Nicht nur historisch und sprachlich, auch kirchlich war und ist die Ukraine keine einheitliche "Nation". Es gibt in der Ukraine mehrere unterschiedliche christliche Kirchen, eine davon, die «Griechisch-katholische Kirche», ist weder dem Patriarchen in Moskau noch dem Patriarchen in Kiev, sondern dem Papst in Rom unterstellt. Christian Müller hat den griechisch-katholischen Pater Ivan in Ushgorod besucht und mit ihm und seiner Familie am 7. Januar 2014 – nach Julianischem Kalender – an diesem Tag Weihnachten gefeiert. Im Bild Pater Ivan mit Frau, Kindern und Enkelkindern. (Foto Christian Müller)

Trotz Selenskyjs Besuch beim Papst in Rom:  Die schwierige Lage der verschiedenen Kirchen in der Ukraine wird verschwiegen 

(Red.) Der ukrainische Präsident Selenskyj besuchte vor wenigen Tagen Italien. Zunächst wurden ihm bei der italienischen Regierung seine finanziellen und militärischen Wünsche erfüllt. Im Anschluss machte er dem Heiligen Stuhl seine Aufwartung. In der Berichterstattung der westlichen Medien über den Besuch blieben die schwierigen Verhältnisse der verschiedenen ukrainischen christlichen Kirchen unerwähnt. (cm)

Ganz offensichtlich war Präsident Selenskyj noch völlig angetan von dem Erreichten, sodass er Papst Franziskus ganz unverblümt sagte, was er von einer etwaigen Vermittlung zwischen Russland und der Ukraine hält: 

„Der Krieg ist in der Ukraine und der Friedensplan muss ukrainisch sein. Wir sind sehr interessiert daran, den Vatikan für unsere Friedensformel zu gewinnen.“

Es ist diplomatische Praxis, dass ein Vermittler von beiden Seiten anerkannt und vor allem als unabhängig akzeptiert sein muss, um überhaupt für diese schwierige Mission in Frage zu kommen. Das weiß auch das ukrainische Staatsoberhaupt. Es ging ihm demnach allein um die Bühne des Vatikans, nicht um die Suche nach Lösungen für sein geschundenes Land. 

Aus Anlass des Papstbesuches des ukrainischen Präsidenten veröffentlichte die italienische Plattform Limes eine sehr interessante Karte: 

Sie zeigt die Verteilung kirchlicher Gemeinden in der Ukraine nach religiöser Zugehörigkeit in den einzelnen Regionen. Die Legende der Grafik unterscheidet dabei folgende Kirchen (von oben nach unten):

  • Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK); im weiteren auch «ehemalige Russisch-orthodoxe Kirche». Diese Kirche untersteht dem Moskauer Patriarchat, genießt dabei jedoch eine große Unabhängigkeit.
  • Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU), welche im Dezember 2018 vom damaligen Präsidenten Petro Poroschenko quasi aus dem Nichts erschaffen wurde; im weiteren auch Ukrainische Staatskirche genannt.
  • Die Autokephale Kirche der Ukraine
  • Die griechisch-orthodoxe Kirche (auch Griechisch-katholische Kirche genannt, siehe dazu das Aufmacher-Bild))
  • Die Römisch-katholische Kirche
  • Die Protestantische Kirche 

In meinem Artikel „Erzwungener Glaubenswechsel in der Ukraine“ zeigte ich auf, dass die von der Führung der Ukraine betriebene Kirchenpolitik nicht nur gegen die ukrainische Verfassung verstößt, sondern in ihrer Konsequenz nichts anderes darstellt als eine ethnische Säuberung. Erklärtes Ziel ist die Zerstörung der ehemaligen Russisch-orthodoxen Kirche (UOK) als spiritueller Kern der russischsprachigen Bevölkerung der Ukraine.

Vor dem Hintergrund dieses gegenwärtig stattfindenden Glaubenskrieges beinhalten die in der Karte veröffentlichten Daten erheblichen politischen Zündstoff. Sie offenbaren anhand dieser – von allen nachvollziehbaren – Zahlen die höchst problematische Kirchenpolitik der Ukraine und vor allem die Kirchenpolitik ihres Präsidenten in ihrem Kern. Sie entlarven sie als das, was sie ist: menschenverachtend und nationalistisch.  

Die Grafik beinhaltet Zahlen von 25 administrativen Gebieten der Ukraine (in der Ukraine „Oblast“ genannt), einschließlich der Gebiete, die sich inzwischen Russland zugewandt haben (Cherson, Saporizhia, Donezk, Lugansk). Ausgehend davon dürften sie nicht ganz aktuell sein. 

Nur in 6 der 25 Gebiete ist die Russisch-Orthodoxe Kirche nicht die Mehrheitskirche. Selbst im äußersten Westen der Ukraine, in Zakarpatien, im Grenzgebiet zur Slowakei, zu Ungarn und Rumänien, ist die Russisch-Orthodoxe Kirche mit Abstand die stärkste Religionsgemeinschaft. Dasselbe trifft auf Wolhynien zu, dem Grenzgebiet zu Polen, im äußersten Nordwesten der Ukraine. 

Der Wahlkampf 2019

Die nationalistische Saat, die Poroschenko in seiner Zeit als Präsident kirchenpolitisch einbrachte, indem er die Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU) im Dezember 2018 aus dem Nichts und mit erheblichem finanziellen und logistischen Aufwand erschuf, und die Selenskyj inzwischen in deutlich verschärfter Form versucht, unter das Volk zu bringen, diese Saat ging bislang nicht wie gewünscht auf. 

Ein Blick in die Geschichte hätte den Planern dieses Kampfes um die Köpfe und Herzen der Menschen gezeigt, dass auf Glauben beruhende Überzeugungen sehr schwer zu ändern sind. Gerade das Beispiel der Sowjetunion zeigt das sehr deutlich. Die Russisch-Orthodoxe Kirche überlebte dort einen Terror, für den es historisch wenig Parallelen gibt.  

Mit der Gründung der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) im Dezember 2018 im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2019 machte sich Poroschenko die Russisch-orthodoxe Kirche (UOK) zu seinem natürlichen Feind und trieb sie dazu, die Wahl von Selenskyj zu unterstützen. Dieser warb bekanntlich nicht nur mit Frieden für den Donbass, sondern auch damit, dass er sich in religiöse und Glaubensfragen nicht einmischen werde. Vor der Wahl sagte der spätere Präsident z.B.:

Es gibt einige Dinge, die nicht gebrochen werden können. Gesetze und Traditionen werden nicht gebrochen. Es gibt Dinge, die sind persönlich.

 Interessant ist auch: Das im Link als Quelle angegebene Portal bezieht sich auf ein einstündiges Fernsehinterview mit dem damaligen Kandidaten Selenskyj, das dieser komplett auf Russisch führt.

Nach der Gründung der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) mit massiver Staatshilfe und dem erklärten Ziel, die orthodoxen Gläubigen unter diesem neuen Kirchendach zu vereinigen und somit eine Jahrhunderte alte Glaubenstradition auszulöschen, klangen die Worte des zukünftigen Präsidenten Selenskyj in den Ohren der Russisch-orthodoxen Kirche (UOK) beinahe wie Musik und ließen Hoffnung aufkommen. Indirekt unterstützten diese Hoffnungen auch Äußerungen des Oberhauptes der neu geschaffenen „Staatskirche der Ukraine“, Filaret Denisenko, der noch unmittelbar vor der Wahl in einem Fernsehinterview äußerte: 

„Die ukrainische Kirche des Moskauer Patriarchats hofft, dass er (Wolodymyr Selenskyj, Red.) sie unterstützen wird. Auch wir glauben, dass er sie unterstützen wird.“

Heute, vier Jahre nach der Wahl von Selenskyj zum Präsidenten der Ukraine und im Wissen um die seither stattgefundenen Ereignisse, mögen diese Hoffnungen auf einen ehrlichen Makler in der Person von Wolodymyr Selenskyj töricht klingen. Doch welche Alternativen gab es damals? 

Selenskyj wusste sehr wohl von den enormen religiösen Problemen und den damit verbundenen Spannungen, die die Ukraine schon damals zu zerreißen drohten. Und so traf sich der Wahlgewinner und künftige Präsident bereits am 30. April 2019 noch vor seiner Vereidigung separat mit den Spitzen der Orthodoxen Kirchen. 

Beim Treffen mit Epiphany Dumenko, dem Oberhaupt der OKU, also der „Orthodoxen Kirche der Ukraine“, sagte der künftige Präsident der Ukraine laut seinem Pressedienst:

Während des Treffens sprachen sie über die Probleme, mit denen die Ukrainer konfrontiert sind, insbesondere über den langjährigen Konflikt im Donbass. Das neu gewählte Staatsoberhaupt und Metropolit Epiphany waren sich einig, dass die Kirche beten und der Staat alles tun sollte, damit alle Regionen unseres Landes in Frieden und Ruhe leben können.

Dem zukünftigen ersten Mann im Staate war demnach – damals sichtbar – noch nicht an einer Zusammenarbeit mit der OKU zur Lösung der anstehenden Probleme gelegen. Offenbar wirkten noch die im Wahlkampf durch Epiphany getätigten Äußerungen nach, der frank und frei erklärte, dass er sich als Präsidenten nur Poroschenko vorstellen könne und er diesen historisch in einer Reihe mit Fürst Wladimir sehe. 

Das Treffen mit dem heute so sehr bekämpften Metropoliten Onufri, dem Bischof der Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats (UOK) verlief in einem ganz anderen Ton. Der Pressedienst des künftigen Präsidenten teilte mit: 

„Während des Treffens erörterten sie die Entwicklung der universellen Werte, wobei sie sich besonders auf die Situation im Osten konzentrierten. Wolodymyr Selenskyj und Metropolit Onufry stellten fest, dass Staat und Kirche alle Anstrengungen unternehmen sollten, um den Frieden zu schaffen und die Einheit der Ukraine wiederherzustellen“.

Die Unterschiede in den Gesprächsinhalten sind offensichtlich. Während Selenskyj Epiphany von der OKU sagte, dass „die Kirche beten und der Staat alles tun sollte, damit alle Regionen unseres Landes in Frieden und Ruhe leben können“, ging es ihm im Gespräch mit Metropolit Onufry darum, „dass Staat und Kirche alle Anstrengungen unternehmen sollten, um den Frieden zu schaffen und die Einheit der Ukraine wiederherzustellen“, also gemeinsam. 

Onufry konnte nach diesem Treffen also durchaus der Ansicht sein, mit einem künftigen Präsidenten zu sprechen, dem an der Lösung der grundlegenden Probleme der Ukraine gelegen war. 

Vom Rückblick zur heutigen Situation

Seit jenem 30. April hat sich alles geändert. Die Hoffnungen der Russisch-orthodoxen Kirche hielten den Entwicklungen nicht stand. Der damalige Hoffnungsträger, Wolodymyr Selenskyj, der einen beträchtlichen Teil seiner Stimmen wohl auch den Erwartungen der UOK mit ihrem Patriarchen in Moskau zu verdanken hatte, zeigt sich heute als ein Hasser alles Russischen. Für ein zukünftiges friedliches Zusammenleben der verschiedenen orthodoxen Kirchen der Ukraine lässt das nichts Gutes erwarten.  


Siehe dazu die beiden Gespräche von Christian Müller mit einem griechisch-katholischen ukrainischen Pater und mit einer gläubigen ukrainischen Ruthenin: hier anklicken.

Zum Autor: René-Burkhard Zittlau ist Diplom-Sprachmittler. Seine Ausbildung beschränkte sich nicht nur auf die Sprache. Ein guter Teil dieser Ausbildung besteht darin, die Kultur und Geschichte der betreffenden Sprache und Länder zu studieren. (In der Schweiz wäre dies eine Kombination eines Slawistik-Studiums plus Dolmetscherschule.) Zittlau arbeitete zunächst für den Geheimdienst und anschließend in der freien Wirtschaft. Nach einer Ausbildung als SAP-Berater war er Geschäftsführer für Unternehmen unterschiedlicher Branchen. Erfahrungen aus langjährigen Aufenthalten in Mittel- und Ost-Europa-Staaten sowie die Beherrschung mehrerer osteuropäischer Sprachen – Russisch, Tschechisch, Slowakisch – erlauben ihm einen unabhängigen Blick auf politische und wirtschaftliche Vorgänge in Osteuropa, insbesondere auch in der Ukraine und in Russland.

PS: Am vergangenen Sonntag hat das Schweizer «Echo der Zeit» über eine Messe des ukrainischen Weihbischofs Wolodymyr in Einsiedeln berichtet. Weder wurde klargestellt, zu welcher Kirche in der Ukraine dieser Weihbischof gehört, noch darauf hingewiesen, dass Präsident Selenskyj gleich wie sein Vorgänger Poroschenko alles unternimmt, um die ukrainische Bevölkerung in der neu gegründeten ukrainischen Staatskirche zu vereinen. Eine nicht ganz zufällig verpasste Chance des «Echos», auf die echt üble Kirchenpolitik Selenskyjs hinzuweisen. Hier zum Nachhören.