NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Zoom-Gespräch mit der «University of South Florida». (Screenshot)

Ukraine-Krieg: Das verlogene – und aggressive – Spiel der NATO

Obwohl die Ukraine kein Mitglied der NATO ist, wurde die Zusammenarbeit der NATO mit der ukrainischen Armee immer intensiver. Und obwohl in Artikel 5 des NATO-Gründungsdokumentes festgehalten ist, dass die NATO ein Verteidigungsbündnis ist, hat NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg schon im März 2021 eine de facto-Änderung dieses Artikels verkündet – und in einem persönlichen Gespräch mit einer Universität in den USA beschrieben.

Wenn davon die Rede ist, dass sich Russland durch die NATO-Osterweiterung bedroht fühlte, wird von westlicher Seite stets darauf hingewiesen, dass es keine Bedrohung Russlands war, weil die NATO aufgrund Punkt 5 des Gründungsvertrages ausschliesslich ein Verteidigungsbündnis sei. Dass die NATO schon in der 1990er Jahren im ehemaligen Jugoslawien ohne jede Bedrohung auch schon präventiv und offensiv gehandelt hat, wird dabei gerne “vergessen“. Der Angriff auf den IRAK im Jahr 2003 erfolgte zwar formell nicht im Namen der NATO, sondern unter dem Stichwort «Bündnis der Willigen», war aber letztlich eine NATO-Unternehmung, einfach mit der Möglichkeit der Mitgliedsländer, sich daran nicht zu beteiligen. Warum aber die gigantischen NATO-Manöver ausgerechnet in den baltischen Staaten, die an Russland grenzen, und im Schwarzen Meer, das ebenfalls an Russland grenzt? Alles nur Verteidigung?

Es gibt zwei weitere Punkte, die in den Medien bewusst verschwiegen werden:

1. Die NATO war im Nicht-NATO-Land Ukraine schon seit 2014 aktiv

Die NATO hat im Jahr 2008 in Bukarest beschlossen, dass Georgien und die Ukraine dereinst NATO-Mitglieder sein können, ohne aber diese zwei Länder zu offiziellen Kandidaten zu erheben. Aber sie haben seit damals und insbesondere seit 2014 in der Ukraine damit begonnen, die Armeen dieser Länder NATO-konform zu machen. Darauf habe ich auf der Plattform www.infosperber.ch schon am 16.12.2017 – «US-Manöver in der Ukraine – nach ‹NATO-Standard›» und am 18.3.2018 – «NATO: sie provoziert und provoziert und provoziert» und am 29.11.2020 – «Englisch wird in der ukrainischen Armee obligatorisch» – aufmerksam gemacht. Das Ziel all dieser Massnahmen und Manöver war und sind, was heute unter dem Begriff «Interoperability» läuft: die Möglichkeit, bei Bedarf militärisch Hand in Hand zusammenzuarbeiten. Aber natürlich hatte Russland keine Veranlassung, dies als Bedrohung zu verstehen …

2. Die NATO nimmt sich das Recht, Artikel 5 ihrer Gründungsakte nach eigenen Kriterien zu interpretieren

In der Gründungsakte der NATO steht unter Artikel 5, dass bei einem militärischen Angriff auf ein NATO-Mitgliedsland die ganze NATO sich mit dem angegriffenen NATO-Land solidarisiert und ihm hilft, sich zu verteidigen. Auch darüber habe ich bereits auf der Plattform infosperber.ch ausführlich geschrieben, denn NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte in einem Zoom-Gespräch mit der «University of South Florida» am 25. März 2021, was ein Angriff auf ein NATO-Land gemäss Artikel 5 sei, entscheide die NATO selbst. Es müsse nicht mehr zwingend ein Angriff mit militärischen Mitteln sein, es könne auch ein Angriff zum Beispiel in Form einer Cyber-Attacke sein. Sprich: In den modernen hybriden Kriegen nimmt sich die NATO erklärterweise das Recht, selber zu entscheiden, was sie als «Angriff» versteht und wann sie gemäss Artikel 5 nicht nur das Recht, sondern die Pflicht hat, selber militärisch einzugreifen.

NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg am 25.3.2021 wörtlich (im Video Minute 23.22):

«Sie (der Fragende, Red.) haben auf etwas sehr Wichtiges hingewiesen, nämlich darauf, dass es früher eine sehr klare Grenze zwischen Frieden und Krieg gab, es war entweder Frieden oder es war Krieg. Wir haben Desinformationskampagnen, wir haben Cyberangriffe, wir haben wirtschaftlichen Zwänge, wir haben viele verschiedene Arten von Geheimdienstoperationen, und wir haben gesehen, dass NATO-Bündnispartner aggressiven Aktionen anderer Länder ausgesetzt waren, bei denen nicht-traditionelle militärische Mittel, sondern all diese nicht-militärischen Mittel zum Einsatz kamen, um zu versuchen, uns zu untergraben, uns zu spalten und uns anzugreifen. Und genau darauf muss sich die NATO einstellen, und darauf haben wir seit einigen Jahren reagiert, indem wir die Arbeitsweise der NATO geändert haben. So haben wir zum Beispiel im Cyberspace erkannt, dass der Cyberspace ein Bereich ist, in dem wir präsent sein müssen, und wir sind dort natürlich schon seit einigen Jahren präsent, aber wir verstärken uns ständig, und wir haben vor nicht allzu vielen Jahren beschlossen, dass ein Angriff im Cyberspace, ein Cyberangriff, Artikel 5 auslösen kann. Das ist eine völlig neue Botschaft, die bedeutet, dass wir früher einen bewaffneten Angriff als etwas angesehen haben, das mit Kampfpanzern, Flugzeugen oder Schiffen durchgeführt wurde, aber jetzt haben wir klar gesagt, dass auch Cyberangriffe Artikel 5 auslösen können. Wir müssen also darauf vorbereitet sein, auch auf Angriffe zu reagieren, die mit verschiedenen Angriffsmitteln durchgeführt werden, nicht nur mit den traditionellen, militärischen Mitteln.»

Und etwas später im gleichen Gesprächsteil, NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, wörtlich:

«Wir werden unseren Gegnern oder unseren potenziellen Gegnern niemals das Privileg geben, genau zu wissen, wann wir Artikel 5 auslösen. Aber wir haben klar gesagt, dass wir Artikel 5 auslösen werden, wenn wir das für notwendig halten, und wir können Artikel 5 auch auslösen, wenn wir sehen, dass eine Aggression mit anderen als den üblichen militärischen Mitteln durchgeführt wird.»

Man höre und sehe: Die NATO kann Artikel 5 «auslösen» – also militärisch gegen einen anderen Staat vorgehen – , wenn sie, die NATO, es «für notwendig» hält! Auch ohne militärischen Angriff gegen ein Mitgliedsland!

Russland hat genau das gemacht

Etwas zynisch könnte man daraus schliessen: Russland hat genau das gemacht, was die NATO für sich beansprucht: Russland hat in eigener Kompetenz beschlossen, dass es sich angegriffen fühlt, auch wenn die NATO noch nicht «mit Kampfpanzern, Flugzeugen oder Schiffen» Russland angegriffen hat – wohl aber seit Jahren Vorbereitungen dazu getroffen hat und weiterhin mit modernsten Raketenbasen und gigantischen Manövern nahe der russischen Grenze aktiv trifft. Putin, ein offensichtlich gelehriger Schüler von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg! Nur, im Gegensatz zu Stoltenbergs Warnung, Putin hat die Gegner sogar wissen lassen, wann er diesen Entscheid treffen wird: Er hatte im Dezember 2021 von den USA und von der NATO Sicherheitsgarantien verlangt, ohne deren Zusage er «militärtechnisch» reagieren werde. Beide, die USA und die NATO, haben Sicherheitsgarantien jedoch mündlich und schriftlich rundweg verweigert. Aber klar, gemäss westlichen Politikern und westlichen Mainstream-Medien hat Russland den Krieg in der Ukraine losgetreten, ohne bedroht gewesen zu sein …

Das 57-minütige Gespräch zwischen NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und den Professoren und Studenten der «University of South Florida» kann hier als Video angeschaut werden. Das englischsprachige Transkript der NATO kann hier gelesen werden. Das englischsprachige Transkript mit den Ergänzungen und den Zeitangaben der einzelnen Passagen zum Video kann hier gelesen werden. Das Transkript in deutscher Übersetzung inkl. Ergänzungen und Zeitangaben zum Video kann hier gelesen werden.

Es lohnt sich, das ganze Gespräch zu lesen. Auch andere Antworten von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg auf Fragen der Professoren und Studenten sind interessant, etwa dass der Klimawandel auch für die NATO ein Problem ist, weil ihre Soldaten für Kämpfe bei 50° Celsius andere, vor Hitze schützende Uniformen benötigen werden …

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Zum Thema NATO siehe auch das Video des US-amerikanischen Militär-Experten Scott Ritter, englisch gesprochen mit deutschen Untertiteln. Sehr informativ!

Und ebenfalls zum Thema NATO ein netter Text von Daclan Hayes auf der Plattform «Strategic Culture Foundation»