Tadschikistan und Russland: Freunde oder Feinde?
(Red.) Schon kurz nach dem Terroranschlag auf die Crocus City Hall in Krasnogorsk bei Moskau meldeten die russischen Sicherheitsbehörden, dass zwei der Täter auf ihrer Flucht Richtung Ukraine verhaftet werden konnten. Beides seien Tadschiken, hieß es. Tadschiken? Also Bürger von Tadschikistan? Doch wer weiss, wo Tadschikistan liegt und wie Tadschikistan mit Russland verbunden ist? Unser Korrespondent in Moskau hat nachgeforscht.
Am 22. März verübten vier Terroristen einen schrecklichen Anschlag auf eine Konzerthalle in Krasnogorsk in der Nähe von Moskau. Bei dem Anschlag kamen insgesamt 144 Menschen ums Leben. Es war der blutigste Terroranschlag in Russland seit 20 Jahren. Alle vier Attentäter, die am nächsten Tag auf der Flucht in einem Auto etwa hundert Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt festgenommen wurden, waren Tadschiken. Andere festgenommene Verdächtige stammen ebenfalls aus Tadschikistan. Der Anschlag, so wurde uns versichert, wurde von einer Filiale des Islamischen Staates verübt, IS-Khorasan heißt sie, sie operiert hauptsächlich in Afghanistan. Auch wenn es schwierig bleibt, den Anstifter zu identifizieren, so bleibt doch die Tatsache bestehen, dass die materiellen Täter des Anschlags alle aus Tadschikistan stammen, einem der fünf Länder Zentralasiens. Eine Region, die historisch zunächst für das russische Reich und dann für die Sowjetunion von Bedeutung war und auch heute noch durch zahlreiche Verflechtungen mit Russland verbunden ist.
Zentralasien hat eine Fläche von 4 Millionen Quadratkilometern, was etwa der Fläche des europäischen Teils Russlands entspricht. Die Fläche Europas ohne Russland ist ungefähr 6 Millionen Quadratkilometer groß. Insgesamt leben 75 Millionen Menschen in Zentralasien, zu dem Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan, Kirgisistan und Tadschikistan gehören. Das bevölkerungsreichste Land ist Usbekistan, das größte Kasachstan. Tadschikistan hingegen hat nur um die 8 oder 9 Millionen Einwohner. Die Geschichte und die politische Realität dieser Länder sind eng mit Russland verwoben. Die Länder Zentralasiens gehören zur Familie der Turkvölker – mit Ausnahme von Tadschikistan. Hier wird eine dem Persischen und dem in Afghanistan gesprochenen Dari nahestehende Sprache gesprochen. Historisch war Tadschikistan näher an Persien.
100 Jahre Tadschikistan
Im Jahr 2024 feiert Tadschikistan einen wichtigen Geburtstag. Seit der Gründung der Tadschikischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik, der ersten Staatsbildung der Tadschiken, sind hundert Jahre vergangen.
Tadschikistan hat eine Fläche von 144.100 Quadratkilometern und ist damit etwa dreieinhalbmal so groß wie die Niederlande, hat aber nur etwa halb so viele Einwohner wie die Niederlande – die Informationen dazu schwanken stark. Und Tadschikistan unterscheidet sich geografisch total von dem westeuropäischen Land, da es größtenteils gebirgig ist und keinen Zugang zum Meer hat. Tadschikistan grenzt im Süden an Afghanistan, im Norden an Kirgisistan, im Osten an China und im Westen an Usbekistan.
Russland kam im 19. Jahrhundert nach Zentralasien. Die Länder hier waren stolz auf ihre alten Traditionen und Kulturen, aber die geografischen Gegebenheiten, darunter Berge und Wüsten, waren für den Handel und den Ideenaustausch mit dem Rest der Welt nicht gerade förderlich. Viele haben damals gemeint, Russland sollte für diese Länder eine europäisierende Rolle spielen, d. h. Zentralasien auf den Weg der modernen Vernunft und des Fortschritts bringen. Es war die Zeit des sogenannten Great Game, als zwischen Russland und dem britischen Empire eine starke Rivalität um Persien und Indien herrschte. Die Furcht vor dem vermeintlichen russischen Expansionismus veranlasste die Briten dazu, Afghanistan – erfolglos – erobern zu wollen. Die bergigen Völker in diesen Regionen zwischen den Steppen Kasachstans im Norden und dem indischen Subkontinent im Süden waren jahrhundertelang weit entfernt von der westlichen Zivilisation geblieben. Und sie hatten kein großes Interesse, sich ihr anzuschließen.
Der Islam, der im 8. Jahrhundert n. Chr. hierher kam, war in seiner lokalen Form nicht nur eine abstrakte Religion, sondern prägte die Struktur und die Regeln der Gesellschaft. Dann kam das russische Reich, das sich damals in seiner idealisierten Form fast als eine Art orthodoxe Theokratie vorstellte. Nach dem Zusammenbruch des russischen Reiches kamen 70 Jahre Kommunismus sowjetischer Prägung und Staatsatheismus.
Am 9. September 1991, wenige Wochen nach dem chaotischen und gescheiterten Putsch in Moskau, erklärte sich Tadschikistan zu einem unabhängigen souveränen Staat, nur einige Monate bevor die Sowjetunion im Dezember desselben Jahres endgültig zusammenbrach. Die Unabhängigkeit brachte nicht sofort die erhofften Ergebnisse. Bereits im Mai 1992 versank das Land im Bürgerkrieg zwischen der von Russland unterstützten tadschikischen Zentralregierung und einer vereinigten islamistischen Opposition, die unter anderem von Al-Qaida unterstützt wurde. In diesem Krieg, der fünf Jahre lang, bis 1997, dauerte, kamen zwischen 20.000 und 150.000 Menschen ums Leben, genaue Zahlen gibt es nicht. Eine Million Menschen verließen das Land. Am Ende setzte sich die Zentralregierung durch.
Der tadschikische Präsident Emomalij Rahmon steht seit 1994, also seit dem Bürgerkrieg, an der Spitze des Landes. Denjenigen, die ihn für die Defizite der Demokratie in Tadschikistan kritisierten, antwortete der tadschikische Präsident wie folgt: “Ein Land, das 70-80 Jahre lang dieselbe Politik verfolgt und dieselbe Ideologie gepredigt hat, kann sich nicht in 10-20 Jahren in eine demokratische und zivilisierte Gesellschaft verwandeln. Die Mentalität der Menschen braucht Zeit, um sich zu ändern … Ein amerikanisches oder europäisches Demokratiemodell in Russland wie auch in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken innerhalb eines Jahres zu verwirklichen, ist einfach unmöglich, es ist nur ein Traum.” Es ist schwer, damit nicht einverstanden zu sein. Demokratie wird schließlich nicht an einem Tag erbaut.
Im Laufe der Jahre hat sich die Wirtschaft des Landes erholt, obwohl Tadschikistan nach wie vor das ärmste der fünf zentralasiatischen Länder, das ärmste der Länder der ehemaligen Sowjetunion und eines der ärmsten Länder der Welt ist. Die Aussichten auf einen wirtschaftlichen Umschwung sind kaum erkennbar, es scheint, dass diese Rückständigkeit noch Jahrzehnte anhalten wird, so meinen Experten. Man behauptet, die wirtschaftliche Entwicklung Tadschikistans werde vom Erfolg der chinesischen Initiative “One Belt, One Road” abhängen.
Tadschikistan und Russland
Auf zwischenstaatlicher Ebene können die Beziehungen zwischen Tadschikistan und Russland heute als gut bezeichnet werden. Im November letzten Jahres sagte der russische Präsident Wladimir Putin bei einem Treffen mit dem tadschikischen Präsidenten in Moskau: “Die Beziehungen entwickeln sich schrittweise und befinden sich auf einem sehr hohen Niveau”, und er erinnerte daran, dass Russland der wichtigste Handelspartner Tadschikistans ist. Etwa 30 Prozent der Importe des Landes kommen aus Russland.
Zu den Beziehungen zu Russland sagte der tadschikische Präsident: “Haben Sie jemals aus dem Munde des Präsidenten von Tadschikistan, von Mitgliedern der Regierung oder des Präsidialpersonals Angriffe gegen Russland gehört? Sie werden nirgendwo antirussische Angriffe hören. Das hängt von der Politik der Führung des Landes ab. Die Menschen konzentrieren sich immer auf die Führer … In den tadschikischen Schulen wird die russische Sprache gelernt. Das hat uns zweifellos auch ermöglicht, die Abwanderung von Russen und russischsprachigen Bürgern aus Tadschikistan zu stoppen.”
Russland ist auch ein wichtiger Investor in Tadschikistans Wirtschaft. Das Volumen der von Russen in der tadschikischen Wirtschaft angehäuften Investitionen beträgt 1,6 Milliarden Dollar. Etwa 300 Unternehmen in russischem Besitz sind in Tadschikistan tätig. Russische Unternehmen sind in den wichtigsten Wirtschaftssektoren tätig: Bauwesen, Energie, Industrie, Kommunikation und Finanzdienstleistungen.
Man schätzt, dass bis zu etwa zwei Millionen tadschikische Bürger in Russland leben. Tadschikistan ist das führende Land, was das Volumen der Rücküberweisungen von Einzelpersonen aus Russland in die postsowjetischen Länder betrifft. Ende 2021 schickten tadschikische Arbeitnehmer 1,8 Milliarden Dollar in ihr Heimatland, was fast ein Fünftel des BIP des Landes entsprach.
Tadschikistan ist auch Mitglied der ODKB, der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, die von vielen als eine Art “Mini-NATO” Russlands bezeichnet wird. Es gilt als eines der wichtigsten Länder in der Pufferzone zwischen Russland und Afghanistan, in der der Terrorismus und der religiöse Extremismus nach wie vor eine konstante Gefahr sind.
Zu Sowjetzeiten war die 201. motorisierte Schützendivision der sowjetischen Streitkräfte in Tadschikistan stationiert. Seit 2004 ist diese zu einer ständigen russischen Militärbasis geworden. Es handelt sich um die größte russische Militäreinrichtung im Ausland, hier sind rund 7.500 russische Soldaten stationiert. Das russische Militär kontrolliert die Grenze zwischen Tadschikistan und Afghanistan, 24 Stunden am Tag.
Tadschiken und Russen
Während die Beziehungen zwischen Russland und Tadschikistan auf der Ebene der großen Politik gut zu sein scheinen, ist es auf der gesellschaftlichen Ebene unbestreitbar, dass zwischen Russen und Tadschiken Spannungen bestehen. Wie in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken gab es auch in Tadschikistan nach dem Abzug der Russen eine gewisse Abneigung gegen die ehemaligen Herrscher. Hinzu kam das religiöse Element. Eine traditionell religiöse Gesellschaft konnte 70 Jahre offiziellen, von oben verordneten Atheismus nicht so leicht vergessen.
Darüber hinaus förderten eine unterentwickelte Wirtschaft und eine hohe Arbeitslosenquote eine starke Re-Islamisierung der tadschikischen Gesellschaft. Die Regierung versuchte, das Phänomen des islamischen Extremismus auf verschiedene Weise zu bekämpfen und ging sogar so weit, Männern unter 40 Jahren das Tragen von Bärten zu verbieten. Die Radikalisierung vieler Tadschiken in Richtung islamischer Extremismus findet jedoch häufig nicht in ihrer Heimat statt, sondern wenn sich die jungen Männer in einem fremden Land befinden, weit weg von Bekannten und Familie, die eine kontrollierende und disziplinierende Wirkung auf sie ausüben könnten.
Heute leben zwischen einer und zwei Millionen Tadschiken in Russland. Es ist schwierig, genaue Zahlen zu nennen. In der Regel handelt es sich um Menschen aus Dörfern und Kleinstädten, die nach Russland kommen, um dort für die vor Ort niedrigsten Löhne zu arbeiten, die trotzdem fünf- bis zehnmal höher sein können als die Löhne zuhause in Tadschikistan. Es sind soziale und wirtschaftliche Dynamiken, die auch in Europa gut bekannt sind. So wie in Europa genießen Einwanderer in Russland nicht wirklich ein hohes Sozialprestige. Das veranlasst oft viele junge Männer, auch solche, die eigentlich nie besonders religiös waren, dazu, in der Religion Zuflucht zu suchen.
Viele Russen beschweren sich über die übermäßige Präsenz von Migranten in ihren Städten und sprechen oft von einer angeblich “hohen Kriminalität” der Migranten, ganz gleich, ob sie Usbeken, Tadschiken oder aus anderen Ländern sind. Offizielle Zahlen sprechen aber von einer unglaublich niedrigen Kriminalitätsrate von Migranten, nur 2 % der Gesamtzahl, im Vergleich zu einem weitaus höheren Anteil von Migranten in der Bevölkerung. Aber Vorurteile, insbesondere Vorurteile gegenüber Menschen, die man wenig kennt, eine andere Sprache sprechen und anders aussehen, halten sich hartnäckig. Das Zusammenleben zwischen Russen und Tadschiken mag bisweilen schwierig erscheinen.
Der Terror-Anschlag auf die Crocus City Hall hätte dieses Klima noch weiter beschädigen können. Aber glücklicherweise scheint dies bisher nicht geschehen zu sein.
Der radikale Islamismus und Russland
Auf dem riesigen Territorium Russlands ist der Islam seit Jahrhunderten eine der vorherrschenden Religionen. Die meisten Muslime in Russland sind moderat und leben friedlich auf russischem Gebiet. Es ist jedoch unbestreitbar, dass es eine radikale, äußerst aggressive Minderheit mit zerstörerischem Potenzial gibt. Zu ihr gehören sowohl Bürger der verschiedenen mehrheitlich muslimischen russischen Republiken, insbesondere im Kaukasus, als auch Migranten aus Tadschikistan, Usbekistan und anderen Ländern. Viele islamistische Fanatiker haben Russland den Krieg in Tschetschenien und Russlands Eingreifen in den Bürgerkrieg in Syrien nie verziehen.
Der «Islamische Staat» wurde als territoriale Präsenz im Nahen Osten zwischen 2016 und 2017 weitgehend aufgelöst, viele der jungen damaligen Kämpfer für den Ruhm des Kalifats sind einfach geflohen und haben sich in der ganzen Welt verstreut. Einige kehrten nach Hause zurück, andere fanden anderswo Zuflucht. In Syrien wird vielerorts immer noch gekämpft, auch wenn die Kämpfer nicht mehr so zahlreich sind wie früher. Unter den ehemaligen Anhängern des Kalifats, die Syrien verlassen haben, gibt es sicherlich Leute, die nicht so leicht aufgeben. Auch viele Tadschiken und Tschetschenen kämpften in den letzten Jahren in Syrien. Berühmt ist der Fall von Gulmurod Khalimow, einem ehemaligen Oberst der tadschikischen Armee, der 2015 verschwand und dann einige Zeit später als „Kriegsminister“ des Islamischen Staates in Syrien wieder auftauchte. Khalimow wurde höchstwahrscheinlich 2017 bei einem russischen Angriff auf ein Terroristenversteck getötet.
Vor einigen Wochen verhaftete der russische FSB eine militante islamistische Zelle in der Region Kaluga, die der Organisation ISIS-K gehörte und einen Anschlag auf eine Moskauer Synagoge plante. Am 21. März nahmen die Spezialdienste einen weiteren Kämpfer fest, der einen Terroranschlag in der Region Stawropol vorbereitete. Zuvor war eine Explosion in der russischen Botschaft in Kabul vereitelt worden. Dann, am 22. März, die Tragödie in der Crocus City Hall.
Terroristen müssen sich schnell neuen Umständen in einer ständig und rasant wechselnden Umgebung anpassen. Experten, darunter auch russische Experten, gehen deswegen davon aus, dass heute islamistische Radikale, die mit dem IS verbunden sind, die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen ausnutzen könnten, um ihre schändlichen Aktivitäten durchzuführen.
Siehe dazu auch den Bericht von Stefano di Lorenzo über Kasan, wo Christen und Muslime friedlich zusammenleben.