel aus strategischer Sicht „Game Over“. Ähnliche Entwicklungen wie in der Ukraine würden auch in Weißrussland, Kasachstan und wahrscheinlich Moldawien eintreten. Rufe und Bemühungen, auch sie in die NATO aufzunehmen, würden folgen. Russland wird eng eingekreist sein. Es wird danach leichter einzuschüchtern sein. Überall von NATO-Staaten umgeben, würde dies wahrscheinlich zu einer umfassenden nuklearen Abrüstung führen.

Der Autor dieser Analyse ist daher der Meinung, dass die Verhinderung eines NATO-Beitritts der Ukraine eine „rote Linie“ für Putin und Russland darstellt.  Wenn Russland in eine Ecke gedrängt wird, aus der es keinen Rückzug oder Ausweg mehr gibt, ist es gut möglich, dass es keine Alternative zur Invasion sieht. Das steht nicht auf der unmittelbaren Tagesordnung. Das heißt aber nicht, dass es nie dazu kommen wird.

(Dieser Artikel erschien am 7. Februar 2022 auf der Plattform worldfinancialreview.com. Der Autor, der US-amerikanische Politologe Jack Rasmus, hat Globalbridge.ch erlaubt, seine Analyse vom 7. Februar zu übersetzen und in deutscher Sprache zu publizieren. Die Übersetzung besorgte Christian Müller.)

>>>>>> Siehe auch «Darum fordert Russland den Stop der NATO-Osterweiterung» (von Christian Müller)

>>>>>> Siehe auch «Die Mitverantwortung der USA und der NATO: Vor der NATO-Osterweiterung wurde mehrfach gewarnt» (von Christian Müller)