Münchner Abkommen: (v.l.n.r.) der britische Premierminister Neville Chamberlain, der französische Premierminister Edouard Daladier, Adolf Hitler, Benito Mussolini und der italienische Außenminister Graf Galeazzo Ciano, 29.09.1938.

«Traue nie deinen mächtigen Verbündeten!»

(Red.) Im sogenannten «Münchner Abkommen» 1938 haben das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italien Adolf Hitler die formelle Erlaubnis gegeben, Teile der Tschechoslowakei zu besetzen. Damit haben sie ihren kleineren Verbündeten, der bei den Verhandlungen nicht einmal anwesend sein durfte, ganz direkt verraten. Ein Blick zurück zeigt, dass das Vertrauen eines kleineren Staates in eine Großmacht die daraus erwartete Sicherheit mitnichten garantiert. Der tschechische Publizist Jiří Weigl erklärt, wie jetzt auch Wolodymyr Selenskyj mit seinem Vertrauen in die USA, in die NATO und in die EU in die gleiche Falle getreten ist. (cm)

In den nächsten Tagen jährt sich zum 85. Mal ein tragisches Ereignis unserer modernen Geschichte: das «Münchner Abkommen» 1938. Da das Münchner Abkommen» heute sehr oft von Politikern und Journalisten erwähnt wird, und das nicht nur wegen des Jahrestages, lohnt es sich, ein wenig über die Lehren aus diesem Ereignis nachzudenken.

Es ist seltsam, dass die große Mehrheit der Menschen in diesem Land (gemeint ist Tschechien, Red.) auf die Frage, welche Lektion wir aus dem Beispiel von München 1938 ziehen sollten, fast mechanisch etwas in der Art sagt, dass wir dem Aggressor nicht nachgeben sollten. Aber es ist eine Lektion für die Großmächte, die uns in München verraten haben, und nicht für uns Tschechen, die sich nie Illusionen über Hitler gemacht haben, ihm nie nachgegeben haben und erst ganz am Ende der Krise in einer aussichtslosen Situation kapituliert haben, von Allen im Stich gelassen.

Für uns ist die Lehre von München 1938, und nicht nur von München, eine ganz andere, nämlich die, dass die Großmächte keine Freunde haben, sondern nur ihre eigenen Interessen. Es macht keinen Sinn, sich ausschließlich auf sie zu verlassen, um die eigene nationale Existenz und Sicherheit zu gewährleisten. In München haben uns die alliierten Mächte ohne Reue über Bord geworfen, als sie der Meinung waren, es sei in ihrem Interesse. Und das werden sie immer tun, wenn sie einen triftigen Grund dafür haben, ungeachtet der Freundschaft, des Völkerrechts, der Demokratie und leider auch der alliierten Verpflichtungen. Dreißig Jahre nach «München 1938» hat unser damals größter Verbündeter (Truppen des Warschauer Pakts im «Prager Frühling» 1968, Red.) uns sogar besetzt, als er seine Machtpositionen bedroht sah. Niemand in der Welt hat damals einen Finger für uns gerührt.

Es ist daher schwer zu verstehen, dass unsere Politiker nach diesen historischen Erfahrungen so tun, als ob nur die Resignation vor unseren eigenen Interessen und der servile Gehorsam gegenüber unseren Verbündeten und nicht eine selbstbewusste und ausgewogene Außenpolitik Sicherheit und Wohlstand garantieren. Wer zu viel Vertrauen in die Mächtigen setzt, wird oft enttäuscht.

Ein Beispiel dafür ist heute der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der mit seiner scharfen Reaktion auf das Getreideembargo Polens, der Slowakei und Ungarns für Aufsehen in der Weltpolitik und in den Medien gesorgt hat und in seiner Rede vor der UN-Generalversammlung scharf darauf reagiert hat. Der bisherige Liebling der öffentlichen Meinung ist plötzlich zum Außenseiter geworden. Wie kann er es wagen, so etwas zu sagen, anstatt Dankbarkeit und Demut zu zeigen. Viele haben bereits zu sagen begonnen, dass sie genug von ihm und der Ukraine haben.

Aber Selenskyjs Frustration ist nachvollziehbar. Jahrelang wurde die Ukraine in die EU und die NATO gelockt, während sie selbst davon träumte, dass durch den Beitritt zu diesen Organisationen der westlichen Welt ihre Sicherheit und ihr Wohlstand endgültig gesichert wären. Sie hat aber nichts erreicht, sondern nur die Aggression Russlands auf sich gezogen, das sich seinerseits durch die Ambitionen der Ukraine bedroht fühlte. Niemand schien mit Russland in den Krieg ziehen zu wollen, um der Ukraine zu helfen.

Deshalb stimmten die Ukrainerinnen und Ukrainer kurz nach dem russischen Einmarsch einem Kompromiss zu, um den Konflikt mit den Invasoren zu beenden. Der Westen akzeptierte dies jedoch nicht und versprach den Ukrainern unbegrenzte militärische und wirtschaftliche Hilfe, wenn sie sich den Russen im Krieg (also militärisch, Red.) widersetzen würden.

Heute dauert der Krieg schon anderthalb Jahre an, die Ukraine wird verwüstet und zerstört und ein Fünftel ihres Territoriums ist von Russland besetzt. Hunderttausende von Soldaten sind gefallen, der materielle Schaden ist immens und ein Drittel der Bevölkerung ist ins Ausland gegangen. Jetzt, an der Schwelle zum zweiten Kriegswinter, stellt Selenskyj fest, dass der Westen zwar davon redet, Russland zu besiegen, aber in Wirklichkeit Angst vor ihm hat und keinen offenen Konflikt mit ihm will. Der Westen liefert aber nur solche Waffen und nur in solchen Mengen, dass die Ukraine nicht schnell verliert, aber nicht so, dass sie realistisch an einen Sieg denken kann. Die Offensive, zu der die ukrainische Armee vom Westen gedrängt wurde, hat trotz der enormen Opfer keine Ergebnisse gebracht. Die Rückeroberung der besetzten Gebiete ist eindeutig eine Illusion.

In Vilnius wurde der Ukraine deutlich vor Augen geführt, dass niemand mehr sie wirklich in der NATO haben will, und das Beispiel der heutigen Getreidekrise zeigt, wie sich die EU-Mitgliedschaft wahrscheinlich auswirken wird. Zu spät erkennen die naiven Ukrainer, dass die westlichen Mächte nicht die gleichen Interessen in dem Konflikt haben wie die Ukraine, die nun völlig vom Westen abhängig ist.

Selenskyj empfindet zu Recht keine Dankbarkeit. Er war bereit, sich auf einen vorgefertigten Kompromiss mit den Russen einzulassen. Er wurde von Boris Johnson mit den Amerikanern im Rücken in einen verheerenden Krieg gezwungen. Abgesehen von Hunderttausenden von Toten und der Zerstörung seines eigenen Landes hat er bisher nichts erreicht und hat einen Krieg mit offenem Ausgang und einem stärkeren Feind vor sich. Wenn er an Vietnam, den Irak und Afghanistan zurückdenkt und sich vergegenwärtigt, wie diese Konflikte ausgegangen sind, als die USA plötzlich nicht mehr weitermachen wollten, wenn er sich daran erinnert, was danach mit diesen Ländern geschah und geschieht und wie es den westlichen Verbündeten dort ergeht, bleibt ihm nicht viel Optimismus. So sind seine harten Worte durchaus nachvollziehbar.

Zum Autor: Jiří Weigl ist ausgebildeter Ökonom und Arabist, gehört zu den engsten Wegbegleitern von Václav Klaus. Ab Anfang der 90er Jahre war er als sein wichtigster Berater im Finanzministerium, danach im Büro des Ministerpräsidenten und auch im Parlament tätig. Zehn Jahre lang (2003–2013) war Weigl Chef der Präsidialkanzlei. Der ausgewiesene Wissenschaftler publizierte mehrere Fachbücher sowie zahlreiche Artikel und Aufsätze zu politischen, ökonomischen und historischen Themen. Heute ist Weigl Exekutivdirektor des Václav Klaus Instituts in Prag.

Zum Originalartikel in tschechischer Sprache. Die Übersetzung besorgten Anna Wetlinska und Christian Müller.

Redaktionelle Anmerkung: Dieses hier beschriebene Vertrauen in eine Großmacht, das die erwartete Sicherheit dann eben doch nicht bringt, müsste vor allem auch die Regierung der Schweiz interessieren, die mit ihrer Annäherung an die NATO den gleichen Fehler macht. Siehe dazu: «So tritt die Schweizer Verteidigungsministerin die Schweizer Neutralität mit Füssen.»