Wie soll man ein Land und seine Bürger achten, die einen solchen Mann zum Bundeskanzler wählen? Einen Mann, dem die Zerstörung Russlands die Zerstörung der eigenen Wirtschaft wert ist? Und der die Bombardierung des Irans durch Israel und die USA gutheißt? Friedrich Merz, der Deutschland wieder zu einer militärischen Großmacht machen will. (Bild ZDF)

Wie Russen heute Deutschland sehen

(Red.) Stefano di Lorenzo, geboren in Italien, an deutschen Universitäten ausgebildet und jetzt in Russland lebend, ist nachgerade prädestiniert, die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland mit unabhängigen Augen zu betrachten und zu beurteilen. Viele Russen haben Deutschland trotz dem Zweiten Weltkrieg, der von Deutschland begonnen wurde und der die damalige Sowjetunion um die 27 Millionen Kriegsopfer gekostet hat – gut die Hälfte davon Zivilisten – hoch geachtet, ja fast bewundert. Die US-hörige Politik Deutschlands und die vor allem seit 2007 immer deutlicher spürbare Russophobie in Großbritannien, in den USA und eben speziell auch in Deutschland – Josef Joffe lässt grüssen –, hat diese Hochachtung nun allerdings gründlich zerstört – mit gutem Grund. (cm)

Vor wenigen Tagen machte eine Aussage des russischen Außenministers Sergej Lawrow während einer Pressekonferenz in Bischkek, Kirgisistan, wieder die Runde: Emmanuel Macron und Friedrich Merz, die Staatschefs Frankreichs und Deutschlands, sollen laut dem Chef der russischen Diplomatie „ein für alle Mal den Verstand verloren haben“ und sie würden versuchen, die imperialen Träume von der Eroberung Russlands wiederzubeleben. Lawrow reagierte damit auf einen Artikel, den der französische Präsident Emmanuel Macron und der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz vor dem NATO-Gipfel in Den Haag gemeinsam verfasst hatten und der in der „Financial Times“ erschienen war. Darin forderten sie eine europäische Aufrüstung und bezeichneten Russland als die größte Bedrohung für den Kontinent.

Den beiden europäischen Staatschefs zufolge sei das Ziel Russlands, die europäische Sicherheit zu untergraben: Russland versuche methodisch, „seine Nachbarn zu bevormunden“, „die europäischen Länder zu destabilisieren“ und „die Weltordnung in Frage zu stellen“. Die beiden Staatschefs wollten eine starke Haltung einnehmen: „Wir können das nicht akzeptieren, denn unser Ziel ist es, den Frieden auf unserem Kontinent zu schützen und zu bewahren. Solange die derzeitige Entwicklung anhält, wird Russland in Frankreich und Deutschland auf eine unerschütterliche Entschlossenheit stoßen. Es geht um die Stabilität Europas für die kommenden Jahrzehnte.“

Lawrow stellte eine direkte Verbindung zwischen dem Ton des Leitartikels und dem, was er als historisches Muster der deutsch-französischen Aggression gegen Russland bezeichnete, her. „Sie versuchen, zu den Tagen zurückzukehren, als Frankreich und Deutschland ganz Europa erobern wollten, insbesondere das Russische Reich und die Sowjetunion“, sagte Lawrow. Der Verweis war unmissverständlich: die napoleonische Invasion von 1812 und Hitlers Operation Barbarossa im Jahr 1941.

Auch die späteren Äußerungen des deutschen Bundeskanzlers in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung blieben in Russland nicht unbemerkt. Merz sagte, dass viele Deutsche einen Krieg mit Russland befürchten, was er verstehe, aber nicht teile. Merz betonte zwar, dass es wichtig sei, durch Diplomatie Frieden zu suchen, hob aber auch die Notwendigkeit einer realistischen Sicht auf „Russlands imperiale Ambitionen“ hervor und verwies auf die gescheiterte Beschwichtigungspolitik gegenüber Nazi-Deutschland vor dem Zweiten Weltkrieg, einen Fehler, der sich seiner Meinung nach nicht wiederholen dürfe. In Russland wurde dies zur Kenntnis genommen. „Auch Hitler hatte keine Angst“, kommentiert Nikolaj, ein Herr um die 50. „Merz ist ein würdiger Enkel seines faschistischen Großvaters!“, sagt Lisa, eine ältere Dame.

Die Äußerungen des russischen Außenministers und anderer Russen waren kaum diplomatisch. Aber in einer Welt, die auf einen größeren Konflikt zusteuert, erschienen sie nicht ungewöhnlich. Deutschland war bis vor einigen Jahren ein Land, das von vielen Russen als Vorbild für Wohlstand, Disziplin und kulturelle Raffinesse angesehen wurde, das Land von Mercedes und Audi, aber auch von Beethoven, Rammstein und gutem Bier. Diese Bewunderung ist neulich oft zu Misstrauen, Feindseligkeit, Verachtung und ideologischer Entfremdung umgeschlagen.

Vom Partner zum Gegner

Nach dem Ende des Kalten Krieges war es fast schon zur Selbstverständlichkeit geworden: Zwischen Russland und Deutschland gebe es eine „besondere Beziehung“.

„Die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland nach 1991 waren in der Tat speziell“, sagt Stanislaw Tkachenko, Professor für Internationale Beziehungen an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg. „Es waren keine warmen Beziehungen, aber es waren positive Beziehungen.“

Zwar gab es auch Spannungen, doch die Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Energie und Kultur blühte. Im September 2001 hielt ein junger Putin, der seit weniger als zwei Jahren im Amt war, als erster ausländischer Staatschef eine Rede vor dem Bundestag in deutscher Sprache. Für einige galt Putin damals sogar als „Deutscher im Kreml“.

Die Nord Stream-Pipeline – und später ihr unglückseliger Nachfolger Nord Stream 2 – symbolisierten diese pragmatische gegenseitige Abhängigkeit. Deutsche Bundeskanzler von Helmut Kohl bis Angela Merkel wurden in Moskau nicht nur als westliche Staatschefs, sondern als vernünftige Gesprächspartner wahrgenommen.

Bis 2021 war Deutschland nach China der zweitgrößte Handelspartner Russlands. Deutsche Industriegiganten wie Siemens, Volkswagen und BASF waren an vielen Orten in Russland tätig. Russische Touristen besuchten Berlin oder München, russische Studenten und Studentinnen waren oft zu sehen an deutschen Unis, Kulturaustauschprogramme und gemeinsame Hochschulabschlüsse förderten das gegenseitige Verständnis, deutsche Ingenieure arbeiteten in Sankt Petersburg und Jekaterinburg. Die gebildeten Schichten Russlands bewunderten die deutsche Ordnung. 

Doch viele in Deutschland, insbesondere diejenigen, die dem Transatlantischen Netzwerk nahestanden – einem einflussreichen Netzwerk von Organisationen und Think Tanks, das die institutionelle und ideologische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den USA fördert und dessen Einfluss nicht zu unterschätzen ist –, betrachteten die pragmatischen Beziehungen zwischen Russland und Deutschland mit Verachtung. 

Die ersten unüberwindbaren Risse in der Beziehung traten wohl bereits 2013 zutage, als Russland und Deutschland unterschiedliche Vorstellungen über die Zukunft der Ukraine hatten: Deutschland wollte die Ukraine fest im europäischen Block und schließlich in der Europäischen Union verankert sehen, während Russland nicht zulassen wollte, dass die Ukraine aus seinem Orbit herausgerissen wurde. Als jedoch der wirtschaftliche und ideologische Krieg zu einem Krieg im Donbass eskalierte, setzte sich der Pragmatismus durch, und Deutschland konnte – zusammen mit Frankreich – in Minsk weiterhin so tun, als könnte es als Vermittler zwischen der neuen ukrainischen Revolutionsregierung, den pro-russischen Separatisten und Russland auftreten. Die Minsker Vereinbarungen erwiesen sich jedoch als schwaches Abkommen, auch wegen der Laxheit, mit der Frankreich und Deutschland ihre Rolle als Garanten interpretierten. In Russland hat man die Aussagen Merkels diesbezüglich nicht vergessen. Als klar wurde, dass die Ukraine selbst unter dem neuen Präsidenten Selensky nicht wirklich an der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen interessiert war und die europäischen Partner der Ukraine nicht bereit waren, etwas dagegen zu unternehmen, sah sich Russland im Februar 2022 gezwungen, zu intervenieren.

Die Zeitenwende

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz kündigte unmittelbar nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine eine „Zeitenwende” an, doch nur wenige Russen konnten sich vorstellen, was dieser Wandel bedeuten würde. Zunächst wurde das Zögern Deutschlands, Waffen zu liefern, als mögliche Brücke für den Dialog wahrgenommen. Doch das änderte sich schnell. 2024 war Deutschland nach den USA zum zweitgrößten Waffenlieferanten der Ukraine. Panzer, Raketen und Ausbildungsmissionen ersetzten Gaspipelines und Diplomatie.

Für die Russen war diese Wandlung schockierend. Das Land, das einst „Nie wieder Krieg“ gelobt hatte, rüstete nun auf und konfrontierte Moskau, und zwar mit einer moralisierenden Rhetorik, die in der russischen Öffentlichkeit zunehmend an die Propaganda des Kalten Krieges erinnerte.

Die Wahrnehmung Deutschlands unter den normalen Russen hat sich radikal verändert. Bis 2022 schätzen viele Russen deutschen Fleiß, deutsche Qualität und deutsche Kultur. Aber laut einer Umfrage des Levada-Zentrums, einer unabhängigen russischen Meinungsforschungsorganisation, aus dem Jahr 2024 haben nun 62 % der Russen eine negative Meinung von Deutschland, verglichen mit nur 28 % im Jahr 2019. 

Die Geister von 1941

Es ist unmöglich, die russische Wahrnehmung Deutschlands zu verstehen, ohne die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg – oder, wie er in Russland genannt wird, den Großen Vaterländischen Krieg – heranzuziehen. Die Invasion der Nazis und der Verlust von 27 Millionen sowjetischen Menschenleben prägen weiterhin das historische Bewusstsein Russlands. Der Tag des Sieges am 9. Mai ist nach wie vor der heiligste Feiertag des Landes, und Verweise auf den „Faschismus” sind emotional stark aufgeladen.

Seit 2022 greifen die russischen Medien zunehmend auf dieses emotionale Reservoir zurück. Der Vergleich zwischen der Unterstützung der Ukraine durch das moderne Deutschland und der Nazi-Invasion von 1941 wird regelmäßig gezogen. Deutsche militärische Hilfe wird oft als eine Form des „Neonazismus“ bezeichnet, und Deutschland wird so dargestellt, als würde es erneut Streitkräfte aufrüsten, um Russland anzugreifen.

Einige Sendungen gehen sogar so weit, den Konflikt in der Ukraine als eine moderne Schlacht von Kursk oder Stalingrad darzustellen – nicht nur als geopolitischen Kampf, sondern als Zivilisationskrieg um das Überleben Russlands.

Aber deutsche Besucher in Russland haben nichts zu befürchten, ganz im Gegenteil. In Russland kann man zwischen der Politik und dem privaten Leben einzelner Menschen eine ganz dicke Trennungslinie ziehen. Viele Russen bleiben neugierig gegenüber Europa und europäischen Bürgern, selbst wenn von vielen Russen Europa heute nicht mehr als Modell, sondern als arrogant, russophobisch und dekadent gesehen wird.

Die zwei Gesichter Deutschlands

Im ideologischen Bereich hat Deutschland für verschiedene Russen unterschiedliche Bedeutungen. Für den nationalistischen Philosophen Alexander Dugin ist Deutschland nicht mehr das Land von Goethe, Beethoven und Bismarck. Es ist zu einem dekadenten und unterwürfigen Satelliten der amerikanischen Hegemonie geworden – eine „liberal-faschistische“ Macht, die ihre Aggression mit moralischer Überlegenheit verschleiert. In Dugins Augen ist der moderne deutsche Staat geistig tot. Deutschland wird zunehmend mit den USA als Teil eines „angelsächsischen imperialen Blocks” gleichgesetzt, der versucht, Russland zu zerstören.

Am anderen Ende des Spektrums steht Viktor Erofeyev, ein einst gefeierter russischer Schriftsteller, der heute in Berlin lebt. Für Erofeyev und viele andere russische Emigranten bleibt Deutschland ein paradoxer Zufluchtsort – ein Land, das das Beste der europäischen Zivilisation verkörpert, auch wenn es sich politisch gegen Russland wendet. „Ich habe Russland nicht verlassen“, sagte Erofeyev 2023 gegenüber der britischen Zeitung „The Times“. „Russland hat mich verlassen“.

Deutschland in den russischen Medien

Die Darstellung Deutschlands in den russischen Medien ist heute oft von Spott und Anschuldigungen geprägt. Deutschland wird als ein Land dargestellt, das masochistisch seinen wirtschaftlichen Wohlstand opfert, um amerikanischen geopolitischen Zielen zu dienen. Zeitungskolumnen und Fernsehreportagen beschreiben Deutschland als moralisch bankrott – geplagt von sozialem Verfall, „Einwanderungschaos“ und einem Verlust des nationalen Willens. Ein Beispiel davon ist auch der Kanal „Papotschka Kanzlera“, oder ironisch Kanzler Daddy, der täglich auf Telegram und Rutube über Deutschland in ziemlich frecher und sarkastischer Sprache berichtet.

Es gibt ein Element von Schadenfreude in diesem medialen Diskurs, das nicht zu leugnen ist. Aber viele Russen bedauern den heutigen Zustand Deutschlands. Valentina ist eine junge Russin aus Moskau, die Deutsch spricht und kürzlich in Hamburg war: „Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber es war wirklich schrecklich, was ich dort rund um den Bahnhof gesehen habe“. Viele Russen würden ihre Eindrücke bestätigen, ohne sich groß um politische Korrektheit zu kümmern. Leider sind die Probleme in vielen deutschen Städten infolge einer massiven Migration nicht nur eine Erfindung der „russischen Propaganda“.

Migration, Erinnerung und gemischte Gefühle

Das Bild Deutschlands in den Köpfen der Russen wird durch die Tatsache erschwert, dass Millionen Russen – oder russischsprachige Migranten – in Deutschland leben. Die „Russlanddeutschen“, Nachfahren deutscher Siedler in der Wolga-Region, wurden in den 1990er Jahren ermutigt, nach Deutschland zu ziehen. Heute fühlen sich viele von ihnen kulturell zwischen zwei Welten gefangen.

Darüber hinaus ist Deutschland zu einem Zufluchtsort für Dissidenten, Oppositionsführer und im Exil lebende Journalisten geworden. Von der Witwe Alexei Navalnys bis hin zu oppositionellen Journalisten beherbergt Deutschland heute viele Persönlichkeiten, die von der russischen Regierung, aber auch von vielen Russen als Verräter angesehen werden. Diese Tatsache hat die Kluft in der russischen öffentlichen Debatte vertieft: Einige sehen Deutschland als Beschützer der Freiheit, andere als Hort der Aufruhr.

Wo einst vorsichtige Annäherung herrschte, gibt es nun eine klare Trennung. Der Traum von einem „gemeinsamen europäischen Haus“ – einst von Gorbatschow und Kohl gleichermaßen vertreten – liegt in Trümmern.

Das Bild Deutschlands im heutigen Russland ist ein Prisma der Widersprüche. Es ist geprägt vom Trauma der Geschichte, der Bitterkeit der heutigen Geopolitik und der anhaltenden Faszination eines Landes, das einst Ordnung, Kultur und Hoffnung verkörperte. 

Während der Krieg in der Ukraine weitergeht, spielt Deutschland eine zentrale Rolle in der russischen Vorstellungswelt. In diesem umkämpften Raum der Erinnerung und Ideologie scheint der Weg zur Versöhnung lang und schmal zu sein. Geschichte, wie beide Länder nur zu gut wissen, ist niemals wirklich vorbei.

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