Zum Tanzen braucht es zwei – aber auch zu Verhandlungen!
(Red.) Im März 2022 gab es eine reelle Chance, den am 24. Februar ausgebrochenen Krieg in der Ukraine friedlich zu beenden. Es war bereits ein Friedensvertrag ausgehandelt. Aber die USA mit ihrem heimlichen Interessenvertreter, dem britischen Premierminister Boris Johnston, legten das Veto gegen einen Frieden ein, es müsse gekämpft werden. Doch dieses Thema wird in den westlichen Medien einfach totgeschwiegen. (cm)
In einem kürzlich veröffentlichten Interview in der Berliner Zeitung erklärte Altkanzler Gerhard Schröder, dass im Frühjahr 2022 „die Ukrainer keinen Frieden vereinbart [haben], weil sie nicht durften. Die mussten bei allem, was sie beredet haben, erst bei den Amerikanern nachfragen.“
Damit bestätigt sich einmal mehr, auch wenn es immer noch weitestgehend ignoriert wird, dass wenige Wochen nach Beginn des militärischen Konflikts in der Ukraine die Chancen auf eine schnelle Einigung und einen Frieden zwischen Russland und der Ukraine mehr als realistisch waren. Dies ist offensichtlich eine unbequeme Tatsache, die vielen nicht gefällt, insbesondere unter Experten in den verschiedenen transatlantischen Kreisen, die die öffentliche Meinung in Europa so stark prägen. Kritiker werden sagen, dass Schröder ein neuer Chamberlain ist, der mit dem absoluten Bösen ein ominöses Appeasement suchte und daher zur Hölle verurteilt werden muss.
Allerdings ist Schröders Aussage eben nicht die erste, die bestätigt, dass die Amerikaner im März 2022 ein mögliches Friedensabkommen zwischen der Ukraine und Russland sabotiert haben. (Überbringer des kategorischen Neins zum ausgehandelten Vertrag war damals der britische Premier Boris Johnson, Red.) In den letzten Wochen hörten wir erneut Gespräche über die Möglichkeit von Verhandlungen, wenn auch nicht so oft, wie man hoffen würde, und sogar von einem ukrainischen Friedensplan war die Rede. Dem offiziellen Narrativ zufolge wären Verhandlungen mit Russland unmöglich, weil Russland sich zu verhandeln als unfähig und unwillig erwiesen habe. Ist das aber die Wahrheit?
„Lawrow weist Friedensplan der Ukraine zurück“, titelte vor wenigen Tagen DIE ZEIT, nach dem Auftritt des russischen Außenministers bei der UNO. „Lawrow weist Friedensplan und UNO-Vorschlag für Getreideabkommen zurück. Russland hat erneut den ukrainischen Friedensplan […] zurückgewiesen“, hieß es beim Deutschlandfunk. Andere internationale Medien berichten ähnlich und machten daraus die wichtigste Botschaft der Rede des Chefs der russischen Diplomatie: Russland will eben nicht verhandeln. Die Ukraine hätte einen „Friedensplan“, Russland sei aber an Frieden nicht interessiert. Ist es wirklich so?
Bis vor wenigen Wochen herrschte in der Ukraine und im Westen großer Optimismus. Die Begeisterung war fast grenzenlos. Die ukrainische Gegenoffensive, unterstützt durch modernste westliche Waffen, würde bald alle besetzten Gebiete, einschließlich der Krim, befreien. Doch die Verlangsamung der vielgepriesenen Gegenoffensive hat die Begeisterung etwas, wenn auch nicht wesentlich, gedämpft. Die westliche Presse, die neulich wenigstens angedeutet hat, dass die Revanche in der Ukraine offenbar nur langsam voranschreitet, vermittelt immer noch die Botschaft, als sei die Ukraine nur noch wenige Schritte vom Sieg entfernt und könne ihr gesamtes Territorium zurückerobern.
Darüber hinaus hatte die Ukraine Anfang August bei einem Gipfel in Saudi-Arabien gezeigt, dass sie entschlossen war, die militärische Initiative mit der diplomatischen zu kombinieren. In Jeddah, wo Delegationen aus 40 Ländern anwesend waren, darunter China, Indien, Brasilien und auch die USA, stellte die Ukraine ihren 10-Punkte-„Friedensplan“ vor. Ein Friedensplan, der als Voraussetzung für Verhandlungen mit Russland den vollständigen Abzug aller russischen Truppen aus dem ukrainischen Territorium und die Rückgabe aller seiner Gebiete an die Ukraine vorsah. Selbstverständlich sollten die Russen auch aus der Krim wegziehen. All das sei für die Ukraine eben nicht verhandelbar. Der ukrainische „Friedensplan“ wurde von vielen im Westen als echter diplomatischer Erfolg gefeiert, ein „Erfolg“, der der bevorstehenden und angeblich unaufhaltsamen militärischen Gegenoffensive ebenbürtig war. Aber es handelte sich um einen „Friedensplan“, der aus der Sicht Russlands und selbst der Ukraine wie eine komplette Kapitulation für Russland aussähe und ein Triumph für die Ukraine wäre. Russland hatte also keinen rationalen Anreiz, so einen „Friedensplan“ anzunehmen.
Selenskyj plötzlich offen für Verhandlungen über die Krim?
Aus diesem Grund fielen vor ein paar Wochen einige Aussagen des ukrainischen Präsidenten Selenskyj überraschend auf. Die Nachricht verbreitete sich rasant und basierte auf einem Interview, das Selenskyj der ukrainischen Journalistin Natalia Moseitschuk gegeben hatte. Anhand dieses Interviews schrieben etliche westliche Medien, fast im Einklang, nicht nur in der Schweiz oder in Deutschland, sondern in ganz Europa, dass sich Selenskyj offen für Verhandlungen über die Krim ausgesprochen habe.
„Selenski deutete Lösung für Krim an. Der Präsident hofft auf Erfolg der Offensive auf eine Demilitarisierung der Krim. Ukrainische Truppen rücken im Süden weiter vor“, schrieb zum Beispiel die deutsche taz.
„Präsident Wolodimir Selenski macht einen Vorschlag zur Zukunft der Krim“, stand in der Basler Zeitung.
„Selenski deutete Verhandlungslösung bei Krim an“, titelte Blick. „Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski hält es für möglich, dass eine politische Lösung für die von Russland annektierte Halbinsel Krim gefunden wird. ‹Wenn wir an den Verwaltungsgrenzen der Krim sind, denke ich, kann man politisch die Demilitarisierung Russlands auf dem Gebiet der Halbinsel erzwingen›, sagte Selenski.“
Auch der Tagesanzeiger berichtete darüber: „Selenski überrascht mit Gedankenspielen zur Krim. Widersprüchliche Signale aus Kiew: Der ukrainische Präsident deutete eine nicht-militärische Lösung für die Halbinsel Krim an. Ist er etwa verhandlungsbereit?“ Weiter spekulierte die Zeitung: „Die Krim wäre isoliert vom restlichen Russland, und Moskau könnte sich gezwungen sehen, die Krim letztlich zu demilitarisieren und vielleicht gar aufzugeben.“
Ähnliche Berichterstattungen waren in Deutschland und in anderen europäischen Ländern zu beobachten.
Verhandlungen, oder „Verhandlungen“?
Tatsächlich schien die Nachricht sensationell zu sein. Die Ukraine plötzlich offen für Verhandlungen mit Russland? Und was war plötzlich mit dem „Friedensplan“ und dem Abzug russischer Soldaten als Bedingung für die Verhandlungen? War das eine Sensationsnachricht oder banaler Sensationalismus? Hatte Selenskyj wirklich seine Bereitschaft zu Verhandlungen über die Krim erklärt? Und was würde es in diesem Fall bedeuten, zu verhandeln? Eine Antwort auf diese Fragen lässt sich leicht finden, wenn man die Meldungen ein bisschen aufmerksamer liest.
Das sagte Selenskyj: „Wenn wir an den Verwaltungsgrenzen der Krim sind, denke ich, kann man politisch die Demilitarisierung Russlands auf dem Gebiet der Halbinsel erzwingen“. „Auf diese Art wird es weniger Opfer geben“, so der ukrainische Präsident.
Selenskyj wollte also über eine „Demilitarisierung“ der Krim verhandeln. Wie Selenskyj die „Demilitarisierung“ oder gar die Rückgabe der Krim durch Russland erreichen würde, war aus dem Interview leider nicht klar ersichtlich. Ist es realistisch zu erwarten, dass dies ein diplomatisch erreichbares Ziel wäre, das Russland akzeptieren könnte? Im Winter sprach man noch von der Krim als eine rote Linie für Russland.
Bei Selenskyjs angeblicher Offenheit für Verhandlungen über die Krim, die von den europäischen Medien mit großer Fanfare präsentiert wurde, ging es nicht um den möglichen Status der Krim, sondern eher darum, wie die Krim in die Ukraine zurückkehren würde. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Rückgabe der Krim an die Ukraine theoretisch stattfinden könnte, wäre es dann eine Entscheidung, die den Willen der Bürger der Krim berücksichtigen würde?
Der Wille des Volkes
Denn nicht viele Bürger der Krim scheinen nach neun Jahren als Subjekt der Russischen Föderation in die Ukraine zurückkehren zu wollen. In neun Jahren gab es keinen Versuch der Bevölkerung, sich wieder der Ukraine anzuschließen. Die Bürger auf der Krim nahmen nicht nur am Referendum 2014 teil, sondern wie alle anderen Bürger der Russischen Föderation auch an allen seitdem gehaltenen russischen Wahlen. Und die nach 2014 in der Ukraine umgesetzte Ukrainisierungspolitik würde auf der Krim, wo sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung schon immer russisch gefühlt hat, sicherlich nicht sehr gut ankommen. Die Ukrainisierung der Krim könnte nur gewaltsam erfolgen. Sogar Selenskyj scheint das zu verstehen.
Schon vor 2014 hatte die Krim bereits versucht, sich von der Ukraine unabhängig zu machen. 1991 erlangte die Ukraine ohne große Anstrengungen ihre Unabhängigkeit. Doch die Ukraine – Kiew! – wollte ihren Regionen das nicht weitergeben, was sie selbst erhalten hatte. Die Unabhängigsbestrebungen der Krim wurden von der Ukraine entschlossen abgelehnt, da sie in keiner Weise bereit war, irgendeinen Teil ihres Territoriums abzugeben, auch nicht für eine gewisse Autonomie.
Die Krim steht seit März 2014 de facto unter russischer Kontrolle. In den Augen des Westens war die Maidan-Revolution ein „Volksaufstand“, also ein absolut legitimer und einwandfreier Machtwechsel. Die volonté générale, der allgemeine Wille des gesamten ukrainischen Volkes hätte sich auf diese Weise unmittelbar zum Ausdruck gebracht, so wird argumentiert. Für Russland war die Maidan-Revolution aber ein verfassungswidriger Putsch, da nicht demokratisch zustande gekommen. Im Westen wird diese Interpretation noch immer vehement abgelehnt: die Romantik der Revolution hat keine Zeit für den Buchstaben des Gesetzes.
Viele in der Ukraine waren nach dem Übergang der Krim nach Russland extrem verärgert. Einige Ukrainer schlugen vor, die Wasser- und Stromversorgung einzustellen, um die Krim zur Rückkehr zu zwingen. (Tatsächlich schloss die Ukraine den Nord-Krim-Kanal und beabsichtigte damit die Ausdörrung der Landwirtschaft auf der Krim – und damit den Hunger der dortigen Menschen. Red.) Die Ukrainer behaupteten, dass das Referendum vom März 2014, das den Wechsel der Krim zu Russland sanktionierte, ein Scheinreferendum war. Der Volksentscheid sei international nicht anerkannt worden. Einige meinten sogar, die Wahl sei mit vorgehaltener Waffe durchgeführt worden, wie es in einem Geschichtslehrbuch steht, das in der Ukraine verwendet wird. Man könnte argumentieren, dass ein Referendum, auch wenn es nicht alle Kriterien des Völkerrechts erfüllte, mehr rechtliche Legitimität hätte als eine bewaffnete Revolution wie die des Maidan. Aber nein. Der Westen erkannte die neue Regierung in Kiew sofort an, weigerte sich aber starrsinnig, den Wunsch der Bürger der Krim nach Selbstbestimmung anzuerkennen.
Verhandlungen vielleicht, aber nicht mit Russland
Anfang Oktober vergangenen Jahres hatte Präsident Selenskyj mit einem Dekret sich selbst verboten, Verhandlungen mit Putin zu führen. Nach der Invasion im Februar gab es mindestens drei Verhandlungsversuche zwischen Russland und der Ukraine. Die amerikanische Zeitschrift „The American Conservative“ hat vor einigen Tagen in einem nennenswerten Artikel darüber berichtet. Unmittelbar nach der russischen Invasion waren Selenskyj und die Ukraine einverstanden, über den Status der Krim und des Donbass sowie über die Neutralität der Ukraine zu verhandeln. Die Ukraine zeigte sich bereit, die NATO-Tür, die einen Monat zuvor der amerikanische Staatssekretär Antony Blinken für die Ukraine offen halten wollte, zu schließen.
In Istanbul sei im März 2022 sogar eine Art Einigung zwischen Russland und der Ukraine erzielt worden, wie auch das US-Magazin „Foreign Affairs“ berichtete. Laut Putin, der das Abkommen während des jüngsten Russland-Afrika-Gipfels in St. Petersburg bekannt gab, sei das Friedensabkommen sogar unterzeichnet worden. Die Vereinbarung beinhaltete keine neuen territorialen Verluste der Ukraine außer den Gebieten, die die Ukraine seit 2014 nicht mehr kontrolliert hatte. Aber sowohl in Belarus als auch in der Türkei setzten die USA die Ukraine unter Druck, das Abkommen mit Russland abzulehnen, wie der Artikel in „The American Conservative“ ausführlich zeigt (und nicht nur dieser, siehe unten, Red.) Vor diesem Hintergrund, dem Nein zu Verhandlungen aus Washington und auch aus London, scheint die Möglichkeit von Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland auch heute noch als Fata Morgana. Egal, was die Medien in Europa darüber schreiben und sagen. Es ist ja nicht möglich, Verhandlungen nur mit sich selbst zu führen.
Zum gleichen Thema siehe auch: «Wie es war und wie es mit der Ukraine sein wird …» (auf Globalbridge.ch)
Zu Christian Müllers Berichten über die Krim. Er war 2019 dort und hat mit sehr vielen Menschen – von der Reinigungsfrau im Hotel bis zur Hochschuldozentin – persönlich gesprochen. Niemand will zurück zur Ukraine.
Und hier noch zum sogenannten „Friedensplan“ der Ukraine, der de facto das Verlangen nach einer bedingungslosen Kapitulation Russlands ist: Zum „Friedensplan“ von Wolodymyr Selenskyj auf der offizielen Website seines Präsidialamtes.