So kommentierten am Montag die Zeitungen des Schweizer Medien-Konzerns CH-Media auf ihren Frontseiten: eine Kombination aus Wunschdenken und Schadenfreude. (Screenshot)

Wie weiter in Russland? Wenn des Westens Wunschdenken stärker ist als die sorgfältige Analyse

Nicht dass die Meuterei des Wagner-Chefs Prigoschin schnell beendet und dass damit ein blutiger Zusammenstoss und möglicherweise sogar ein russischer Bürgerkrieg mit unabsehbaren Folgen – auch für die umliegenden Länder! – verhindert werden konnte, war das Thema der deutschsprachigen Medien am Wochenende, sondern fast ausschließlich die Frage, wie sehr der russische Staatspräsident Wladimir Putin dabei an Macht und Einfluss verloren hat. Das Wunschdenken der westlichen Kommentatoren war dabei unübersehbar. Ein weitsichtigerer Kommentar kam aus den USA.

«Wagner-Spuk vorbei», so titelte Peter Hänseler, der in Moskau lebende Schweizer, seinen sehr persönlichen Bericht vom Montag auf seinem Blog «Stimme aus Russland», und er ergänzte im Vorspann, im sogenannten Lead: «Eine mehr als gefährliche Situation für Russland wurde unkonventionell und schnell gelöst – beeindruckend.» Und weiter wörtlich: «Als ich am Samstag bei einem Spaziergang erfuhr, dass Prigoschin mit seiner Wagner-Gruppe meuterte, überkam mich grosse Angst. Ich rief meinen Partner Denis Dobrin an und erbat, innerhalb dreier Stunden alle Informationen zusammenzutragen, welche erhältlich waren. Danach verliessen mein Mit-Autor René Zittlau und ich einen Museumsbesuch mit unseren Frauen und wir gingen direkt in unser Büro. 

Mir kamen als erstes Hinweise eines italienischen Freunds in den Sinn, welcher mich seit Januar immer wieder darauf aufmerksam gemacht hatte, dass ihn die aggressiven Aussagen Prigoschins gegen die militärische Führung Russlands besorgten. Ich muss zugeben, dass ich diese Sorgen nicht teilte und somit die Gefährlichkeit der Situation total unterschätzt hatte. Das soll mir eine Lehre sein.»

Und weiter Peter Hänseler: «Im Büro lasen wir alles, was wir in die Hände bekamen, und versuchten, uns einen Reim zu machen. Wir entschieden uns dafür, in unserem Kurzbeitrag «Putsch, Bürgerkrieg oder Finte? «eine Auslegeordnung zu verfassen. Zuerst beschrieben wir den Sachverhalt im Telegrammstil, berichteten über die Videobotschaft von General Surovikin und analysierten die Rede Präsident Putins. Die Möglichkeit, dass es sich um eine Finte Präsident Putins handelte, eine Variante, welche in den sozialen Medien herumgereicht wurde, erledigte sich unseres Erachtens nach der Rede von Präsident Putin. Betreffend der Gründe für dieses Himmelfahrtskommando waren wir uns ziemlich sicher, dass Prigoschin die (verlangte, Red.) Unterstellung der Wagner-Gruppe unter die Befehlsgewalt des Verteidigungsministeriums nicht akzeptieren konnte und sich zu dieser – unseren Erachtens – Wahnsinnsstrategie hinreissen liess. 

Nie waren wir der Meinung, dass sich Prigoschin militärisch durchsetzen könnte – dafür ist die Wagner-Gruppe einfach zu klein. Auch glaubten wir nicht, dass die Bevölkerung oder das Militär sich Prigoschin anschliessen würden. Die Kolonne von 25.000 Wagner-Soldaten bewegte sich jedoch in Windeseile Richtung Moskau, durchbrach Strassensperren und schien zu allem bereit. Hier ist anzumerken, dass diese Söldner und ihr Führer seit über einem Jahr in brutale und blutige Häuserkämpfe (in der Ukraine, Red.) verwickelt waren. Dieses Handwerk hat Einflüsse auf die Menschen und kann zu nicht-rationalen Aktionen oder sogar zu regelrechten Irrsinnstaten führen – das war nun Realität.

Nach der Publikation unseres Artikels begaben wir uns in ein Restaurant und versuchten mit unseren Frauen ein Nachtessen zu geniessen, was uns sehr schwer viel. Tausende Wagner-Soldaten in der Stadt Moskau wäre ein absoluter Albtraum gewesen. Um ca. 19.30 Uhr informierte uns aber Denis, Prigoschin habe seine Kolonne umgedreht und sei auf dem Weg zurück nach Rostov am Don. Wir konnten das Glück kaum fassen und waren baff. Wir waren sehr erleichtert. 

Was war geschehen, dass eine Katastrophe noch abgewendet werden konnte? Wir erfuhren, dass Präsident Putin einmal mehr die nicht-blutige Lösung gesucht und wohl gefunden hatte. Es wird seine Zeit dauern, bis Details an die Öffentlichkeit kommen werden, wie – unter kundiger Mithilfe Präsident Lukashenkos – eine diplomatische Lösung so kurz vor einem Blutbad gefunden wurde. Wir hatten danach einen grossartigen Abend – da waren eine Russin, eine Ukrainerin, ein Deutscher und ein Schweizer – alle glücklich.

Nicht überrascht waren wir dann über die Beiträge der westlichen Presse am Wochenende: Die Macht Präsident Putins am Ende, das sei der Beweis, dass Russland morsch und schwach sei. Doch wen kümmert dieses hilflose Geschrei. Die Ordnung ist zurückgekehrt und es gibt sicher nur wenige Russen, welche diesen Ausgang nicht begrüssen. Ob dieser kurze Sturm auf die russische Führung beziehungsweise auf die militärische Situation in der Ukraine einen Einfluss haben wird, ist nicht absehbar. Wir werden das beobachten und versuchen uns – wie immer – von Spekulationen fernzuhalten; das überlassen wir anderen.»

Soweit Peter Hänseler auf seiner «Stimme aus Russland».

«Putin ist angezählt.»

In den Kommentaren und TV-Talkshows am Sonntag in Deutschland und in der Schweiz überwog denn auch tatsächlich die Meinung, dieses Ereignis werde Russlands Präsident Wladimir Putins Position massiv schwächen – und die Freude darüber war unübersehbar. Kurt Pelda etwa, der als Sonderberichterstatter für den Schweizer Medien-Konzern CH-Media immer wieder in die Ukraine reist, durfte einen Leitartikel für die Montagsfrontseite der konzerneigenen Zeitungen schreiben, der auf diese Schlussfolgerung hinauslief: «Putin ist angezählt, und der lachende Dritte ist die Ukraine. Der Aufstand gegen die russische Armeeführung sollte nun auch dem letzten Putin-Versteher klar gemacht haben, dass dieses zerstrittene Russland den Krieg in der Ukraine nicht gewinnen kann.»

Selbst der auf Osteuropa spezialisierte Professor Ulrich Schmid von der Universität St. Gallen sagte in einem Gespräch mit der Moderatorin vom «Echo der Zeit» vom Schweizer Radio SRF am Sonntagabend sogar zweimal «Putin ist entscheidend geschwächt», oder an anderer Stelle «Die Autorität von Putin ist nachhaltig beschädigt worden», die «Zeit Putins als Garant für Sicherheit und Stabilität ist vorbei».

Eine gute Nachricht für den kollektiven Westen?

Gibt es guten Grund, sich über eine Schwächung Putins zu freuen? Deutlich differenzierter und vorsichtiger – und auch weiser – als die meisten deutschsprachigen Medien kommentierte Katrina vanden Heuvel, die Witwe des leider im Jahr 2020 an Krebs zu früh verstorbenen Russistik-Professors Stephen F. Cohen und heutige Herausgeberin der US-amerikanischen – ältesten – Wochenzeitschrift «The Nation», die Meuterei von Prigoschin. Daraus ein kurzer Auszug:

«Aus den (obsessiv) verfolgten Tweets und den giftigen TV-Auftritten der letzten Tage – bei denen ein aus beiden US-Parteien bestehender Haufen einen schon fast faschistischen Mann fürs Grobe bejubelte – wird deutlich, dass viele hier in den USA und im übrigen Westen eine solche Entwicklung (ein Auseinanderbrechen Russlands, Red.) begrüßen würden. Aber wir sollten uns auch der großen Risiken und Gefahren bewusst sein, die ein Zerfall des russischen Staates mit sich bringen würde. Es besteht dann die erschreckende Möglichkeit, dass Russland die Kontrolle über seine Atomwaffen verliert. Es gibt die humanitäre Katastrophe einer neuen Flüchtlingskrise. Es besteht auch die reale Möglichkeit, wie russische Freunde warnen, dass es zu neuen Repressionswellen kommt: die Sperrung des Internetzugangs, die Einführung von mehr Zensur, die Aufnahme neuer Gruppen auf die Liste der ausländischen Feinde.

Die Folgen des Showdowns bieten Präsident Biden und der NATO sowohl Chancen als auch Gefahren. Vorsicht sollte das Gebot der Stunde und das Leitprinzip der Politik sein. Washington täte gut daran, den tief verwurzelten russischen Verdacht (der nicht ganz unbegründet ist), dass die USA oder die NATO versuchen werden, die gegenwärtigen Turbulenzen auszunutzen, nicht zu schüren. Viel wichtiger ist es, eine Überreaktion in Moskau zu verhindern, sich ernsthaft um eine Stabilisierung der Beziehungen zu Russland zu bemühen und diesen Moment zu nutzen, um eine friedliche Lösung des Ukraine-Krieges zu finden.»

Katrina vanden Heuvel sei Dank!

Noch einmal: «Vorsicht sollte das Gebot der Stunde und das Leitprinzip der Politik sein.» Das ist eine äusserst kluge und sinnvolle Empfehlung an die US-Politik – und auch die Europäer sollten diese Empfehlung beherzigen. Freude über eine mögliche Schwächung Putins kann nur auf Unkenntnis der russischen Gesellschaft basieren, auf totaler Missachtung der Gefahr, dass so Nuklearwaffen in verantwortungslose Hände geraten können, auf bewusster Unterstützung des US-Anspruchs auf die militärische Beherrschung unseres ganzen Planeten, und auf – bewusster oder unbewusster – Unterstützung des neoliberalen Wirtschaftssystems, das die Reichen reicher und die Armen ärmer werden lässt – siehe die Wirtschaftszahlen der letzten Jahre.

Nochmal Katrina vanden Heuvel, schon im ersten Abschnitt ihres Kommentars: «Soon after the news broke, a Russian friend e-mailed me, “What I’m most concerned about is Russia in chaos with nukes, and someone worse than Putin coming to power.” Zu deutsch: «Kurz nach Bekanntwerden der Nachricht (über die Meuterei Prigoschins, Red.) mailte mir ein russischer Freund: „Was mir am meisten Sorgen macht, ist, dass Russland mit Atomwaffen im Chaos versinkt und dass jemand an die Macht kommt, der übler ist als Putin.“»

Genau. Putins Entscheid, die russischen Privatarmeen unter die Führung des Verteidigungsministeriums zu stellen, war richtig. Und wir müssen hoffen, dass die Zeit Putins als Garant für Sicherheit und Stabilität nicht vorbei ist.

Siehe dazu Putins neuste kurze Rede vom Montag um 22 Uhr Moskauer Zeit.