Eliot Cohen, Direktor des "Strategic Studies Program" an der Johns Hopkins University, School of Advanced International Studies (SAIS), Washington, am 27. Oktober 2016. (DoD Photo by US Army Sgt. James K. McCann)

So holt die NZZ die Anti-Russland-Argumente auch bei den Neocons in den USA

(Red.) Die NZZ hat in ihrer Ausgabe vom Mittwoch, 31. Mai 2023, einen ganzseitigen Artikel des prominenten US-amerikanischen Neocons-Politologen Eliot A. Cohen publiziert. Cohen plädiert darin nicht nur gegen Verhandlungen mit Russland und für einen Sieg der Ukraine mit Waffen, sondern vor allem für eine möglichst blutige Niederlage Russlands – ohne Opfer auf Seite der US-Soldaten notabene. – Eine Medienkritik.

Es ist einfach grauenhaft. Erneut hat die Neue Zürcher Zeitung NZZ einen Autor gefunden und seitengroß zu Wort kommen lassen, der nichts Anderes tut, als Russenhass zu verbreiten. Eliot A. Cohens Forderung ist, dass es nicht genügt, wenn die Ukraine der Sieger im gegenwärtigen Krieg ist. Viel wichtiger sei es, dass Russland der totale Verlierer sein werde. Und da stehen dann so Sätze wie diese: «Die Ukraine muss bei ihren bevorstehenden Gegenoffensiven nicht nur Erfolge auf dem Schlachtfeld erzielen, sie muss auch weit mehr als einen geordneten Rückzug der Russen nach Waffenstillstandsverhandlungen zustande bringen. Brutal ausgedrückt: Sie muss es schaffen, dass russische Soldaten massenhaft fliehen, desertieren, Offiziere erschiessen, gefangen genommen werden oder umkommen. Die russische Niederlage muss in ein unmissverständlich grosses, blutiges Durcheinander münden.»

Oder eine andere Passage, gegen Schluss seines Beitrages: «Trotzdem sollten wir unsere Erwartungen drosseln. Denn leider dürfte ein besiegtes Russland nach wie vor böswillig, wütend und rachsüchtig sein. Es wird wahrscheinlich immer noch von der ‹Vertikalen der Macht›, den harten Männern aus den Sicherheitsministerien, regiert werden; es wird von Verbrechen und Mord durchdrungen sein; und es wird sich in subversiver Agitation, in politischer Kriegsführung und in durchtriebenem Verhalten aller Art ergehen.» Man lese es genau: Russland dürfte «nach wie vor böswillig, wütend und rachsüchtig sein». 

Oder eine andere Stelle, wo Eliot A. Cohen geradezu ins Schwärmen gerät: «Russlands Armee mit nur einem Bruchteil des US-Verteidigungsbudgets und ohne das Blut eines einzigen amerikanischen Soldaten zu besiegen, wäre ein erstaunliches strategisches Schnäppchen.» Klar, zählen tun ja nur US-Opfer, was sind schon tote Ukrainer oder tote Russen?

Eliot A. Cohen ist Jude. Und er ist als junger Mann in die «Malmonides School» gegangen, in die Schule, die stolz darauf ist, der «Leuchtturm der modernen orthodoxen Erziehung in Neuengland» zu sein. Er weiss also sehr genau, wie es herauskommt, wenn pauschal gegen eine Ethnie – damals in Hitler-Deutschland und in mehreren Nachbarländern gegen die Juden! – Hass verbreitet wird. 

Hand aufs Herz: Wer hat 1967 nach dem Sechstagekrieg den siegreichen Israelis nicht zugejubelt? Am 5. Juni 1967, also vor genau 56 Jahren, begann die israelische Armee einen Krieg gegen Ägypten, Jordanien und Syrien als präventive Massnahme, weil Israel sich von diesen Ländern militärisch bedroht fühlte. Die Methode des überraschenden Angriffskrieges, den Feinden also zuvorzukommen und nicht deren Angriff abzuwarten, bewährte sich: Schon nach sechs Tagen waren die Flugwaffen und weitere militärische Einheiten der angegriffenen Länder zerstört und besiegt und etliche Ländereien der drei angegriffenen Länder annektiert. Und, ich war damals 23jährig und erinnere mich sehr gut, fast der ganze Westen hat damals Israel zugejubelt: für den cleveren Präventivschlag! Allein auf ägyptischer Seite gab es über 10’000 Tote, dazu kamen die Toten auf jordanischer und syrischer Seite, und es gab natürlich ein Mehrfaches an Verletzten. Und Tausende von Palästinensern starben auf der Flucht, an Hunger und Erschöpfung. In der Summe forderte Israels präventiver Angriffskrieg über 20’000 Opfer, fast ausschließlich auf Seite der – mit einem Präventivschlag! – Besiegten.

Alles vergessen?

Interessant für geschichtskundige Leser und Leserinnen ist aber auch Eliot A. Cohens fast nebensächlich wirkende Bemerkung im letzten Abschnitt seines Russenhass-Artikels: «Der Schlüssel zu dieser (von ihm vorgeschlagenen, Red.) Strategie ist Mut. Wir müssen unsere Ängste vor den Drohungen und Eskalationen des Kremls, vor der russischen nuklearen Anmassung und vor einem Zusammenbruch Russlands überwinden. Wir müssen strategisch und klug vorgehen, aber ohne Mut ist nichts zu erreichen. Um es mit den Worten von Papst Johannes Paul II. zu sagen, dem Mann, der so viel dazu beigetragen hat, den Sowjetkommunismus ganz ohne Waffen in die Knie zu zwingen: ‹Zweifelt nie, werdet nie müde, und lasst euch nie entmutigen. Habt keine Angst.›»

Papst Johannes Paul II., der Mann, der soviel dazu beigetragen hat, den Sowjetkommunismus in die Knie zu zwingen? Ja, Papst Johannes Paul II. war jener – mit den Stimmen der US-amerikanischen Bischöfe gewählte – polnische Papst mit dem bürgerlichen Namen Karol Józef Wojtyla, der nicht nur in Polen den dortigen Sozialismus bekämpfte, sondern auch in ganz Lateinamerika die damals weitverbreitete Bewegung der Befreiungstheologie brutal abwürgte. Die «Theologie der Befreiung», begründet vom Theologen Gustavo Gutiérrez, vertrat die Lehre, die damals in Lateinamerika flächendeckende römisch-katholische Kirche solle sozialer werden, sich mehr um die Armen kümmern, statt nur die Reichen zu fördern und zu verherrlichen. Für den polnischen Papst war aber «sozial» ein Synonym für «kommunistisch», weshalb er führende Vertreter dieser sozialen Bewegung der Befreiungstheologie, zum Beispiel Erzbischof Aloisio Lorscheider in Fortaleza in Brasilien, in unbedeutende Bistümer versetzte, oder, wie Leonardo Boff, aus dem Amt vertrieb. Heute haben in vielen lateinamerikanischen Ländern die mit unendlich viel Geld ausgestatteten US-amerikanischen Evangelikalen das Sagen. Jair Bolsonaro aus Brasilien lässt grüßen.

Aber für Eliot A. Cohen, der heute zum Russenhass aufruft, hat Papst Johannes Paul II. im Kampf gegen den Sowjetkommunismus Großes geleistet. Und die NZZ gibt diesem US-amerikanischen Russen- und Befreiungstheologie-Hasser eine ganze Seite Platz, seine geopolitischen Empfehlungen auch in der Schweiz und in Deutschland zu verbreiten. Erstrebenswert ist offensichtlich auch für die NZZ nur die US-Weltherrschaft mit ihrem neoliberalen Wirtschaftssystem.

Es ist einfach grauenhaft.

Zum Artikel von Eliot A. Cohen deutsch in der NZZ.
Zum Originalartikel von Eliot A. Cohen englisch in der US-Zeitschrift «The Atlantic».
Zum Verzeichnis der Beiträge von Eliot A. Cohen in «The Atlantic»

(Red.) Christian Müller, Autor dieser Medienkritik, hat als damaliger Chefredakteur der «Luzerner Neusten Nachrichten» LNN an der sogenannten Medienkonferenz von Papst Johannes Paul II. in der Schweiz im Jahr 1984 (wo man notabene keine Fragen stellen durfte) persönlich teilnehmen können. Und er hat 1988 anläßlich einer ausgedehnten Brasilienreise auch mit Kardinal Aloisio Lorscheider in Fortaleza persönlich reden können.

Und was muss man heute Morgen, 2. Juni, auf «Foreign Affairs», der bestrenommierten Zeitschrift für die US-Außenpolitik, lesen? Die Ukraine solle Mitglied der NATO werden, und zwar JETZT! Autor ist der ex-Verteidigungsminister der Ukraine Andry Zagorodnyuk.