Prag mit ihren Brücken – die geschichtsträchtige Karlsbrücke ist auf dem Bild die zweite von vorne – ist wohl die schönste Stadt Europas nördlich der Alpen. (Foto Christian Müller)

«So spricht mir eine tschechische Autorin aus dem Herzen»

(Red.) Der Herausgeber der Plattform Globalbridge.ch, Christian Müller, hat als promovierter Historiker und professioneller Journalist nicht nur über 50 Länder dieser unserer Erde besucht, er hat beruflich auch einige Jahre in Prag gelebt, als Chef des in den 1990er Jahren größten Medienunternehmens in Tschechien. Dabei hat er die Stadt und das Land und ihre Einwohner schätzen und lieben gelernt – um jetzt umso enttäuschter und trauriger zu sein, dass eben diese Menschen dort einen kriegsgeilen ehemaligen NATO-General, Petr Pavel, zum neuen Präsidenten des Landes gewählt haben. Aber es gibt sie noch in Tschechien, jene tapferen Menschen, die sich nicht von den großen Medien verführen lassen, untertänigst nach der Geige der USA und der NATO und der EU zu tanzen, sondern die bereit sind, einmal mehr Widerstand gegen die Obrigkeit zu leisten, die sich heute mehr um die Interessen der USA und der EU als um die Interessen der tschechischen Bevölkerung kümmert. Zu ihnen gehört Lenka Procházková. Aus Anlass des Jahrestages des ungesühnten Massenmordens der ukrainischen Nationalisten am 2. Mai 2014 in Odessa hat sie einen Artikel geschrieben, der Christian Müller aus dem Herzen spricht. (cm)

Es ist noch gar nicht so lange her, dass wir glaubten, wir könnten in einem gemeinsamen europäischen Haus leben. Es sollte ein sicheres Haus sein, dessen Bewohner sich gegenseitig respektieren und die verbindlichen Regeln des Zusammenlebens einhalten. In einem solchen friedlichen europäischen Haus könnte niemand Gewalt dulden, niemand würde auch nur daran denken, einen bewaffneten Putsch in einer der Wohnungen des gemeinsamen Hauses zu unterstützen und anschließend zu legalisieren.

Und doch geschah dies, als die Wohnung mit dem Namen Ukraine von den Putschisten enteignet wurde und als dieses Verbrechen von den Verwaltern unseres gemeinsamen Hauses als Sieg der Demokratie gewertet wurde. Die lorbeergeschmückte Junta, die heute die Ukraine regiert, bekräftigt die Demokratie, indem sie schwere Waffen gegen die eigene Bevölkerung (im Donbass, Red.) als überzeugendes Argument einsetzt.

Was sagt das über Europa aus?

Die Fassade des europäischen Hauses hat seit der Bombardierung Jugoslawiens Risse bekommen und tritt heute in die Phase des Einreißens der tragenden Wände ein.

Als wir vor einem Jahr ins Internet guckten, waren wir fassungslos über die Bilder der ermordeten Menschen in Odessa. Aus den Videos war klar ersichtlich, dass die Angreifer mit Leidenschaft töteten… Eine Sequenz zeigte eine Gruppe von Mädchen, die inmitten des Chaos auf dem Bürgersteig saßen. Zuerst sah es fast wie ein Picknick aus, dann sah ich, dass sie Flaschen mit Benzin füllten. Sie sahen fleißig und fröhlich aus, aber das ist nicht genug: «Kommen Sie!», scherzten sie, während die Menschen, die in dem brennenden Haus gefangen waren, bereits aus den Fenstern sprangen. Und dann las ich mit Entsetzen den Kommentar eines tschechischen Journalisten, der von seinem Schreibtisch aus russische Agenten in den verkohlten Körpern der Opfer identifizierte…

Das entsetzliche Massaker in Odessa am 2. Mai 2014 ist nie aufgeklärt worden. Die Mörder gehen ungestraft durch die Straßen, als ob sie einen Mantel der Unsichtbarkeit hätten. Und Europa bleibt stumm. Wenn ich Europa sage, meine ich die gut gekleideten und bestbezahlten so genannten verantwortlichen Politiker, die uns täglich im Fernsehen als olympische Götter erscheinen. Wie kommt es, dass unsere Götter nicht handeln? Warum haben sie das Massaker in Odessa, die Morde auf dem Maidan und den Abschuss des zivilen Flugzeugs verschleiert? Warum haben sie den Bürgerkrieg im Südosten der Ukraine zugelassen? Warum schweigen sie über die Ermordung von Gegnern der Junta? Die Antwort ist einfach: aus Angst.

Denn unsere derzeitigen olympischen Götter sind Feiglinge. Sie haben Angst, der Wahrheit ins Auge zu sehen, denn dann müssten sie etwas gegen das Böse unternehmen, das sie sehen. Sie haben jedoch selbst dazu beigetragen, dieses Übel anzuheizen, als sie den bewaffneten Putsch in Kiew unterstützten und verherrlichten. Sie standen wie Patinnen und Paten über der Wiege des Unrechts und verschließen nun die Augen vor den schrecklichen Folgen ihrer Mittäterschaft. Die Wahrheit ist für sie so gefährlich wie das Haupt der Medusa. Sie fürchten, dass der Anblick ihres Gesichts sie versteinern würde. Aber sie sind bereits versteinert! Sie sitzen regungslos auf ihren erhöhten Plätzen fest wie die steinernen Köpfe auf der Osterinsel.

Die Steinköpfe auf den Osterinseln: Symbole für die heutigen „steinköpfigen“ europäischen Politiker …

Der römische Dichter Ovid hat mit folgenden Worten vor der Gleichgültigkeit gegenüber dem Bösen gewarnt: «Am Anfang verdrängt man das Böse, durch langes Zögern wird es aber stärker, und die Heilung kommt schließlich spät – zu spät.»

Diese Warnung, die vor zweitausend Jahren geschrieben wurde, ist auch heute noch aktuell. Auch in der Tschechischen Republik werden Stimmen laut, die noch vor einem Jahr die Opfer in Odessa als russische Agenten bezeichneten. Heute empfehlen sie die präventive Tötung aller mutmaßlichen Verteidiger der Wahrheit, damit die Lüge in Ruhe ihr Werk tun kann. Währenddessen verurteilen die tschechischen Steinköpfe diese empfohlene faschistische Praxis verbal, aber es stört sie nicht, dass Listen „fehlerhafter“ sogenannter pro-russischer Personen und ebenso Listen „fehlerhafter“ Internetseiten erstellt werden. Die Ära der einzig erlaubten Wahrheit ist einmal mehr zurückgekehrt und zwingt jeden von uns, sich zu fügen. Entweder nach Ihrer Feigheit oder nach Ihrem Mut und Ihrem Gewissen. [ ]

Kürzlich bin ich zufällig über ein altes humorvolles Woody-Allen-Zitat gestolpert: «Ich habe einen Crashkurs im Schnelllesen belegt und (Tolstois) „Krieg und Frieden“ in zwanzig Minuten gelesen. Es hat etwas mit Russland zu tun.»

Offensichtlich haben die meisten der Steinköpfe und Medienschamanen, die uns heute über Russland predigen, nicht nur einen Schnelllesekurs absolviert, sondern auch einen Schnellschreibkurs und auch einen Schnelllügekurs. Solche Crashkurse finden nicht nur in unserem Land statt; der Sponsor muss Russlandexperten in ganz Europa ausbilden. Die Absolventen der Crash-Kurse erklären sich dann zynisch zur Elite, zu den Lichtträgern, während sie unser Schiff namens Europa in jene Dunkelheit steuern, die nur von den Blitzen der Gewehrschüsse und den Fackeln der Nazis beleuchtet wird.

Sie zensieren unsere Protestschreie, sie hören nicht auf unsere Argumente, sondern verlangen, dass wir auf sie hören.

Eine solche einseitige Kommunikation nennt man Diktatur. Stoneheads (Steinköpfe wie auf den Osterinseln, Red.) und andere Crashkurs-Absolventen nennen es jedoch Demokratie. In jeder Rede verwenden sie dieses Wort. Offenbar verwenden sie es, um sich vor Gericht zu verteidigen, wo sie alle enden werden.

Wann wird das sein? Wird es jemals geschehen? Wird unser klappriges (gemeinsames) Haus in den Feuern des Krieges verbrennen? Das hängt von uns ab. Verlassen wir uns nicht auf Wunder und auch nicht auf die ewige Geduld und Diskretion der russischen Politiker. Es gibt Situationen, in denen jede Geduld zu Ende ist. Verschwenden wir also nicht unsere Zeit mit Spekulationen und Prognosen, sondern nutzen wir sie, um unsere Mitmenschen zu überzeugen. Jeder von uns hat wahrscheinlich Verwandte oder Freunde, die bereits der Medienmassage erlegen sind. Lassen wir sie nicht in dieser gefährlichen Trance zurück, sondern rütteln wir sie wach, bevor die Einberufungsbefehle sie aufwecken. Wir haben genug Argumente, scheuen wir uns nicht, sie immer und immer wieder vorzubringen. Es ist ermüdend, aber wenn wir erkennen, dass jeder erwachte Mensch dann ein weiterer Verbündeter der Wahrheit wird, sind wir ermutigt.

Europa ist heute voll von Menschen, die so denken wie wir hier. Menschen, die sich von Drohungen nicht einschüchtern lassen. Wenn wir alle auf die Straßen und Plätze gehen, werden wir die Lügner übertönen. Und sie vor ein internationales Gericht bringen.

Der zukünftige Prozess gegen die Mörder der Menschheit und die Totengräber des Friedens wird nicht mehr in Nürnberg und schon gar nicht in Den Haag stattfinden. Er sollte in Odessa abgehalten werden! In dem Haus, in dem unsere Brüder und Schwestern in den Flammen gestorben sind.

Ich glaube fest daran, dass es so kommen wird. Ich glaube fest daran, dass wir nicht aufgeben werden. Denn wenn es keine Gerechtigkeit mehr gäbe, gäbe es für die Menschen keinen Grund mehr, auf dieser Erde zu leben.

Zum Originalartikel in tschechischer Sprache.

Zur Autorin: Lenka Procházková ist 1951 geboren, gehörte 1977 zu den Unterzeichnerinnen der «Charta 77» und wurde danach als Dissidentin verfolgt und musste bis 1989 ihren Lebensunterhalt unter anderem als Reinigungsfrau im Theater verdienen. Heute ist Lenka Procházková in der Tschechischen Republik eine anerkannte und vielbeachtete Autorin.

PS: Mittlerweile finden in Prag auch immer wieder Demonstrationen gegen die aktuelle Regierung statt, die meisten davon auf dem Wenzelsplatz mit über 100’000 Teilnehmern. Die letzte Demo am Samstag 6. Mai 2023 hatte weniger Teilnehmer, war aber inhaltlich umso klarer und härter. Eine in der Schweiz lebende Tschechin hat Globalbridge.ch ein Email des Inhalts geschickt, dass sie selber mitmarschiert ist, und sie verlinkte ihr Mail auf ein Video, das diese letzte Demo in aller Ausführlichkeit zeigt.