Stimmungsbild aus Gaza am 15. Oktober 2023: Es fehlt an Allem – Wasser, Nahrung, Energie, Medizin. (Bild SRF)

Vor der humanitären Katastrophe

Gaza: Humanitäre Katastrophe droht. Von der Leyen ignoriert das und stößt damit in der EU auf scharfe Kritik. Krieg droht auf weitere Staaten in der Region überzugreifen. Iran bündelt gegen Israel gerichtete Kräfte.

BERLIN/TEL AVIV/TEHERAN (Eigener Bericht) – EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ruft mit ihren Äußerungen während ihrer Israel-Reise am vergangenen Freitag scharfe Kritik in der EU hervor. Von der Leyen hatte Israels Recht auf Selbstverteidigung betont, die Pflicht zur Einhaltung des Völkerrechts bei den Operationen im Gazastreifen aber unerwähnt gelassen. Dies entspricht der öffentlichen Position Berlins, torpediert allerdings Beschlüsse der EU. Der Schritt wiegt schwer: Dass Israel den Gazastreifen von Wasser, Energie sowie Nahrung abschneidet, bricht das internationale Recht ebenso wie die Tatsache, dass seinen Bombardements zahllose Zivilpersonen zum Opfer fallen. EU-Politiker warnen, von der Leyen setze die Union im Globalen Süden wieder einmal dem Vorwurf aus, doppelte Standards anzuwenden. Dies geschieht, während der Gazakrieg auf weitere Staaten in der Region überzugreifen droht. Iran ist dabei, gegen Israel gerichtete Kräfte etwa im Libanon zu koordinieren. Israelische Geheimdienstler bedauern, einst Mord- und Sabotageoperationen auf iranischem Territorium unterstützt zu haben: Diese Taten hätten beide Länder in ihre gegenwärtige Konfrontation getrieben.

„Tausende werden sterben“

Der Gazastreifen steht vor einer humanitären Katastrophe. Laut offiziellen Angaben sind durch israelische Luftangriffe in den vergangenen acht Tagen mindestens 2.670 Menschen zu Tode gekommen; über 9.600 wurden verletzt. Damit übersteigt die Opferzahl schon jetzt diejenige der 51 Tage währenden israelischen Bombardements des Jahres 2014.[1] Dass die israelische Regierung den Gazastreifen von Wasser, Strom, Treibstoff, Nahrungsmitteln und Medikamenten abgeschnitten hat, führt zu desaströsen Zuständen; inzwischen geht sogar Krankenhäusern, die von Verletzten überlaufen sind, Treibstoff für ihre Generatoren aus, was Patienten etwa auf Intensivstationen mit dem unmittelbaren Tod bedroht. „Ohne Wasser, Energie, Nahrung und Medikamente werden Tausende sterben“, warnte am Wochenende der UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths.[2] Berichten zufolge lässt Israel seit Sonntagabend auf Druck der USA wieder etwas Wasser in den Süden des Gazastreifens fließen; dies reicht jedoch nicht zur Versorgung aus. Mehr als die Hälfte der 2,3 Millionen Einwohner ist auf der Flucht, seit Israel die Bevölkerung im Norden des Gebiets aufgefordert hat, umgehend ihre Wohnungen zu verlassen. Berichten zufolge werden sogar Fluchtrouten bombardiert.

„In die Steinzeit bomben“

Hinzu kommt: Die Gefahr, dass der Krieg auf weitere Staaten übergreift und völlig außer Kontrolle gerät, ist unverändert immens. Bereits in der vergangenen Woche kam es mehrmals zu Gefechten zwischen den israelischen Streitkräften sowie der libanesischen Hizbollah. Laut Berichten arabischer Diplomaten droht die Hizbollah offen damit, auf eine israelische Bodenoffensive im Gazastreifen mit der Eröffnung einer zweiten Front im Norden Israels zu reagieren. Israelische Experten gehen davon aus, das gewaltige Hisbollah-Raketenarsenal – die Rede ist von vielleicht 150.000 Stück – werde die israelische Raketenabwehr, den Iron Dome, völlig überfordern; dann könnten hunderte teils recht treffgenaue Raketen Israels Großstädte erreichen, darunter Tel Aviv.[3] Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant droht, seine Streitkräfte würden in diesem Fall im Gegenzug „den Libanon in die Steinzeit“ bomben.[4]

Unterstützung aus Teheran

Unklar ist weiterhin die Rolle Irans im Kontext mit dem Hamas-Angriff und dem Massaker an weit mehr als tausend israelischen Zivilisten. Als sicher gilt, dass Teheran die Hamas nicht bloß finanziell, sondern auch mit Know-how in der Raketenherstellung sowie in der Nutzung von Drohnen unterstützt hat.[5] Iranische Quellen bestätigen laut der New York Times, die Hamas-Milizionäre hätten einen Teil ihrer Vorbereitung auf das Massaker, die insgesamt über ein Jahr gedauert habe, im Libanon sowie in Syrien absolviert. Im Libanon hätten sie unter anderem die Bedienung der Paraglider geprobt, die bei ihrem Ausbruch aus dem Gazastreifen zum Einsatz gekommen seien. Die eng mit Iran kooperierende Hizbollah habe ihnen darüber hinaus ihre Fähigkeiten im urbanen Guerillakrieg vermittelt; in Syrien wiederum habe sie Hamas-Einheiten im Überfall auf israelische Dörfer sowie in der Geiselnahme von Zivilisten trainiert.[6] Dass dies ohne jegliche Kenntnis einschlägiger Stellen in Teheran erfolgt sein könnte, kann als unwahrscheinlich gelten.

Irans Netzwerke

Hinzu kommen Berichte über regelmäßige Treffen von Esmail Ghaani, dem Kommandeur der Quds-Brigaden – der Eliteeinheit der iranischen Revolutionsgarde –, mit Organisationen aus dem Gazastreifen und der Hizbollah. Bereits im April berichtete das Wall Street Journal, Ghaani habe Ende März in Syrien Mitglieder palästinensischer Milizen und kurz darauf in Beirut Mitglieder der Hamas, des Islamischen Jihad in Palästina und der Hizbollah getroffen und mit ihnen ein gemeinsames Vorgehen gegen Israel besprochen.[7] Seit August seien Zusammenkünfte in diesem Format wenigstens alle zwei Wochen abgehalten worden – stets im Libanon, wobei anstelle von Ghaani gelegentlich andere Führungsmitglieder der Quds-Brigaden teilgenommen hätten.[8] Zumindest bei zwei Treffen sei Irans Außenminister Hossein Amir-Abdollahian persönlich zugegen gewesen. Unklar ist, ob bei den Gesprächen der jüngste Angriff auf Israel konkret geplant wurde oder ob es nur allgemein darum ging, sich in Zukunft enger gegen Israel zusammenzutun. Als Amir-Abdollahian vergangenen Donnerstagabend zu Gesprächen mit der Hizbollah in Beirut eintraf, warnte er ausdrücklich, die Eröffnung weiterer Fronten sei eine „reale Möglichkeit“.[9] Am Wochenende kam er in Qatar mit Hamas-Chef Ismail Haniyeh zusammen.

In die Konfrontation geführt

Im Hinblick auf die iranischen Aktivitäten zitierte die New York Times kürzlich israelische Geheimdienstler mit der Aussage, sie „bedauerten“ ihre Unterstützung für israelische Mord- und Sabotageoperationen in Iran, die in den vergangenen Jahren durchgeführt worden seien, um Irans Atomprogramm zu stoppen und Teheran am Ausbau seiner Bündnisse mit Hamas und Hizbollah zu hindern. Die Ziele seien nicht erreicht worden, räumten die Geheimdienstler ein. Stattdessen hätten ihre Mord- und Sabotageoperationen Israel und Iran in eine direkte Konfrontation geführt, die nun fatal zu eskalieren drohe.[10]

(Anmerkung der Redaktion Globalbridge.ch: Es fällt auf, dass die These, der Iran unterstütze die Hamas aktiv, vor allem von US-amerikanischer Seite kommt. Die USA sind bekanntlich daran interessiert, den Iran schlecht zu reden und zu isolieren.)

Doppelte Standards

In dieser Situation, in der sich die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen fatal zuspitzt und zudem ein noch weiter ausgreifender Krieg im Mittleren Osten droht, wird in der EU scharfe Kritik an Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen laut. Von der Leyen hatte am Freitag bei ihrem Besuch in Israel ihre bisherigen Sprachformeln wiederholt, laut denen die EU dem Land „zur Seite“ stehe und „Israels Recht auf Selbstverteidigung“ unterstütze.[11] Dies entspricht der Position der Bundesrepublik, wie sie etwa Außenministerin Annalena Baerbock vertritt, gibt jedoch die Position der EU nur zur Hälfte wieder, die ausdrücklich auch auf der Einhaltung des Völkerrechts bei Israels Operationen im Gazastreifen besteht. Damit habe von der Leyen „eine inakzeptable Einseitigkeit“ an den Tag gelegt, „die nur Schaden hervorrufen kann“, protestierte die Fraktionsvorsitzende der Sozialdemokraten im Europaparlament, Iratxe García, am Wochenende.[12] Die Feststellung, sie legten doppelte Standards an, gehört zu den häufigsten Vorwürfen aus dem Globalen Süden gegenüber Politikern aus der EU.

Mehr zum Thema: Waffen für Israel.

[1] Helen Regan, Hadas Gold, Nadeen Ebrahim, Abeer Salman, Hamdi Alkhshali, Jessie Gretener, Sara Smart: Gaza conditions a ‘complete catastrophe,‘ official warns as Israel prepares for offensive. cnn.com 15.10.2023.
[2] Mai Khaled, Heba Saleh: ‘Why has the world abandoned us?’ Palestinians in Gaza plead for humanitarian relief. ft.com 15.10.2023.
[3], [4] Dion Nissenbaum, Ari Flanzraich: At Israel-Lebanon Border, Fears Grow of a Second Front. wsj.com 12.10.2023.
[5] Joby Warrick, Ellen Nakashima, Shane Harris, Souad Mekhennet: Hamas received weapons and training from Iran, officials say. washingtonpost.com 09.10.2023.
[6] Farnaz Fassihi, Ronen Bergman: Hamas Attack on Israel Brings New Scrutiny of Group’s Ties to Iran. nytimes.com 13.10.2023.
[7] Summer Said, Benoit Faucon: Iran Is Recruiting Militant Allies to Launch Attacks Against Israel. wsj.com 14.04.2023.
[8] Summer Said, Benoit Faucon, Stephen Kalin: Iran Helped Plot Attack on Israel Over Several Weeks. wsj.com 08.10.2023.
[9] Nicolas Camut: Opening of ‘other fronts’ possible in Israel-Hamas war, Iran warns. politico.eu 13.10.2023.
[10] Farnaz Fassihi, Ronen Bergman: Hamas Attack on Israel Brings New Scrutiny of Group’s Ties to Iran. nytimes.com 13.10.2023.
[11] Präsidentin von der Leyen zu Terroranschlägen in Israel: Europa steht Israel zur Seite. germany.representation.ec.europa.eu 11.10.2023.
[12] Eddy Wax, Jacopo Barigazzi: Von der Leyen accused of ‘unacceptable bias’ toward Israel. politico.eu 14.10.2023.