Die Zerstörungen durch die israelischen Streitkräfte im UNRWA-Flüchtlingslager Jabalia in Gaza (Photo Yahia Hassouna AFP)

Selbst die «RAND Corporation» erklärt Israels Strategie in Gaza für falsch und gescheitert

(Red.) Die RAND Corporation, eine weltberühmte US-amerikanische Forschungs- und Beratungsfirma, rühmt sich, in gut 50 Ländern 1800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu beschäftigen, die insgesamt in über 75 Sprachen forschen und kommunizieren können und von denen über tausend, also mehr als die Hälfte, über ein Doktorat oder sogar mehrere Doktorate verfügen. RAND ist also nicht einfach einer von unzähligen so genannten Thinktanks. Und was zu beachten besonders wichtig ist: RANDs beste Kunden sind das US-State Department (also das US-Außenministerium) und das US-Militär: die US-Army, die US-Air Force und das US-Department of Homeland Security. Diese staatlichen Kunden zahlen mehr als die Hälfte aller RAND-Einnahmen. Jetzt hat RAND auf ihrer Website ein vernichtendes Urteil über die israelische Strategie veröffentlicht. (cm)

Die Redensart „Gras mähen“ („mowing the grass“, Red.) war in den letzten anderthalb Jahrzehnten die Schlagzeile der israelischen Strategie in Gaza. Sie spielt sich auf folgende Weise ab: Die Palästinenser, frustriert über den Zustand der Enklave, wenden sich an die Hamas, um sich an Israel zu rächen. Israel verhängt Beschränkungen wie die Blockade des Gazastreifens und begründet dies mit Sicherheitsbedenken. Die Lebensbedingungen in Gaza verschlechtern sich weiter und die Unzufriedenheit wächst. Die Hamas, der Palästinensische Islamische Dschihad und andere Organisationen nutzen die Unzufriedenheit aus und greifen Israel an. Israel reagiert darauf, indem es „das Gras mäht“ und die Täter zusammen mit einer Reihe von Zivilisten tötet, was bestenfalls ein paar Jahre relativen Friedens bringt und langfristig die Radikalisierung weiter anheizt. Und so setzt sich der Kreislauf unendlich fort.

Das „Gras mähen“ verkörpert mehr als nur strategischen Fatalismus, es spiegelt auch ein großes Maß an Hybris wider. Im Kern geht es um die Annahme, dass Israel den Strom-Regler (Rheostat, Red.) in Gaza kontrollieren kann, indem es die Hamas gerade so hart trifft, dass sie davon abgehalten wird, Israel anzugreifen, aber nicht so hart, dass Gaza im Chaos versinkt oder in einem regionalen Krieg explodiert. Wie ein israelischer Verteidigungsanalyst über den Gaza-Krieg 2014 sagte: „Wir wollen ihnen die Knochen brechen, ohne sie ins Krankenhaus zu bringen.“

Das ist ein schwieriges, wenn nicht gar unmögliches Gleichgewicht, das Jahr für Jahr gefunden werden muss, vor allem, wenn der interne Druck in Gaza zunimmt. Die 2 Millionen Einwohner leben auf einer Fläche so groß wie Philadelphia. 80 Prozent von ihnen sind verarmt und 46 Prozent arbeitslos. Etwa 108.000 Kubikmeter ungeklärte Abwässer fließen täglich aus dem Gazastreifen ins Mittelmeer, und Trinkwasser ist nur schwer zu bekommen.

Vor diesem Hintergrund und in Ermangelung eines Weges zu etwas Besserem für die Menschen im Gazastreifen kann keine militärische Strategie zur Eindämmung der Gewalt auf Dauer erfolgreich sein. Ohne ein Sicherheitsventil war die Explosion des Gazastreifens schon programmiert.

Israels Strategie des Grasmähens scheiterte schließlich am 7. Oktober spektakulär. Der Angriff der Hamas hat deutlich gemacht, wie wenig Kontrolle Israel über den Gazastreifen hat. Es war nicht nur ein Versagen der Geheimdienste und ein operatives Versagen, sondern auch ein weitreichenderes strategisches Versagen. Der Kern der israelischen Strategie hat sich an einem einzigen Morgen als katastrophal falsch erwiesen.

Ob Israel dieses strategische Versagen verinnerlicht hat, bleibt eine andere, offene Frage. Premierminister Benjamin Netanjahu hat versprochen, die Abschreckung an Israels Grenzen wiederherzustellen, und das Land mobilisiert rund 360.000 Reservisten, was eine Verdreifachung der israelischen Streitkräfte bedeutet. Dies alles deutet auf eine Intensivierung hin: noch mehr Rasenmähen!

Aus rein militärischer Sicht stehen Israels härteste Tage wahrscheinlich noch bevor. Das ausgedehnte Tunnelnetz der Hamas unter dem Gazastreifen und die Drohung, zahlreiche Geiseln zu töten, machen eine groß angelegte Bodeninvasion wahrscheinlich. Das letzte Mal, als Israel 2014 einen Bodenkrieg im Gazastreifen führte, dauerte dieser 50 Tage, machte weite Teile des Streifens dem Erdboden gleich und forderte mehr als 70 israelische und 2000 palästinensische Tote. Die Zahl der Toten im aktuellen Gaza-Krieg hat diese Zahl bereits nach wenigen Tagen übertroffen und der Angriff auf dem Boden hat noch nicht einmal begonnen.

Aber wenn das Töten erst einmal vorbei ist, wird Israel etwas noch Schwierigeres tun müssen, wenn es eine Hoffnung haben will, den nächsten und übernächsten Krieg zu verhindern: Es muss den Gazastreifen in etwas Besseres umwandeln, als er war. Das bedeutet, den Einwohnern des Gazastreifens eine Chance auf wirtschaftlichen Wohlstand zu geben, möglicherweise sogar auf die Gefahr hin, dass die Blockade gelockert wird. Das bedeutet, den Bewohnern des Gazastreifens politische Alternativen zur Hamas und der korrupten und gefügigen Palästinensischen Autonomiebehörde zu bieten. Und es bedeutet, das soziale Gefüge des Gazastreifens wieder aufzubauen, das nach einem möglicherweise verheerenden Krieg, der die Enklave noch feindseliger gegenüber Israel machen könnte, wahrscheinlich noch mehr gespalten sein wird als schon jetzt.

Das ist nicht nur ein kostspieliges Unterfangen, zu dem ausgerechnet die israelischen Streitkräfte schon gar nicht geeignet sind. Es wird auch für die israelische Öffentlichkeit schwer zu ertragen sein, insbesondere angesichts des Ausmaßes der jüngsten Gräueltaten der Hamas. Es ist jedoch notwendig, um den Zyklus zu beenden, in dem das Gras gemäht wird, nur um es wieder wachsen zu sehen.

Zum Autor: Raphael S. Cohen ist Direktor des «Strategy and Doctrine Program», «RAND Project Air Force», und der Hauptautor von «From Cast Lead to Protective Edge: Lessons from Israel’s Wars in Gaza». Raphael S. Cohen ist selber Jude. Dieser sein Kommentar erschien ursprünglich in der Los Angeles Times am 19. Oktober 2023. Kommentare bieten RAND-Forschern eine Plattform, um Erkenntnisse zu vermitteln, die auf ihrer professionellen Expertise und oft auch auf ihrer von Experten begutachteten Forschung und Analyse basieren.

Zum Originalartikel auf der Website der RAND Corporation. Die Übersetzung besorgte Christian Müller.

Weitere Photos von den Zerstörungen in Gaza durch die israelischen Streitkräfte hier.