34 Staatschefs und Aussenminister: die Teilnehmer an der Konferenz in Paris im November 1990, wo die sogenannte «Charta von Paris» unterzeichnet wurde. © Staatsarchiv

Wird der Ukraine-Krieg zum Verhängnis für die Europäische Union?

Die EU trägt nicht nur eine Mitverantwortung an der sukzessiven Zerstörung der Ukraine. Sie verfolgt zudem auch eine geradezu selbst-zerstörerische Außenpolitik. – «Mit der Überwindung der Teilung Europas werden wir uns um eine neue Qualität unserer Sicherheitsbeziehungen bemühen, wobei wir die diesbezügliche Entscheidungsfreiheit des anderen voll respektieren. Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit eines jeden Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden.» (Charta von Paris für ein neues Europa, 21. November 1990)


In Europa herrscht wieder der Wahnsinn des Krieges. Der Irrglaube, dass nur Waffen Sicherheit bringen können, hat erneut Hochsaison unter europäischen Politikern, in europäischen Denkfabriken und den Medien. Schlimmer noch, die gerade begonnene ukrainische Gegenoffensive soll nun eine militärische Entscheidung bringen, die wir politisch nicht erreichen konnten – oder wollten. Als hätten wir nichts aus der Vergangenheit gelernt, werden in Europa wieder Menschenopfer am Altar angeblicher Entscheidungsschlachten dargebracht.

Damit überlassen wir Europäer die Zukunft der Ukraine und Europas, ja, vielleicht sogar die der Welt, der Unberechenbarkeit, dem Rausch und der Brutalität des Schlachtfeldes. Dabei bleibt völlig unklar, welche ‚Entscheidung‘ mit der nun stattfindenden Intensivierung des Krieges überhaupt erreicht werden könnte. Einen Frieden in Europa wird das sicherlich nicht bringen.

Denn dieser Krieg ist zunehmend ein Krieg zwischen Russland und der NATO geworden, indem Nuklearwaffen eine entscheidende Rolle in den militärischen Kalkulationen spielen. Niemand kann sagen, wo bei einer derartigen „Entscheidungsschlacht“ die roten Linien liegen, ab denen es zu einer nuklearen Eskalation kommen würde. Damit setzen wir nicht nur uns, sondern die Menschheit einer unkalkulierbaren Gefahr aus – und das für einen Konflikt, der eigentlich diplomatisch hätte gelöst werden können. 

Die Möglichkeit einer auf Vernunft und gegenseitigem Verständnis basierenden friedlichen Lösung des dem Krieg zugrundeliegenden Konfliktes über die Ausweitung der NATO zu finden, scheint in der nun herrschenden kriegerischen Atmosphäre in Europa nicht in Betracht gezogen zu werden. Diese erschreckende Unverantwortlichkeit können wir Europäer nicht nur Russland oder den Vereinigten Staaten anlasten. Auch die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten tragen eine Verantwortung für die Katastrophe, die nun Europa befallen hat – vielleicht sogar die maßgebende Verantwortung.

Die 27 EU-Mitglieder stellen die große Mehrheit unter den NATO-Mitgliedern. So hätte die EU sehr wohl ihren Einfluss einsetzen können und müssen, um diesen Krieg zu verhindern und, als er einmal ausgebrochen war, um ihn so schnell wie möglich zu beenden. Es wäre doch im ureigensten Interesse der EU gewesen, in dem über den bereits seit 1994 sich anbahnenden Konflikt auf dem europäischen Kontinent über die Ost-Erweiterung der NATO, zwischen dem geopolitischen Interesse der USA ihre globale Dominanz zu behaupten und der Angst Russlands militärisch von der NATO eingekreist und vom Zugang zum Schwarzen Meer abgeschnitten zu werden, zu vermitteln. Als es zum Krieg kam, hätte sich die EU unterstützend hinter die ukrainisch-russischen Friedensverhandlungen im März/April 2022 stellen müssen; der Krieg hätte so bereits nach einem Monat beendet werden können. Beides ist aber nicht geschehen.  

Einen Waffenstillstand lehnt die EU ab

Obwohl es warnende Stimmen innerhalb der EU gab und gibt, hatte die EU als Gemeinschaft seit 1994 nicht nur die Ost-Erweiterung der NATO uneingeschränkt unterstützt, sondern in deren Schatten auch eine Ost-Erweiterung der EU betrieben. Dabei war allen zuständigen europäischen Politikern klar, dass sie damit Europa auf einen Konfrontationskurs brachten. Mit dem Ausbruch des Krieges hat sich die EU nach anfänglichem Zögern sogar zu einer militärischen Eskalation des Konflikts hinreißen lassen, die heute selbst jene der USA übertrifft. So haben mehrere Länder der EU die ukrainischen Angriffe auf russisches Territorium als legitim bezeichnet, obwohl die USA strikt dagegen sind. Und während sich die USA mit derartigen Waffensystemen eher zurückhält, liefern Länder der EU gemeinsam mit Großbritannien die modernsten Panzer, Kriegsdrohnen, Langstreckenraketen und Uranium-Munition. Und es ist eine europäische Koalition, die nun F-16 Kampfflugzeuge der Ukraine zur Verfügung stellen will. Sogar die EU-Kommission ist zum Waffenlieferanten abgestiegen; ironischerweise werden ihre milliardenschwere Munitionskäufe für die Ukraine über die Europäische Friedensfazilität (EFF) finanziert. 

Dabei sollte doch Frieden und nicht Krieg das Hauptanliegen der EU sein. Dennoch hat die EU weder einen eigenen Friedensplan entwickelt noch eine diplomatische Friedensinitiative unternommen und lehnt selbst einen Waffenstillstand strikt ab. Die EU besteht weiterhin auf der Maximalforderung des Zelensky Friedensplans, dass Russland erst einmal militärisch besiegt werden und das gesamte ukrainische Gebiet in den Grenzen von 1991 (einschließlich der Krim) zurückerobert werden müsse, bevor es zu Verhandlungen kommen könne. Damit steht die EU allein in der Welt. Keine der großen Regionalorganisationen der Welt, ob nun die G20, die BRICS-Staaten, die Staaten Zentralasiens, die Shanghai Cooperation Organisation, ASEAN, Afrikanische Union, OIC oder CELAC, unterstützen eine derartige Forderung. Sogar die USA zeigen sich zunehmend skeptisch. Stimmen einflussreicher US-Politiker werden stärker, die für einen Verhandlungsfrieden mit Russland über die Zukunft der Ukraine plädieren.

Dieser von der EU eingeschlagene Weg der Konfrontation und Eskalation war in keiner Weise vorgezeichnet oder gar unumgänglich. Im Jahr 1990, also nur ein Jahr nach dem Ende des Kalten Krieges, hatten sich alle europäischen Staaten, sowie die USA und Kanada, in der Charta von Paris für ein neues Europa feierlich verpflichtet, ab nun ein gemeinsames friedliches Europa, das vom Pazifik bis zum Atlantik reicht – also Russland miteinschließt – aufzubauen; ein Europa, dass frei von Kriegen und militärischen Blockbildungen ist. Die Sicherheit eines jeden Staates in Europa, so die Charta, solle nun untrennbar mit der aller anderen Staaten verbunden sein und auftretende Konflikte nur noch entsprechend der UN-Charta friedlich beigelegt werden. In anderen Worten, nur durch ein Miteinander und nicht ein Gegeneinander sollte von nun an in Europa ein dauerhafter Frieden geschaffen werden. Für die NATO war dabei keine Rolle vorgesehen; in der Charta von Paris wurde sie nicht ein einziges Mal erwähnt.

Ein Europa im Geiste der NATO

Und doch hat die EU schon früh die Charta von Paris für ein gemeinsames friedliches Europa aufgegeben und sich für ein Europa entschieden, das von der NATO, einem Militärbündnis aus dem Kalten Krieg, beherrscht wird. Eine solch drastische Umorientierung war nicht im Interesse Europas. Dass die EU auf Druck der USA agierte, die dazu die Unterstützung einiger osteuropäische Staaten mobilisiert hatte, darf keine Ausrede sein. Die Charta bot doch gerade einem Europa, dass durch zwei Weltkriege und einem Kalten Krieg gelitten hatte, eine neue friedliche gesamteuropäische Perspektive. Europa war aus der Zwangsjacke des Eisernen Vorhangs und der ständigen Gefahr eines Nuklearkrieges auf europäischen Boden befreit. Es herrschte zum ersten Mal seit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges ein wirklicher Frieden.

Es bestanden auch keine militärischen Gefahren mehr, die eine intensiv betriebene Ausweitung der NATO hätten rechtfertigen können. Russland war nach der Auflösung der Sowjetunion in ein internes Chaos verfallen und China spielte damals weder wirtschaftlich noch militärisch eine Rolle. Es war das Vorrücken der NATO an die Grenzen Russlands, das die militärische Gegenreaktion Russlands ausgelöst hatte und nicht umgekehrt.

Gerade im Hinblick auf den Ukrainekonflikt hätten es die europäischen Staaten aus ihren eignen schmerzhaften Erfahrungen heraus besser wissen müssen. Bereits im Ersten und Zweiten Weltkrieg war die Kontrolle des Gebietes, welches heute die Ukraine ausmacht, für Russland/Sowjetunion und das Deutschen Reich von hoher strategischer Bedeutung und wurde deshalb stark umkämpft. Die nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms ausgetrockneten Flussbett des Dneprs gefundenen sterblichen Überreste deutscher Wehrmachtssoldaten sind Zeugen dieser schrecklichen kriegerischen Auseinandersetzungen in diesem Gebiet einst und heute.

Geht es der EU um den Erhalt und die Stärkung der Ukraine?

Damals wie heute hatte jede Seite sich der inneren Spaltungen unter der dortigen Bevölkerung zunutze gemacht. Auch nach der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 zeugten die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen regelmäßig von der tiefen Spaltung des Landes in zwei etwa gleichgroße pro-ukrainische und pro-russische Bevölkerungsteile. Eine Spaltung, die auch das Land geographisch zwischen der West- und Zentralukraine einerseits und der Ost- und Südukraine anderseits teilt. Bei den letzten gesamtukrainischen Wahlen in 2010 und 2012, an der noch die Krim und der Donbass teilnahmen, gab es sogar eine knappe Mehrheit für einen pro-russischen Präsidenten und pro-russische Parlamentsabgeordnete.

Wäre es der EU wirklich um den Erhalt und Stärkung der Ukraine gegangen, hätte sie den Zusammenhalt und das Harmoniebestreben zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen unterstützen müssen. Die EU hätte die Fortsetzung des Projekts einer binationalen und föderalen Ukraine, wie es 1991 proklamiert wurde, mit aller Kraft fördern sollen. Sie hat das Gegenteil gemacht und sich auf die Seite einer von einem mono-ethnisch ukrainischen Nationalismus geprägten Politik gestellt.

Bei den Verhandlungen über ein Assoziierungsabkommen mit der EU im Jahr 2013 stellte der damalige EU-Kommissionspräsident, José Barroso, die Ukraine vor die Alternative: sich entweder der EU anzunähern und mit Russland zu brechen oder auf jede enge Kooperation mit der EU zu verzichten. Beides, so argumentierte er, ließe sich nicht vereinbaren. Warum eigentlich nicht? Eine Brückenfunktion zwischen Russland und Zentralasien einerseits und der EU anderseits wäre von großem politischem und wirtschaftlichem Vorteil für die Ukraine wie auch der EU gewesen. So wurde aber die spaltende Haltung der EU zum Auslöser des gewaltsamen Sturzes eines gewählten Präsenten, was eine Entwicklung in Gang setzte, die letztlich zum Krieg führte.

Unter ständigen Beteuerungen der Ukraine helfen zu wollen, trägt die EU nun dazu bei, dieses europäische Land zu zerstören. Die von der EU gelieferten Waffen verlängern nicht nur den Krieg, sondern führen ebenso wie russische Waffen zu Tod und Zerstörung auf ukrainischem Territorium. Heute dürften die Ukraine nicht nur das zerstörteste, sondern auch das politisch am tiefsten gespaltene Land Europas sein. Nach anderthalb Jahren Krieg ist die Ukraine, schon vor dem Krieg das ärmste Land Europas, noch tiefer in die Armut und Verschuldung getrieben und zugleich zum am höchsten militarisierte Land Europas geworden. Die ukrainische Wirtschaft ist am Boden und von Korruption geplagt. Hinzu kommt, dass die Ukraine ein Land mit einer stark schrumpfenden Bevölkerung ist. Und die Ukraine könnte nun bis zu 20% ihres Territoriums sowie den freien Zugang zum Asowschen und Schwarzen Meer verlieren. Wie kann unter solchen Bedingungen die Ukraine als Staat überleben?  

Selbst-zerstörerische Außenpolitik

Die EU trägt nicht nur eine Mitverantwortung an der sukzessiven Zerstörung der Ukraine. Sie verfolgt zudem auch eine geradezu selbst-zerstörerische Außenpolitik. Sie wird dazu führen, dass die EU über viele Jahre, vielleicht sogar über Jahrzehnte hinweg den Zugang zu den wirtschaftlich attraktiven Rohstoffen und Energiequellen Russlands und Zentralasiens verliert und vom Landzugang zu den großen Wachstumsregionen Asiens abschnitten wird. Um sich von einer Abhängigkeit zu befreien, scheint die EU nun in eine viel teurere und ungünstigere Abhängigkeit geraten zu sein. Das wird sich nachteilig auf den EU-Wirtschaftsstandort auswirken.  

Auch mit ihrer Sanktionspolitik scheint die EU die globalen Veränderungen zu ignorieren. Der Anteil der EU an der Weltbevölkerung liegt unter 5%, Tendenz abnehmend. Auch der EU-Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung beträgt heute nur noch 15%, Tendenz ebenfalls abnehmend. Der Anteil der BRICS-Staaten allein an der Weltbevölkerung liegt bei 40% und steigt, der an der globalen Wirtschaftsleistung bei 32% und auch dieser wächst. Und nicht nur das: Im Zuge des Ukrainekrieges haben die Staaten des Globalen Südens eine erheblich selbstbewusstere Haltung eingenommen, die die Vormachtstellung des Westens, und damit auch der EU, in Frage stellt. China, Indien, Indonesien und andere asiatische Staaten rücken in der Ukrainefrage nicht zusammen, weil sie sich plötzlich lieben, sondern weil sie eine Ausweitung der NATO in Richtung Zentralasien verhindern wollen.

Unberührt von den globalen Veränderungen schnürt die EU-Kommission gerade ihr 11. Sanktionspaket und will nun auch Drittländer und deren Unternehmen dafür bestrafen, mit Russland Handelsbeziehungen zu haben. Und als sei das nicht genug, glaubt die EU auch China ins Visier nehmen zu können. Welche Arroganz. Denn die EU hat längst die politische und wirtschaftliche Macht verloren, um solche wirtschaftlichen Drohungen auch durchsetzen zu können. Die Sanktionen werden daher vornehmlich die eigene Wirtschaft treffen.

Der nächste Präsident der USA muss nicht unbedingt Trump heißen, aber man kann davon ausgehen, dass sich die USA spätestens nach der Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr vom teuren Ukraineabenteuer verabschieden werden. Dann wird die Europäische Union die ganze Wucht ihrer fehlgeleiteten Außenpolitik treffen. Die EU wird Teil eines Europas sein, das erneut durch einen Eisernen Vorhang geteilt ist, der von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reicht und durch Sanktionen undurchlässiger sein könnte als alles, was wir noch aus den Zeiten des Kalten Krieges kennen.

Die EU wird auf diesen Kontinent mit einer zerstörten Ukraine leben müssen, die ein enormes langfristiges Finanzloch darstellt, und vielleicht auch mit einem destabilisierten Russland, das durch seine 6.000 Nuklearsprengköpfe eine permanente Gefahr ist. Während die Wirtschaft der EU-Staaten von diesen Veränderungen schwer angeschlagen sein könnte, wird es auch die EU sein, die für die enormen Folgekosten dieses Krieges aufkommen muss. Das wird zu sozialen Problemen innerhalb von EU-Mitgliedsstaaten führen, die sich verstärkt in politische und soziale Gewalt entladen können.

Um eine derartige Entwicklung zu verhindern, muss die Europäische Union aus ureigenstem Selbstinteresse heraus ihr selbstgerechtes und moralisch überhebliches Kriegsnarrativ abgelegen, sich von der Militarisierung ihrer Außenpolitik verabschieden und aufhören in der NATO-Erweiterung ihre Sicherheit finden zu wollen. Die Europäische Union muss zu einer Sprache des Friedens zurückfinden sowie einen Friedensplan für Europa entwickeln, der Russland und Ukraine miteinschließt und an der «Charta von Paris» für ein neues Europa anknüpft.

Damit würde die EU nicht nur ein weiteres Blutvergießen in Europa verhindern, der Gefahr der inneren Auflösung der europäischen Gemeinschaft vorbeugen und ihren wirtschaftlichen Niedergang vermeiden. Sie würde auch ihre Stellung in der Welt als europäisches Friedensprojekt, als das sie nach dem Zweiten Weltkrieg einmal konzipiert war, enorm verbessern. Dazu wird sie Mut brauchen – Frieden braucht sehr viel Mut.

Dieser Beitrag erschien erstmals auf der Plattform Makroskop.

Zum Autor: Michael von der Schulenburg studierte in Berlin, London und Paris und arbeitete für die Vereinten Nationen und kurz darauf für die OSZE, unter anderem als UN Assistent Secretary-General in vielen Krisengebieten der Welt, wie in Haiti, Afghanistan, Pakistan, Iran, Irak, Syrien, auf dem Balkan, in Somalia, Sierra Leone und der Sahelzone.

Siehe dazu auch «‹Charta von Paris›: nicht vergessen, sondern vergessen gemacht» (von Christian Müller)