Blick auf Kasan, hinter der Stadtmauer links die Moschee und rechts die Kathedrale. (Photo Stefano di Lorenzo)

Wo verschiedene Religionen friedlich zusammenleben

Aus aktuellem Anlass wiederholt:

Brief aus Moskau – wo auch viele Muslime sich wohl fühlen

(Red.) Nach dem BRICS-Gipfeltreffen in Südafrika, wo beschlossen wurde, weitere sechs Länder in den Verband aufzunehmen, darunter vier mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung – Ägypten, Iran, Saudi-Arabien und Vereinigte Arabische Emirate –, hat Russlands Präsident Wladimir Putin, der wegen des internationalen Haftbefehls gegen ihn in Südafrika nur per Zoom-Übertragung teilnehmen konnte, als nächsten Tagungsort die russische Stadt Kasan vorgeschlagen. Das ist kein Zufall. (cm)

In der russischen Hauptstadt Moskau mangelt es nicht an architektonischer Pracht. Unter den vielen Juwelen der Moskauer Architektur gibt es eines mit einzigartigem Charakter: die Sobornaja-Moschee, die Moskauer Kathedralmoschee, in der Nähe des Prospekts Mira und der gleichnamigen U-Bahn-Station. Es ist ein Gebäude, das eine solche wundervolle Atmosphäre ausstrahlt, die man nur als magisch bezeichnen kann, egal ob man an Allah glaubt oder nicht.

Die neue Moschee wurde 2015 eingeweiht. Früher stand an dieser Stelle eine ältere und im Aussehen viel bescheidenere Moschee. Das neue Gebäude ist mit riesigen goldenen Kuppeln und zwei Minaretten mit einer Höhe von 78 und 72 Metern geschmückt. Diese Moschee ist nach der Grosny-Moschee in Tschetschenien und der Machatschkala-Moschee in Dagestan die drittgrößte in ganz Russland. An der Einweihung im Jahr 2015 wurden auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der palästinensische Präsident Mahmud Abbas sowie Delegationen zahlreicher anderer muslimischer Länder eingeladen.

Die Sobornaja-Moschee in Moskau, wegen des höher liegenden Parkplatzes davor nicht ganz einfach zu photographieren. (Photo Stefano di Lorenzo)

Traditionell haben sich Russland und die Russen im Laufe ihrer tausendjährigen Geschichte als christliches Land wahrgenommen. Doch auch das, was der berühmte polnische Journalist Ryszard Kapuściński bemerkte, stimmt: dass der „Süden“ Russlands grundsätzlich und historisch immer muslimisch war. Der polnische Journalist bezog sich auf den Nordkaukasus, aber das Gleiche gilt auch für viele Regionen im östlichsten Teil des europäischen Russlands, von Tatarstan und seiner Hauptstadt Kasan bis Astrachan am Wolgadelta mit Blick auf das Kaspische Meer. Heute beträgt die Zahl der Muslime in Russland verschiedenen Schätzungen zufolge rund 14 Millionen, also etwa 10 Prozent der Bevölkerung. In absoluten Zahlen ist dies die größte muslimische Bevölkerung in einem europäischen Land. Doch im Gegensatz zu vielen europäischen Ländern, in denen das Wachstum der muslimischen Bevölkerung ein relativ junges Phänomen ist, gehört der Islam seit Jahrhunderten zur russischen Kultur. Kasan, etwa 800 Kilometer östlich von Moskau, wurde 1552 von Iwan dem Schrecklichen erobert, Astrachan vier Jahre später. Die Krim mit ihrer muslimisch-tatarischen Bevölkerung wurde 1783 von Katharina der Großen annektiert. Die Kontrolle über den Kaukasus wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gefestigt.

Jesus oder Mohammed?

Der Legende nach musste sich Fürst Wladimir – den wir hier nach der etablierten historiographischen Tradition als Russen und nicht als Ukrainer bezeichnen – im Jahr 988, nachdem er die Gebiete der Rus vereint hatte, zwischen Christentum, Islam und Judentum entscheiden. Religion sollte zu einem wichtigen Instrument bei der Konsolidierung der vielen verschiedenen Stämme werden. Diese Stämme lebten in Gebieten, die sich von Nowgorod im Norden bis Galizien – der Region der Ukraine, in der sich heute Ľviv (ehemals Lemberg) befindet – im Südwesten erstreckten. Sie waren voneinander isoliert und gerieten oft in Konflikt miteinander. Fürst Wladimir hatte es nur mit großer Mühe geschafft, diese Gebiete zu vereinigen. Dafür soll er sogar seinen eigenen Bruder umgebracht haben.

Die klassische Version der „Taufe der Rus“ wird in der „Geschichte vergangener Jahre“ des Mönchs Nestor erzählt, auch bekannt als „Nestorchronik“. Fürst Wladimir der Große hatte Vertreter von Muslimen, Juden und Christen nach Kiew berufen. Der Erzählung zufolge dachte Wladimir zuerst, den Islam anzunehmen, nachdem er sich die Argumente aller angehört hatte. Am Ende überlegte er es sich dann aber anders. „Die Freude Russlands liegt im Weintrinken“, soll er bekanntlich ausgerufen haben. Und so ließ er sich taufen und das ganze Land wurde christlich. Dabei handelt es sich allerdings eher um eine fabulierte Erzählung, die zwei Jahrhunderte nach den Ereignissen niedergeschrieben wurde und aus historiographischer Sicht kaum solide ist.

Es bleibt die Tatsache, dass das Christentum seit der „Taufe der Rus“ im Jahr 988, mit der kurzen Unterbrechung des sowjetischen Staatsatheismus, immer Teil der Konzeption der russischen Identität war. Bis Wladimir dem Großen war die Rus ein fragiles Konglomerat verschiedener Stämme gewesen, die die neue Religion vereinen sollte. Nach Wladimirs Tod im Jahr 1015 folgte eine neue Periode innerer Unruhen, die mit der Machtübernahme eines Sohnes von Wladimir, Jaroslaw der Weise, endete. Die nächsten zwei Jahrhunderte gelten als das goldene Zeitalter der Rus. Dies endete abrupt im Jahr 1240, als Kiew – damals Fürstensitz in der Rus – von den Mongolen eingenommen und zerstört wurde. Drei Generationen später nahmen die Mongolen, die die Gebiete der Rus besetzten, den Islam an – ohne jedoch die lokale Bevölkerung zum Konvertieren zu zwingen. In diesem Zusammenhang müssen die Ursprünge der Beziehung des heutigen Russlands zum Islam verstanden werden.

Babel-Moskau und der Islam

Heute wohnen in Moskau, der Hauptstadt Russlands mit rund 13 Millionen Einwohnern, einigen Schätzungen zufolge etwa zwei Millionen Muslime, also etwa 14 Prozent der Bevölkerung. Generell scheint die Einstellung der Russen in Moskau zum Islam typisch für die meisten kosmopolitischen Metropolen des 21. Jahrhunderts zu sein. Man geht von der liberalen Toleranz derjenigen aus, die es gewohnt sind, jeden Tag auf der Straße viele sehr unterschiedliche Menschen zu sehen, ohne dem allzu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Bis hin zur charakteristischen Gleichgültigkeit derjenigen, die in einer grenzenlosen Metropole zu sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt sind, um sich auch noch um religiöse Themen zu kümmern. Und es gibt auch jene, die sagen: „Mein bester Freund und meine beste Freundin sind Muslime“. Oder nochmals andere, die behaupten, keine Religion wirklich zu lieben. 

Kurzum, in Moskau herrscht anscheinend die klassische kosmopolitische Großstadtmischung aus weltoffener Toleranz, Atheismus und Nonchalance. Fatima, eine aus dem marokkanischen Casablanca stammende Medizinstudentin mit verschleiertem Kopf, sagt: „Ich hatte hier in Moskau wegen der Religion und meines Schleiers nie Probleme.“ Dann fügt sie lächelnd, aber auch ein wenig irritiert hinzu: „Nicht wie in Frankreich, wo das Tragen des Schleiers verboten ist. Das sollte nur meine private und persönliche Angelegenheit sein.“

Noch vor einigen Jahren erlebten die Beziehungen zwischen der russischen Regierung sowie der russischen Gesellschaft und dem Islam und den Muslimen eine sehr komplizierte Zeit. Vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der Sowjetunion entstanden viele wirtschaftliche, soziale und ethnische Spannungen. Heute sieht das Bild ganz anders aus. Der Krieg in Tschetschenien und der Terrorismus scheinen einer fernen Vergangenheit anzugehören. Tschetschenien, das in den 90er-Jahren mit der moralischen und oft nicht nur moralischen Unterstützung des Westens für die Unabhängigkeit bestimmt schien, ist eine der loyalsten Regionen gegenüber dem russischen Staat und der russischen Regierung.

Zwischen der Rus und den Mongolen

Um die enge Beziehung zwischen Russland und dem Islam besser zu verstehen, und nachdem Kasan von Putin als nächster BRICS+-Tagungsort vorgeschlagen worden ist, beschließe ich, Kasan zu besuchen, die Hauptstadt der Autonomen Republik Tatarstan, nur wenige Zugstunden von Moskau entfernt. Kasan ist die fünftgrößte Stadt Russlands mit 1,3 Millionen Einwohnern, von denen die meisten Tataren sind. Tataren sind mit fast 5 Millionen Menschen die zweitgrößte ethnische Gruppe in Russland.

„Lesen Sie Gumiljow?“, fragt mich eine ungewöhnlich nette, lächelnde Frau mittleren Alters im Zug, als sie das Buch in meiner Hand sieht. „Ich freue mich sehr, dass Sie unsere Autoren lesen.“ Es sei zugegeben, es war kein Zufall, dass ich gerade ein Buch dieses Autors mitgenommen hatte. Lew Gumiljow war der Sohn der berühmten und hochverehrten russischen Dichterin Anna Achmatowa, die nicht nur in Russland als eine der größten Dichterinnen des 20. Jahrhunderts gilt. Als Historiker, Philosoph und noch viel mehr gehört heute Gumiljow zu den Autoren, die in Russland sehr beliebt sind, aber in Europa und im Westen oft als „unwissenschaftlich“ gelten und daher prinzipiell nicht ernst genommen werden können. Tatsächlich ist er kein Historiker, der akademische Trockenheit und die Strenge eines Archivars anstrebt, sondern ein epischer Dichter der großen Erzählungen und Konzeptionen, in gewissem Sinne ein Mythenschöpfer. Ein Historiker, der das Kind einer Dichterin bleibt, wenn man das so sagen darf.

Gumiljow ist heute vor allem als Autor des Konzepts der „Passionarität“, auf Russisch „пассионарность“, bekannt. Passionarität ist ein Neologismus, der auf dem lateinischen passio, Leidenschaft, basiert, einem ungewöhnlichen Wortstamm im Russischen. Man könnte das vielleicht als „Leidenschaftlichkeit“ übersetzen. Aber das wäre auch keine genaue Übersetzung. Diese „Passionarität“ kann als ursprüngliche kollektive Leidenschaft, als Antrieb junger, energischer und leidenschaftsfähiger Völker interpretiert werden, ein Konzept, mit dem der russische Historiker das Phänomen der Entstehung und Entwicklung von Völkern erklärt. Völker wären keine sozialen Phänomene, sondern das Ergebnis eines biologischen Instinkts, sich in den ersten Lebensjahren ein „Verhaltensstereotyp“ anzueignen.

Laut Gumiljow, den man in die russische Tradition des Eurasismus einordnen könnte, liegen die Ursprünge Russlands als Staat und des russischen Volkes nicht nur in der Kiewer Rus und der Orthodoxie, wie es gewöhnlich behauptet wird, sondern auch in der Goldenen Horde, einer der Khanate, die als Nachkommen des Mongolenreiches im 13. Jahrhundert entstanden sind. So wurde die russische „Superethnie“ laut Gumiljow als eine Art Fusion zwischen russischen Slawen und Mongolo-Tataren geboren. Die Goldene Horde hatte 1313, unter Özbeg Khan, einem direkten Sprössling von Dschingis Khan und dem dienstältesten Khan der Goldenen Horde, den Islam als offizielle Staatsreligion akzeptiert.

Die Stadt Kasan

In Kasan gibt es ein weiteres Juwel zeitgenössischer russischer und islamischer Architektur. Die 2005 eingeweihte Qol-Şärif-Moschee befindet sich im Kasaner Kreml, der historischen Zitadelle, von Mauern umgeben, die typisch für das historische Modell russischer Städte sind. Qol Şärif – zu Deutsch Kul Scharif –, dem die Moschee gewidmet ist, war der letzte Anführer und Imam des Kasaner Khanats, bevor das 1552 von Iwan dem Schrecklichen annektiert wurde. Bei dieser Moschee handelt es sich um ein prächtiges weißes rundes Gebäude, das mit sechs schlanken Minaretten mit blauer Kuppel geschmückt ist. Viele weitere Projekte wurden vorgeschlagen, eines schöner und kreativer als das andere, darunter auch viele internationale, wie in der Ausstellung in der Moschee zu sehen ist. Am Ende gewann ein kollektives Konzept lokaler Architekten. Es ist ein Gebäude, das viele Touristen anzieht, nicht nur aus islamischen Ländern, sondern auch viele Russen aus anderen Regionen. Es ist in der Tat eines der wichtigsten Touristenattraktionen Kasans und sein symbolträchtigster Ort. Diese Moschee scheint wirklich etwas Märchenhaftes zu haben.

Die Moschee in Kasan – eingeweiht im Jahr 2005 und heute eine echte Touristenattraktion (Photo Stefano di Lorenzo)

„Ich habe viele muslimische Freunde“, sagt eine Frau, während wir vor der Moschee stehen. Hier in Kasan leben Russen und Tataren seit Jahrhunderten zusammen. „Russen und Tataren verstehen sich hier gut. Für uns gibt es keinen Unterschied zwischen Russen und Tataren. Wir haben hier unser ganzes Leben zusammengelebt“, fügt eine andere Frau hinzu.

Der Begriff der russischen und tatarischen ethnischen Identität sei hier recht dehnbar, erklärt mir später Mitja, ein junger Mann: „Ich bin Russe, aber auch Tatar. Hier in Tatarstan haben wir unsere eigene Identität. Wir haben unsere eigene Mentalität. Haben Sie die Moschee gesehen, die neben einer Kirche im Kreml steht? Gibt es ein besseres Symbol für das Zusammenleben von Christen und Muslimen? Ich bin kein Muslim, aber manchmal gehe ich in die Moschee, einfach weil es mir gefällt.“ Es ist so ein bisschen wie in dem geflügelten Wort, das manchmal – fälschlicherweise – Napoleon zugeschrieben wird: „Kratzt du an einem Russen, kommt ein Tatar durch“.

Tatarstan und die Krim

Das Wort „Tatar“ ist ein Exonym. Das bedeutet, dass das Volk, das heute so bezeichnet wird, ursprünglich sich selbst nicht auf diese Weise nannte. Die Tataren nahmen den Namen an, der ihnen von anderen gegeben wurde. Ein bisschen so, als hätten die Deutschen beschlossen, sich Germanen zu nennen. Gleiches gilt für die Tataren. Das Wort „Tatar“ ist persischen Ursprungs, die Bedeutung ist nicht ganz klar. In der Zeit des Zarenreichs bezeichnete man damit unterschiedliche turksprachige Völker auf dem russischen Territorium, und diese waren und sind sehr zahlreich. Innerhalb von hundert Jahren, zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert, begann Russland vom Ural bis zum Pazifik zu expandieren und eroberte Sibirien, das traditionell dünn besiedelt war, in dem aber mongolische und turksprachige Bevölkerungsgruppen lebten. Einige dieser turksprachigen Bevölkerungsgruppen, wie die Kasaner und Krimtataren, fingen später an, sich „Tataren“ zu nennen, während andere, wie die Baschkiren und die Tschuwaschen, die den Tataren geographisch, kulturell und ethnisch sehr nahe standen und stehen, dies nicht taten.

Nach dem Übergang der Krim an Russland im Jahr 2014 wurde im Westen viel über die Angst der Krimtataren vor Russland gesprochen. Denn für die Krimtataren, die zehn Prozent der Bevölkerung der Krim ausmachen, würde die Rückkehr zu Russland mit der Deportation der krimtatarischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg schmerzhafte kollektive Erinnerungen hervorrufen, so meinten viele im Westen. Während des Zweiten Weltkriegs wurde den Tataren massenhafte Kollaboration mit den Nazis vorgeworfen. Aus diesem Grund deportierte Stalin 1944 die ganze Bevölkerung, überwiegend nach Usbekistan. Und 2014 machte sich der Westen plötzlich große Sorgen um das Schicksal der Tataren unter Russland. Das Schicksal der Russen in der neuen Ukraine mit einem monoethnischen und antirussischen ideologischen Fundament war für den Westen dagegen völlig irrelevant. 

Doch die bloße Tatsache, dass bereits vor dem Übergang der Krim zu Russland fast fünf Millionen Tataren in Russland lebten, zeigte, wie absurd diese – kunstvoll geschürten – Ängste um die Krimtataren waren. 2014 war nicht 1944. In Tatarstan werden die kulturellen Einrichtungen der Tataren und deren Sprache dank staatlicher Förderung respektiert und gepflegt. Viele Russen hier lernen in der Schule auch Tatarisch als Fremdsprache.

Ein wahrer Vielvölkerstaat

In Europa waren wir es bis vor kurzem gewohnt – mit der glücklichen Ausnahme der Schweiz! – den Staat in den Kategorien des romantischen Nationalismus zu denken, eine Idee, die das Produkt der Französischen Revolution war. Ein Staat sollte idealerweise eine monoethnische und monotheistische Einheit sein: ein Land, ein Volk! Ein Volk, ein Land! Ein Land, eine Religion! Nach dieser Auffassung beruhe in jedem Land die Legitimität des Staates auf der Herrschaft eines einzelnen Volkes und einer Religion. Mit dem Niedergang des Christentums in Europa verschwand der religiöse Faktor fast komplett. Heute wird viel über Multikulturalismus gesprochen, Multikulturalismus und Vielfalt seien bekanntlich die Merkmale unserer progressiven Zeit. Aber auch im heutigen Europa wird zum Beispiel in Deutschland, wo Multikulturalismus fast eine neue Ersatzreligion geworden ist, so wie in anderen europäischen Ländern, erwartet, dass wer in Deutschland wohnt, Deutsch sprechen muss. Deutsch ist auch die einzige Sprache der Hochschulbildung und der Behörden. In einem Land, das angeblich so stolz auf seine Multikulturalität ist und in dem in vielen Städten der Anteil der Bürger mit Migrationshintergrund über 50 Prozent liegt, mag das alles wie ein Anachronismus erscheinen. Oder wie Heuchelei.

Dennoch ist der Mythos des monoethnischen Nationalismus, der dem Souveränitätsprinzip der meisten europäischen Staaten zugrunde liegt, historisch und geografisch eher die Ausnahme als die Regel. Die meisten Staaten der Welt waren in der Vergangenheit und sind heute noch Vielvölkerstaaten. Und es ist absurd und unmöglich, Russland, selbst das heutige Russland, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Jahr 1991 viele Gebiete verlor, mit den Kategorien des europäischen monoethnischen und monotheistischen Nationalismus zu verstehen.

In Europa haben die massive Einwanderung aus muslimischen Ländern in den letzten Jahren die sozialen Probleme der Migranten und die Schwierigkeit ihrer Integration in die europäischen Gesellschaften die Ängste vieler Menschen geschürt. Das hat in vielen Ländern zum Wachstum rechtsgerichteter Parteien beigetragen, die ihre einwanderungsfeindliche Position zu ihrem Hauptpunkt in ihren Kampagnen gemacht haben. Es ist unbestreitbar, dass diese Stimmungen in Russland auch vorhanden waren und auch heute noch vorhanden sind. Doch anders als im westlichen Europa ist in Russland in den letzten Jahren der Konsens für die „nationalistischen“ Parteien, die mit antimuslimischen und migrationsfeindlichen Positionen politisches Kapital schafften, gesunken. Die Ängste vor einer bevorstehenden Islamisierung Russlands haben sich als übertrieben erwiesen. Russland hat keinen Michel Houellebecq hervorgebracht, den französischen Schriftsteller und Autor, unter anderem des Romans „Unterwerfung“, erschienen 2015. Es ist die Geschichte eines müden europäischen Landes, das sich langsam vom Islam verführen und erobern lässt. Wie viele andere Romane Houellebecqs sorgte auch dieses Buch für großes Aufsehen. Auch in Russland.

Der Islam und die kulturelle DNA Russlands

Aber anders als in dem Roman des französischen Schriftstellers muss sich der Islam in Russland nicht langsam an die Macht durchschleichen. Weil der Islam bereits seit Jahrhunderten Teil Russlands ist. Ende des 18. Jahrhunderts hatte Katharina die Große mit der Gründung des Muslimischen Geistlichen Rates von Orenburg den Islam als eine der großen Religionen des riesigen Russischen Reiches anerkannt. Der Muslimische Geistliche Rat war für die Verwaltung der Angelegenheiten der Muslime Russlands verantwortlich. Mit dem Untergang des Zarenreichs und dem staatlichen Atheismus der sowjetischen Ära geriet der religiöse Faktor für einige Jahrzehnte in den Hintergrund, bis er nahezu bedeutungslos wurde. Der Zusammenbruch der Sowjetunion führte zu einem Wiederaufleben der Religion, sowohl unter Christen als auch unter Muslimen.

Näher an unserer Zeit erkennt der russische Präsident heute an, dass der Islam zum genetischen Code der russischen Nation gehört. „Die Traditionen des aufgeklärten Islam haben sich in Russland über viele Jahrhunderte hinweg entwickelt. Dass in Russland verschiedene Völker und Religionen friedlich zusammenleben, ist vor allem der muslimischen Gemeinschaft zu verdanken […]. Heute ist der traditionelle Islam ein wesentlicher Bestandteil des spirituellen Lebens Russlands. Die humanistischen Werte des Islam lehren die Menschen wie unsere anderen traditionellen Religionen Mitgefühl, Gerechtigkeit und Fürsorge für unsere Lieben“, sagte Präsident Putin 2015 bei der Einweihung der neuen Kathedralmoschee in Moskau.

Es sind Worte vielleicht, die man im Westen von jemandem nicht erwarten würde, der vor dem Hintergrund des Krieges in Tschetschenien vor 20 Jahren traditionell als Feind des Islam dargestellt wurde. Aber es sind Worte und Ideen, die diejenigen nicht überraschen, die die Möglichkeit haben, Russland mit eigenen Augen zu sehen und sich nicht von den vielen mehr oder weniger spontan entstandenen Stereotypen, die über Russland kursieren, hypnotisieren lassen. Hier in Russland haben seit Jahrhunderten Christen und Muslime relativ friedlich zusammengelebt. Und hier gibt es viele Islame. Der Islam der Bergdörfer des Kaukasus ist nicht der Islam Kasans oder der Einwanderer aus Zentralasien. Unter diesen unterschiedlichen Traditionen konnte sich im Laufe der Jahrhunderte auch ein europäischer Islam herausbilden. Seine Erfahrung hat gezeigt, dass Christen, Atheisten und Muslime, Moderne und Tradition in Russland miteinander kommunizieren und in Harmonie koexistieren können.

Dass Putin als nächsten BRICS+-Tagungsort die Stadt Kasan vorgeschlagen hat, ist verständlich und absolut sinnvoll.

PS: 2019 besuchte Christian Müller, Herausgeber der Plattform Globalbridge.ch, einmal mehr die Krim und erhielt dort vor Ort die Erlaubnis, die noch im Bau befindliche Moschee in Simferopol zu besuchen. Ein Blick von außen und ein Blick im Innern in die künftigen Kuppeln lassen erraten, dass auch diese Moschee zu einem geschichtsträchtigen Monument werden wird.

Die Moschee in Simferopol, der Hauptstadt der Krim, im Jahr 2019 noch im Bau. (Photo Christian Müller)

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Die Moschee in Simferopol, hier im Jahr 2019 noch im Bau, Blick in die Kuppeln von innen. (Photo Christian Müller)

Siehe zum Thema „Russland und Islam“ auch hier oder hier.