Schweizer Neutralität – Der Einsatz für den Frieden hat einen Preis, den wir uns leisten können – und leisten müssen!
(Red.) Wann waren wir einem großen Krieg – einem dritten Weltkrieg! – näher als heute, am Tag des 75-Jahr-Jubiläums der NATO, die sich mit voller Kraft für eine weitere Eskalation im Stellvertreterkrieg der USA gegen Russland einsetzt? Und wann wären erfahrene, echt unabhängige und vor allem auch gewichtige Vermittler nötiger gewesen als heute, wo jeder, der das Wort „verhandeln“ schon nur in den Mund nimmt, von den großen Medien gleich mit Spott und Hohn übergossen wird? Globalbridge.ch gibt, nicht zum ersten Mal, einem Schweizer Historiker das Wort. (cm)
Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk führte kürzlich aus, die Schweiz widerlege die weitverbreitete Behauptung von der Unmöglichkeit der direkten Demokratie. Er meint weiter: «Deshalb gibt es den Versuch, die Schweiz zu nivellieren. Dem ist mit Widerspruch zu begegnen, dem Versuch von aussen ebenso wie den selbstnivellierenden Tendenzen im Innern.» Dasselbe kann auch von der Schweizer Neutralität gesagt werden. Sie ist bereits seit längerer Zeit nivelliert, und zwar von aussen durch den Druck der USA und der EU sowie durch die Anpassung an das NATO-Niveau. Aber auch im Inneren läuft punkto Neutralität seit dem Ende des Kalten Krieges eine beispiellose Nivellierung, die nun angesichts des Ukraine-Krieges mithilfe von medialen und parteipolitischen Sperrfeuern einen Tiefpunkt erreicht hat. Die Schweizer Neutralität ist heute praktisch pulverisiert. Das Resultat der Bürgenstock-Konferenz und das Gebaren des Bundesrates zeigen diese Tatsache mit aller Deutlichkeit. Die Schweiz ist im «westlichen Lager» voll integriert und alles andere als neutral. Zur Unterstützung dieser Unterwerfungsgeste wird immer wieder das Argument ins Feld geführt, die Schweiz müsse endlich dem Völkerrecht folgen und der UN-Charta, und nicht mehr veralteten Verträgen wie der Haager Konvention. Dieses Argument ist unhaltbar und will die derzeitige Lage der Schweiz im internationalen Gefüge zementieren. Die jüngst eingereichte Neutralitätsinitiative leistet deshalb hier Widerspruch und will die Schweizer Neutralität in der Verfassung und im Bewusstsein der Schweizer Bevölkerung wieder verankern.
Die UN-Charta und das Gewaltverbot
Die Schweiz ist seit 2002 UNO-Mitglied und hat sich grundsätzlich an die UN-Charta zu halten. Die UN-Charta ist geltendes Völkerrecht und beinhaltet ein Gewaltverbot. In der Präambel der UN-Charta heisst es: «Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geissel des Krieges zu bewahren.» Diese Charta ist nach dem Zweiten Weltkrieg zweifellos ein grosser Fortschritt und stellt auf dem Weg zur Konkretisierung des Völkerrechts eine wichtige Wegmarke dar. Das Gewaltverbot kommt aber wegen zwei Einschränkungen gleich wieder ins Wanken. Die erste Einschränkung bezeichnet das «naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung» (Art. 51). Die zweite Einschränkung umschreibt das Recht des UN-Sicherheitsrates mit einem entsprechenden Mandat Gewalt anwenden zu dürfen (Art. 42ff.). Die politische Praxis seit der Gründung der UNO zeigt die Problematik der Ausnahmeregelungen auf. Die Grossmächte inszenierten mithilfe der Einschränkungen des Gewaltverbots direkt oder indirekt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs praktisch permanent Kriege. Als «einzige» Weltmacht führen die USA seit dem Ende des Kalten Krieges diese Kriegspraxis weiter, ganz egal ob mit oder ohne UN-Mandat.
Der Erste Golfkrieg 1990/91 als «völkerrechtskonformer Krieg» und die Positionierung der Schweiz
Der Erste Golfkrieg 1990/91 war durch eine Resolution des Sicherheitsrates «völkerrechtskonform». Nach der Besetzung und Annexion Kuwaits durch den Irak beschloss der Sicherheitsrat zuerst Wirtschaftssanktionen. Aber bald schon waren die USA angesichts der Unnachgiebigkeit Saddam Husseins weder bereit, die Wirkung der UNO-Wirtschaftssanktionen länger abzuwarten noch auf Vermittlungsbemühungen des sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschows einzugehen. Die USA verfolgten dabei ihre eigenen geo- und machtpolitischen Ziele. Unmittelbar nach dem Ablauf eines Ultimatums und gestützt auf einen Beschluss des Sicherheitsrates löste die alliierte Luftwaffe, angeführt von den USA, einen brutalen Luftkrieg gegen den Irak aus. Von den knapp 90’000 Tonnen Bomben, welche die Alliierten über dem Irak abwarfen, trafen rund zwei Drittel die beabsichtigen Ziele nicht. Die Zahl der vor allem zivilen Opfer dieser Bombardierungen wird auf 150’000 geschätzt. Und das soll «völkerrechtskonform» sein? Der Luftkrieg dauerte über einen Monat, der dann ausgelöste Angriff der Bodentruppen bis zur völligen Kapitulation der irakischen Armee nur einige Tage. Aber auch danach unterlag der Irak weiterhin einem strikten Wirtschaftsembargo, das wiederum durch ein Mandat des Sicherheitsrates abgesichert war.
Obwohl die Schweiz damals noch kein UNO-Mitglied war, erklärte der Bundesrat den autonomen Nachvollzug der Wirtschaftssanktionen gegen den Irak. Dies, so der Bundesrat, sei mit der Neutralität vereinbar. In einer Broschüre zur «Schweizer Neutralität» aus dem Jahre 2004, die allerdings nicht mehr greifbar ist, heisst es auf der Seite 21: «Die Schweiz rückt von der integralen Neutralität ab. Sie beteiligt sich an Wirtschaftssanktionen gegen Irak.» In der neuen Broschüre von EDA und VBS (März 2022) steht davon nichts mehr! Dieser Strategiewechsel, der gleichzeitig eine Erosion der Schweizer Neutralität bedeutete, wurde in der Folge nie öffentlich diskutiert. Es folgten in den 1990er Jahren Wirtschaftssanktionen gegen Libyen, Haiti und Jugoslawien. Der Neutralitätsbericht des Bundesrates von 1993 bestätigte und unterstrich diese Neuorientierung.
Wirtschaftssanktionen bringen nachweislich nichts, das zeigten insbesondere auch die Sanktionen gegen den Irak, die nach dem Krieg noch jahrelang fortgeführt wurden. Sie treffen vor allem die unschuldige Zivilbevölkerung und verstossen gegen das Völkerrecht (besonders das humanitäre Völkerrecht) und die Menschenrechte. Die Zerstörung der Infrastruktur und besonders des Gesundheitswesens im Irak hatte verheerende Folgen: Zwischen 1991 und 2001 starben im Irak nach Angaben von UN-Organisationen wie UNICEF oder WHO mehr als eine Million Menschen, darunter mehr als 500‘000 Kinder unter fünf Jahren, und dies wegen der Wirtschaftssanktionen, also wegen fehlender Nahrungsmittel und medizinischer Hilfe. Solche Tatsachen bestätigt auch ein dramatischer Bericht von Hans-Christof von Sponeck, der nach rund 16 Monaten als Koordinator des humanitären UN-Hilfsprogramms für den Irak aus Protest gegen die Sanktionen seinen Rücktritt erklärte. Für die Folgen, welche die irakische Zivilbevölkerunge tragen musste, ist auch die Schweiz verantwortlich. Sie hat kritiklos die Wirtschaftssanktionen mitgetragen und damit die Neutralität schwer beschädigt.
Solche Sanktionen wären nach einer Annahme der Neutralitätsinitiative nicht mehr möglich und die Schweiz könnte mehr für den Frieden tun. Der Bundesrat schreibt als Reaktion auf die zustande gekommene Initiative, die er ohne Gegenvorschlag ablehnt, dass Sanktionen «der Aufrechterhaltung einer friedlichen und gerechten internationalen Ordnung» dienen würden. Wie am obigen Beispiel gezeigt, ist so eine Aussage völlig realitätsfremd. Sanktionen bedeuten immer eine intensivierte gegenseitige Entfremdung der Konfliktparteien, der eigentliche Krieg wird verlängert und eine spätere Völkerverständigung wird um ein Vielfaches erschwert.
Das Völkerrecht ist «prekär»
Das Beispiel des Ersten Golfkrieges zeigt gut das Prekäre des heute geltenden Völkerrechts auf. Auch der bekannte Schweizer Völkerrechtler Oliver Diggelmann unterstreicht diesen Umstand in seinem Standardwerk «Völkerrecht. Geschichte und Grundlagen mit Seitenblicken auf die Schweiz». Im Hinblick unter anderem auf die UN-Charta schreibt er: «Völkerrecht entsteht nicht nur anders als innerstaatliches Recht. Es wird auch anders durchgesetzt, ist insgesamt unsicherer, diffuser, weniger erwartungssicher. Das Nebeneinander von Hochentwickeltem und Prekärem, das so irritiert, kennen wir im innerstaatlichen Bereich nicht. Dieses Irritierende ist nichts Vorübergehendes. Es ist keine Anomalie des Völkerrechts, die so bald verschwinden wird.»
Der Erste Golfkrieg war für den Machtanspruch der USA nach dem Ende des Kalten Krieges nur der Anfang. Vor den meisten nachfolgenden Kriegen warteten die USA gar keinen Sicherheitsratsbeschluss mehr ab, sondern setzten ihre Militärmaschinerie, unterstützt von weiteren «Willigen», darunter auch Söldner, ein. Als Beispiel dafür kann der Serbien-/Kosovokrieg von 1999 angeführt werden, der ohne UN-Mandat losgetreten wurde. Auch in diesem Krieg fanden schwerste Kriegsverbrechen statt. So hatte der Einsatz von DU-Munition («Depleted Uranium») verheerende Folgen für die kämpfenden Soldaten auf beiden Seiten und für die Zivilbevölkerung («Balkan-Syndrom»), und das nachweislich wegen der eingesetzten Munition. Im Irak und in Serbien/Kosovo erreicht die Krebsrate bis heute ungeahnte Höhen. Die USA und ihre Verbündeten verletzten eklatante Grundlagen des humanitären Völkerrechts, sind aber seither praktisch noch nie dafür belangt worden.
Die «wertebasierte Ordnung» des Westens
Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg wird immer wieder das westliches Narrativ von einer «wertebasierten Ordnung» ins Feld geführt. Die Frage ist nur, welche «Ordnung» in unserer chaotischen Welt gemeint ist, und besonders auf welche «Werte» sich die westlichen Staaten abstützen? Der Wert der «Demokratie» zum Beispiel ist in einigen europäischen Ländern und in den USA einer dramatischen Erosion ausgesetzt, wie wir gerade aktuell verfolgen können. Interessant zu beobachten ist jedoch, wie unterschiedlich die Länder in Lateinamerika, Afrika und Asien die laufenden Konflikte und Kriege sehen. Sie setzen der platten Geschichtsschreibung, Putin habe mit seinem Angriff auf die Ukraine das Völkerrecht verletzt und damit die «regelbasierte Sicherheitsordnung» zerstört, wie sie seit dem Ende des Kalten Krieges Bestand gehabt habe, ihre eigene Einschätzung entgegen. Sie betonen die lange Vorgeschichte von Konflikten und dass das «völkerrechtliche Selbstverteidigungsrecht» in den meisten Kriegen seit dem Zweiten Weltkrieg zur Kriegslogik des Westens gehöre. Damit wolle man bloss die Kriege an sich und die Fortdauer von Kriegen rechtfertigen. Speziell das Humanitäre Völkerrecht werde dabei mit Füssen getreten.
Gerade die Länder des Südens drängen, die nötigen Reformen der UN-Institutionen, besonders des Sicherheitsrates, nun anzugehen, damit diese der neu gestaltenden Multipolarität der Welt endlich Rechnung tragen und damit sich das Völkerrecht in gerechter Weise weiterentwickeln könne.
Die neutrale Schweiz als Garant des Humanitären Völkerrechts
Die Schweiz ist Depositarstaat der Genfer Konventionen. Gerade aus dieser verantwortungsvollen Position heraus sollte die Schweiz das Humanitäre Völkerrecht verteidigen und auf eine glaubwürdige neutrale Position setzen. Das Humanitäre Völkerrecht ist weniger prekär wie die UN-Charta, die – wie gezeigt – auf einer labilen völkerrechtlichen Grundlage steht. Die UN-Charta wird immer wieder gegen die Schweizer Neutralität ausgespielt. Diese ist historisch gewachsen und basiert auf älteren Verträgen, so etwa der Wiener Kongress-Akte von 1815 und einer Haager Konvention von 1907. Das Alter eines Dokumentes sagt prinzipiell nichts bezüglich seiner Bedeutung für die Gegenwart aus. Die Präambel der UN-Charta sagt es so: «Wir, die Völker der Vereinten Nationen – fest entschlossen, […] Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können.» Das Wesen der Schweizer Neutralität besteht aber nicht nur aus Verträgen und Dokumenten, die Neutralität ist Kopf, Herz und Seele der Schweiz, sie wird verdichtet in einer bestimmten Gesinnung und in einem bestimmten Tun.
Die Schweizer Geschichte der Neutralität beinhaltet zahlreiche positive Beispiele der Vermittlung und der Friedensdienste. Leider sind diese besonders für die Zeit des Kalten Krieges bisher zu wenig seriös aufgearbeitet worden. Das soll nun mit konkreten Studien nachgeholt werden.
Die Bedeutung der Neutralitätsinitiative
Die laut Bundeskanzlei zustande gekommene Neutralitätsinitiative schafft die nötige Klarheit und gibt dem Bundesrat und dem Parlament Orientierung. Das ist zentral in einer zunehmend kriegerischen Zeit. Die Schweizer Neutralität gehört klar definiert in die Bundesverfassung. Der Bundesrat sagt in einem Papier, das seine Argumente gegen die Neutralitätsinitiative zusammenfassen soll: «Sie (die bisherige Neutralitätspraxis der Schweiz) bietet eine gewisse Flexibilität und kann so optimal als Instrument für die Wahrung der nationalen Interessen angewendet werden.» Solch eine «Rosinenpicker-Mentalität» wird die Schweiz als Profiteur aussehen lassen. Diese «Flexibilität», diese Neutralität à la carte sollte der Vergangenheit angehören, das muss sich ändern.
Die Schweizer Neutralität hat einen Preis. Diesen Preis, so hoch er auch ist, muss die Schweiz zugunsten des Friedens aufbringen, auch wenn sie von Grossmächten angefeindet wird. Denn, so schreibt der Schweizer Historiker Wolfgang von Wartburg: «Es muss einen Ort auf der Welt geben, der ausschliesslich dem Frieden dient.» Mit der Annahme und der Umsetzung der Neutralitätsinitiative kann gewährleistet werden, dass es keine weitere Annäherung an die NATO gibt und die Schweiz konsequent dem Frieden dienen kann. Dann wird gelten, was der liberale Vordenker Robert Nef bezüglich der Beständigkeit der Neutralität ausführt: «Es gehört zum Wesen von Prinzipen, dass sie auf Dauer angelegt sind und sich gegenüber dem Wandel des Zeitgeists als resistent erweisen müssen.» Diese Widerstandsfähigkeit und Standfestigkeit kann die Schweiz mithilfe der Annahme der Initiative wieder entwickeln und gleichzeitig Denkprozesse anstossen, wie das allgemeine Völkerrecht (u.a. die UN-Charta) auf einem naturrechtlich fundierten Menschenbild noch besser dem Frieden dienen kann.
Zum Autor: René Roca ist promovierter Historiker und Mitglied des Initiativkomitees „Wahrung der schweizerischen Neutralität (Neutralitätsinitiative)“
Siehe auch: «Die Schweiz ist als neutraler Staat für Vermittlungen prädestiniert – und die Welt braucht Vermittler!» (Von Christian Müller)