Die Wirtschaftskraft Russlands wird selbst von hochstehenden Politikern und Wirtschaftsfachleuten massiv unterschätzt. (Bild: Business Center Moskau, Foto Christian Müller)

So wird Russlands Wirtschaft total unterschätzt

(Red.) Die von den USA, UK und der EU – und unsinnigerweise auch von der Schweiz – verhängten Wirtschaftssanktionen gegen Russland basieren auf einer katastrophal falschen Einschätzung der russischen Wirtschaftsleistung. Joe Biden persönlich schrieb auf Twitter, mit den Sanktionen könne die Wirtschaftsleistung Russlands halbiert werden und aus dem „Rubel“ würden „Rubbels“ (Bauschutt). In Deutschland gehörte zum Beispiel auch der ehemalige Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, zu den Verbreitern der total falschen Einschätzung. Schon zehnmal wurden die Sanktionen gegen Russland erweitert und verstärkt – ohne Wirkung. – Wann endlich erkennen die zuständigen EU-Politiker, dass sie mit ihren Sanktionen vor allem die eigene Wirtschaft in der EU beschädigen? Dazu ein Beitrag aus dem US-Magazin «The National Interest». (cm)

Können wir bitte aufhören, Russlands Wirtschaft mit der Italiens zu vergleichen? Der Vergleich ist nicht nur falsch, er verrät auch die Blindheit der westlichen Politiker gegenüber den materiellen Realitäten.

Im außenpolitischen Diskurs gibt es nur wenige Meme, die so weit verbreitet oder irreführend sind wie der oft zitierte Vergleich der russischen Wirtschaft mit der italienischen. Diese Phrase, die erstmals 2014 von Senator Lindsey Graham geprägt wurde, wird von westlichen Politikern und Kommentatoren wie ein stumpfes Instrument eingesetzt. Sie impliziert, Russlands Wirtschaft sei im Vergleich zur kollektiven Macht des Westens schwach und unbedeutend. 

US-Präsident Joe Biden auf Twitter. Seine total falsche Einschätzung der russischen Wirtschaftsleistung und des Wechselkurses des Rubels machen deutlich, wie gefährlich es ist, wenn solch schlecht informierte Leute politisch so einflussreich sind.

Dieses Schlagwort (der Vergleich Russlands mit Italien, Red.) hat unseren Umgang mit Russland geprägt und es ist höchste Zeit, dass wir uns von dieser Sicht verabschieden. Denn wenn die russische Wirtschaft so klein und unscheinbar wäre, wie es die Statistiken vermuten lassen, wie könnte sie dann den Sanktionen standhalten, die gegen sie verhängt wurden? Warum ist die Erklärung von Präsident Joe Biden, dass „die russische Wirtschaft um die Hälfte reduziert werden wird“, nicht eingetreten? Hat nicht der französische Finanzminister Bruno Le Maire gegenüber einem französischen Radiosender erklärt, das Ziel des Westens sei es, „den Zusammenbruch der russischen Wirtschaft herbeizuführen“ und Moskau in die Knie zu zwingen? Wie schafft es eine Nation mit einer Wirtschaft, die angeblich nur so groß ist wie die Italiens, einen derartigen globalen Einfluss auszuüben, dass die US-Finanzministerin Janet Yellen kürzlich erklärte, die westlichen Sanktionen gefährdeten sogar die Hegemonie des US-Dollars?

Auf dem Papier scheint die Beobachtung von Senator Graham richtig zu sein. Sowohl Russland als auch Italien liegen in Bezug auf das nominale Bruttoinlandsprodukt (BIP), das seit dem Zweiten Weltkrieg die bevorzugte Methode zur Messung der wirtschaftlichen Größe und Macht eines Landes ist, nahe beieinander. Diese Zahl wird ermittelt, indem die Gesamtkosten aller Waren und Dienstleistungen, die in einem Land innerhalb eines bestimmten Zeitraums produziert oder verkauft werden, bestimmt werden. Nach Angaben der Weltbank lag das nominale BIP Russlands im Jahr 2013 bei 2,29 Billionen Dollar, das Italiens bei 2,14 Billionen Dollar. Noch im Jahr 2021 lag das nominale BIP Russlands bei rund 1,78 Billionen Dollar, das Italiens bei 2,11 Billionen Dollar.

Der Fehler bei diesem Vergleich liegt darin, dass er sich auf die Messung des nominalen BIP selbst stützt, da er die Wechselkurse und die Kaufkraftparität (KKP) nicht berücksichtigt, die den Lebensstandard und die Produktivität (und daraus abgeleitet den Wohlstand pro Kopf und, was wichtig ist, den Ressourcenverbrauch) berücksichtigt. Der renommierte französische Wirtschaftswissenschaftler Jacques Sapir hat auf die Unzulänglichkeit dieses Maßstabs hingewiesen und argumentiert, dass Russlands BIP, gemessen in KKP (3,74 Billionen Dollar im Jahr 2013, 4,81 Billionen Dollar im Jahr 2021), näher an dem Deutschlands (3,63 Billionen Dollar im Jahr 2013, 4,85 Billionen Dollar im Jahr 2021) als an dem Italiens (2,19 Billionen Dollar im Jahr 2013, 2,74 Billionen Dollar im Jahr 2021) liegt. Dies ist ein entscheidender Unterschied, und es ist sowohl rätselhaft als auch beunruhigend, dass so viele weiterhin den Vergleich zwischen Russland und Italien nachplappern.

Aber selbst die KKP-Zahlen geben die Bedeutung der russischen Wirtschaftskraft nicht vollständig wieder. Sapir hat seine Analyse in einem Aufsatz für die politische Zeitschrift «American Affairs» weiter ausgeführt und festgestellt, dass die KKP-Messung „möglicherweise noch nicht die wahre Bedeutung der russischen Wirtschaft widerspiegelt, wenn es um strategische, geopolitische Fragen geht“.

Sapir stellt fest, dass die westlichen Volkswirtschaften in den letzten fünfzig Jahren zunehmend von Dienstleistungssektoren dominiert wurden, die zwar zur Berechnung des BIP beitragen, aber in Konfliktzeiten an Bedeutung verlieren. In solchen Situationen kommt es auf die Produktion von Sachgütern an, und nach diesem Maßstab ist Russlands Wirtschaft nicht nur stärker als die Deutschlands, sondern auch mehr als doppelt so stark wie die Wirtschaft Frankreichs. Darüber hinaus verfügt Russland aufgrund seiner dominanten Stellung im globalen Energie- und Rohstoffhandel – Russland ist ein wichtiger Produzent von Öl, Gas, Platin, Kobalt, Gold, Nickel, Phosphaten, Eisen, Weizen, Gerste, Buchweizen, Hafer und vielem mehr – über einen beträchtlichen Einfluss auf die Märkte und Volkswirtschaften, wodurch es weniger anfällig für Sanktionen ist und sich nicht so leicht von westlichem Druck einschüchtern lässt. Diese Tatsache ist vielen Ländern des globalen Südens, die die Ukraine in ihrem Kampf gegen die russische Aggression nur zögerlich unterstützt haben, nicht entgangen.

Auch der ehemalige Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger benutzte noch am 4. März 2018 den Vergleich Russlands mit Italien.

Auch wenn Senator Graham mit dem wirtschaftlichen Vergleich zwischen Russland und Italien einen großen Fehler begangen hat, kann man ihm vielleicht verzeihen, da er Politiker ist. Das Gleiche gilt jedoch nicht für eine Reihe von Wirtschaftswissenschaftlern und Außenpolitikexperten, die diesen Vergleich über die Jahre hinweg bis heute wiederholt haben.

Dass sich der Mythos Russland-Italien unter diesen Fachleuten hartnäckig hält, ist angesichts der Anziehungskraft des Dienstleistungssektors im Westen vielleicht doch nicht überraschend. Das spektakuläre Wachstum dieser kapitalintensiven Sektoren sowie ihr nominaler Wohlstand und ihre Produktivität haben viele in Washington und anderen westlichen Hauptstädten dazu veranlasst, sie nicht nur willkommen zu heissen, sondern auch politisch, kulturell und ideologisch zu bevorzugen. Wir Amerikaner sind zum Beispiel besonders stolz auf den Erfolg unserer Tech-Giganten als Motor für Innovation, Wachstum und nationales Prestige. Das Internet und die verschiedenen Anwendungen, die auf Smartphones gedeihen, werden von vielen als inhärent demokratisierend angesehen und dienen effektiv als Vermittler amerikanischer Werte und zur Durchsetzung der nationalen Interessen der USA.

Diese Vorliebe für den Dienstleistungssektor führt dazu, dass man dazu neigt, die arbeitsintensiven Industrien der Vergangenheit – Energie, Landwirtschaft, Rohstoffgewinnung, verarbeitendes Gewerbe – als antiquierte Relikte zu betrachten. Aber diese verzerrte Sichtweise hat uns nicht auf eine Welt vorbereitet, in der materielle Güter wieder von entscheidender Bedeutung sind, wie unsere Kämpfe angesichts des Krieges in der Ukraine zeigen. Der Konflikt hat „einen besorgniserregenden Mangel an Produktionskapazitäten in den USA offenbart“. In Europa hat das Vereinigte Königreich (UK) festgestellt, dass „es zehn Jahre dauern wird, die an die Ukraine verschenkten Waffenbestände zu ersetzen und die britischen Waffenbestände wieder auf ein akzeptables Niveau zu bringen.“ Die EU ihrerseits, die nun von billiger russischer Energie abgeschnitten ist, steht vor der erschreckenden Aussicht auf eine schnelle Deindustrialisierung.

Es ist höchste Zeit, dass wir uns eingestehen, wie sehr wir die relative Größe und Macht der rivalisierenden Volkswirtschaften, auch und gerade der russischen, unterschätzen. Es wäre auch ratsam, dass die politischen Entscheidungsträger ihren derzeitigen politischen Ansatz zur wirtschaftlichen Staatsführung überdenken – Sanktionen sind keine Einheitslösung, insbesondere wenn es sich um Sanktionen gegen eine Nation handelt, die über erhebliche wirtschaftliche Macht verfügt.

Vor allem aber sollten wir uns vornehmen, nie wieder den Satz „Russland hat eine Wirtschaft von der Größe Italiens“ zu sagen.

Zum Original dieses Artikels auf «The National Interest»

Siehe dazu auch: «Die Russland-Sanktionen sind für Russland auch eine große Chance» von Dmitri Trenin.

Hinweis der Redaktion: Dass das BIP eine unbrauchbare Größe für die Bewertung der Wirtschaftsleistung eines Landes ist, weiss man eigentlich schon lange. Der US-amerikanische Wirtschaftsjournalist Jonathan Rowe hat das in einem Artikel in der deutschen Vierteljahreszeitschrift «Die GAZETTE» anschaulich beschrieben.