«Russland hat keinen Grund, schneller vorzugehen»

(Red.) Der gebürtige Russe Dmitry Orlov, geboren 1962, kam im zwölften Lebensjahr in die USA und erhielt dort auch das US-Bürgerrecht. 2012 kehrte er nach Russland zurück und lebt heute in St. Petersburg. Dmitry Orlov kommt in der Beurteilung der westlichen Sanktionen gegen Russland zu einem ganz anderen Urteil als die westlichen Medien: Russland werde langfristig davon ausgesprochen profitieren. Russland werde auch kulturell wieder mehr zu sich selber finden. Und Russland habe auch keinen Grund, sich im Krieg in der Ukraine zu beeilen, die von Russland vorgegebene Geschwindigkeit sei kein Schwächezeichen, sondern eine gut austarierte Lösung. – Orlovs Analyse müsste etlichen europäischen Politikern sehr zu denken geben. (cm)

Achtung: In einer ersten Online-Schaltung wurde ein anderer Dmitry Orlov gezeigt, der Finanz-Professor in Wisconsin ist. Wir entschuldigen uns für diesen Fehler in aller Form bei dem dortigen Dmitry Orlov und bei all unseren Leserinnen und Lesern. Und wir bedanken uns sehr für die Rückmeldungen mit den Hinweisen auf diesen Fehler. (cm)

Sind Sie mit dem Verlauf des Krieges in der ehemaligen Ukraine zufrieden? Die meisten Menschen sind es nicht – aus dem einen oder anderen Grund. Einige hassen die Tatsache, dass es dort überhaupt einen Krieg gibt, während andere ihn lieben, aber die Tatsache hassen, dass er noch nicht gewonnen wurde, weder von der einen noch von der anderen Seite. Auf beiden Seiten des neuen Eisernen Vorhangs, der in aller Eile quer durch Eurasien zwischen dem kollektiven Westen und dem kollektiven Osten errichtet wird, finden sich reichlich Vertreter dieser beiden Arten von Hassern. Das scheint vernünftig zu sein; schließlich ist es für die meisten Menschen normal, den Krieg zu hassen (Krieg ist die Hölle, das wissen Sie doch!), und folglich ist ein kleiner Krieg besser als ein großer und ein kurzer Krieg besser als ein langer. Außerdem ist eine solche Argumentation banal, abgedroschen, platt, fade, vorhersehbar, phantasielos und … bromid (wie es in Englisch heisst). 

Selten findet sich ein Kriegsbeobachter, der mit dem Verlauf und der Dauer des Krieges zufrieden ist. Glücklicherweise zeigt das russische Staatsfernsehen fast täglich den wichtigsten Kopf dieses Krieges. Es ist der russische Präsident Wladimir Wladimirowitsch Putin. Ich beobachte ihn seit mehr als zwanzig Jahren und kann mit Überzeugung sagen, dass er noch nie eine so ruhige, selbstsichere Gelassenheit ausstrahlte, die sogar von einem skurrilen Humor durchzogen war, wie jetzt. Das ist nicht das Verhalten von jemandem, der das Gefühl hat, einen Krieg verlieren zu können. Die hohen Tiere im Verteidigungsministerium wirken vor der Kamera eher mürrisch und bedrückt – ein Verhalten, das zu Männern passt, die andere Männer in den Kampf und möglicherweise in die Verwundung oder den Tod schicken; aber hinter der Kamera schenken sie sich gegenseitig ein kurzes Mona-Lisa-Lächeln. (Russische Männer grinsen nicht mit dummen Fischaugen nach amerikanischem Vorbild, zeigen beim Lächeln selten ihre Zähne und niemals in Gegenwart von Wölfen oder Bären.)

In Anbetracht der Tatsache, dass Putins Zustimmungsrate bei etwa 80 Prozent liegt (eine Zahl, die von keinem westlichen Politiker erreichbar ist), kann man davon ausgehen, dass er nur die sichtbare Spitze eines gigantischen Eisbergs von 100 Millionen Russen ist, die in aller Ruhe den erfolgreichen Abschluss der militärischen Sonderoperation zur Entmilitarisierung und Entnazifizierung der ehemaligen Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik erwarten (bitte nennen auch Sie es nicht Krieg). Von diesen 100 Millionen Russen hört man selten etwas, und wenn sie sich zu Wort melden, dann nur, um gegen bürokratische Erschwerungen zu protestieren oder um private Gelder zu sammeln, mit denen ein Mangel an speziellen Ausrüstungsgegenständen, die von den Truppen angefordert werden, behoben werden soll: Nachtsichtgeräte, Quadrocopter, optische Visiere und alle Arten von ausgefallener taktischer Ausrüstung. 

Sehr viel mehr Lärm machen die ein oder zwei Prozent, deren gesamter Geschäftsplan durch das plötzliche Auftauchen des Neuen Eisernen Vorhangs zunichte gemacht wurde. Die dümmsten von ihnen dachten, dass eine Flucht nach Westen oder Süden (in die Türkei, nach Kasachstan oder Georgien) ihr Problem irgendwie auf magische Weise lösen würde. Das hat es nicht und wird es auch nicht. Die Leute, von denen man erwarten würde, dass sie am lautesten schreien, sind die LGBTQ+-Aktivisten, die dachten, sie könnten mit westlichen Fördergeldern Ost-Sodom und Ost-Gomorrha errichten. Sie wurden durch neue russische Gesetze, die diese Aktivisten als ausländische Agenten einstufen und ihre Art von Propaganda verbieten, behindert und mundtot gemacht. Sogar der Begriff LGBTQ+ ist jetzt illegal, und so werden sie wohl stattdessen PPPPP+ verwenden müssen („P“ steht für „pídor“, den allgemeinen russischen Begriff für jede Art von sexueller Perversion, Entartung oder Abweichung). Aber ich schweife ab …

Es lässt sich ziemlich leicht feststellen, dass diejenigen, die mit dem Verlauf der russischen Kampagne am wenigsten zufrieden sind, auch am wenigsten russisch sind. Am wenigsten glücklich sind die guten Leute im Zentrum für Informations- und Polit-Operationen des ukrainischen Sicherheitsdienstes, die mit der Erfindung und Aufrechterhaltung des Phantoms des ukrainischen Sieges beauftragt sind. Dahinter folgen Leute in und um Washington, die über die russische Trödelei und das Zaudern ziemlich wütend sind. Zu diesem Zweck haben sie jede taktische Umgruppierung oder jeden taktischen Rückzug der Russen als große, demütigende Niederlage für Putin persönlich dargestellt und jeden unerbittlichen, selbstmörderischen ukrainischen Angriff auf russische Stellungen als großen, heldenhaften Sieg gefeiert. Diese PR-Taktik hat zwischenzeitlich aber an Wirksamkeit verloren und inzwischen ist die Ukraine in den USA zu einem toxischen Thema geworden, das die meisten amerikanischen Politiker lieber vergessen oder zumindest aus den Nachrichten heraushalten würden. (Was seit dem Besuch von Wolodymyr Selenskyj im Pentagon vor zwei Tagen offensichtlich nicht mehr stimmt. Red.)

Die Russen waren viel erfolgreicher als wie sie im Westen dargestellt werden

Fairerweise muss man sagen, dass das taktische Katz-und-Maus-Spiel der Russen in diesem Konflikt nichts weniger als ärgerlich war. Die Russen haben einige Zeit damit verbracht, Kiew zu umzingeln, um die ukrainischen Truppen vom Donbass wegzulocken und einen ukrainischen Angriff auf den Donbass zu verhindern. Als das geschafft war, zogen sie sich zurück. Ein großer ukrainischer Sieg! Sie verbrachten auch einige Zeit damit, die Schwarzmeerküste bei Odessa zu umrunden und mit einer Invasion auf dem Seeweg zu drohen, um die ukrainischen Truppen in diese Richtung abzulenken, griffen aber nie ein. Ein weiterer ukrainischer Sieg! Die Russen besetzten einen großen Teil der Region Charkow, den die Ukrainer weitgehend unverteidigt ließen, und zogen sich dann, als die Ukrainer endlich auf sie aufmerksam wurden, teilweise hinter einen Fluss zurück, um Ressourcen zu sparen. Ein weiterer ukrainischer Sieg! Die Russen besetzten/befreiten die Regionalhauptstadt Cherson, evakuierten alle Menschen, die evakuiert werden wollten, und zogen sich dann in eine verteidigungsfähige Stellung hinter einem Fluss zurück. Wieder ein Sieg! Bei all diesen ukrainischen Siegen ist es wirklich ein Wunder, dass es den Russen gelungen ist, etwa 100 Quadratkilometer mit den wertvollsten Immobilien der ehemaligen Ukraine zu erobern, über 6 Millionen Einwohner für sich zu gewinnen, einen Landweg zur Krim zu sichern und einen lebenswichtigen Kanal zu öffnen, der die Krim mit Wasser für die Landwirtschaft versorgt und den die Ukrainer nach der Wiedervereinigung der Krim mit Russland blockiert hatten. Das sieht ganz und gar nicht nach einer Niederlage aus, sondern nach einem hervorragenden Ergebnis einer einzigen, begrenzten Sommerkampagne. 

Russland hat bereits mehrere seiner strategischen Ziele erreicht, der Rest kann warten. Wie lange sollten sie warten? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir über den begrenzten Rahmen von Russlands Sondereinsatz in der Ukraine hinausschauen. Russland hat größere Fische zu braten, und Fische zu braten braucht Zeit, weil der Verzehr von unzureichend gekochtem Fisch unangenehme Parasiten wie Bandwürmer und Leberegel verursachen kann. Deshalb möchte ich Sie in die geheime Küche von Mütterchen Russland einladen, um zu sehen, was auf dem Schneidebrett liegt, und um abschätzen zu können, wie viel Koch-Verarbeitung nötig ist, um daraus eine sichere und nahrhafte Mahlzeit zu machen. 

Um unsere Lebensmittel-Metaphern zu vermischen, möchte ich Ihnen Goldlöckchen mit ihren drei Bären und ihrem Brei vorstellen (diese Metapher bezieht sich auf ein russisches Märchen, Red.), der nicht zu heiß und nicht zu kalt ist. Russland scheint seine spezielle Militäroperation in einem gleichmäßigen Tempo voranzutreiben – nicht zu schnell und nicht zu langsam. Ein zu schnelles Vorgehen würde nicht genug Zeit lassen, um die verschiedenen Fische zu kochen. Ein zu schnelles Vorgehen würde auch die Kosten der Kampagne in Form von mehr Opfern und Verschleuderung von Ressourcen erhöhen. Ein zu langsames Vorgehen würde den Ukrainern und der NATO Zeit geben, sich neu zu formieren und aufzurüsten, und eine ordnungsgemäße Zubereitung der verschiedenen Fischsorten verhindern. 

In dem Bemühen, das optimale Tempo für den Konflikt zu finden, setzte Russland zunächst nur ein Zehntel seiner aktiven Berufssoldaten ein und bemühte sich dann, die Zahl der Opfer zu minimieren. Erst als das Kiewer Regime versuchte, die Brücke über die Straße von Kertsch, die die Krim mit dem russischen Festland verbindet, zu sprengen, entschied sich Russland, die Lichter in der gesamten ehemaligen Ukraine auszuschalten. Schließlich hat sie nur 1 Prozent der Reservisten einberufen, um die Truppen an der Front zu entlasten und sich möglicherweise auf die nächste Phase vorzubereiten – einen Winterfeldzug, für den die Russen ja bekannt sind. 

So kämpfte und kämpft der Westen gegen Russland

Mit diesen Hintergrundinformationen können wir nun die verschiedenen Nebenziele aufzählen und beschreiben, die Russland im Laufe dieses Krieges zu erreichen gedenkt. Die erste und vielleicht wichtigste Gruppe von Problemen, die Russland im Verlauf des Krieges zu lösen hat, ist interner Natur. Das Ziel besteht darin, die russische Gesellschaft, Wirtschaft und das Finanzsystem so umzugestalten, dass es auf eine entwestlichte Zukunft vorbereitet ist. Seit dem Zusammenbruch der UdSSR haben verschiedene westliche Agenten wie das «National Endowment for Democracy», das US-Außenministerium, verschiedene Stiftungen im Besitz von Soros und ein breites Spektrum westlicher Stipendien- und Austauschprogramme ernsthaft in Russland Fuß gefasst. Das übergeordnete Ziel bestand darin, Russland zu schwächen und schließlich zu zerstückeln und zu vernichten, um es zu einem willfährigen Diener westlicher Regierungen und transnationaler Konzerne zu machen, der sie mit billigen Arbeitskräften und Rohstoffen versorgt. Um diesen Prozess zu unterstützen, taten diese westlichen Organisationen alles in ihrer Macht Stehende, um das russische Volk in Richtung seiner biologischen Ausrottung zu treiben und es durch eine fügsamere und weniger abenteuerlustige Rasse zu ersetzen. 

Vor über 30 Jahren begannen westliche Nichtregierungsorganisationen damit, die russische Jugend geistig zu korrumpieren. Es wurden keine Mühen gescheut, den Wert der russischen Kultur zu verunglimpfen, die russische Geschichte zu verfälschen und sie durch westliche Popkultur und Propagandanachrichten zu ersetzen. Diese Initiativen hatten nur begrenzten Erfolg, und die UdSSR und die Kultur der Sowjetzeit sind selbst bei denjenigen, die zu jung waren, um das Leben in der UdSSR aus erster Hand mitzuerleben, nach wie vor populär. Der größte Schaden ist im Bereich der Bildung entstanden. Ausgezeichnete Lehrbücher aus der Sowjetzeit, die den Schülern unabhängiges Denken beibrachten, wurden zerstört und durch Importe ersetzt. Diese waren bestenfalls für die Ausbildung von Fachleuten in eng umrissenen Bereichen nützlich, die vorher festgelegte Verfahren und Rezepte befolgen, aber nicht erklären können, wie diese Verfahren und Rezepte zustande gekommen sind oder neue schaffen können. Russische Lehrer, die ihre Aufgabe nicht nur darin sahen, zu unterrichten, sondern ihre Schüler zu guten Russen zu erziehen, die ihr Land lieben und wertschätzen, wurden durch westlich ausgebildete Pädagogen ersetzt, die ihre Aufgabe darin sahen, eine wettbewerbsfähige, marktorientierte Dienstleistung zu erbringen, indem sie qualifizierte, kompetente … Konsumenten heranzogen! Wer sind diese Leute? Nun, zum Glück erinnert sich das Internet an alles, und es gibt viele andere Jobs für diese Leute, wie zum Beispiel Schnee schippen und Öfen anheizen. Aber sie zu identifizieren und zu ersetzen kostet Zeit, ebenso wie das Auffinden, Aktualisieren und Reproduzieren der älteren, hervorragenden Schulbücher. 

Aber was ist mit den jungen Menschen, die von dieser Zerstörungswelle zurückgelassen werden? Glücklicherweise ist noch nicht alles verloren. Die militärische Sonderoperation vermittelt ihnen einige sehr wertvolle Lektionen, die ihre unwissenden Pädagogen ausgelassen haben: dass Russland, diese einzigartige, wunderbare Vereinigung vieler verschiedener Nationen, Sprachen und Religionen, im Laufe der Jahrhunderte durch die Bemühungen von Helden, deren Namen nicht nur in Erinnerung bleiben, sondern verehrt werden, bewahrt und erweitert worden ist. Mehr noch, einige von ihnen sind heute noch am Leben und kämpfen und arbeiten im Donbass. Es ist die eine Sache, Museen zu besuchen, alte Bücher zu lesen und Geschichten über die großen Taten der eigenen Großväter und Urgroßväter während des Großen Vaterländischen Krieges zu hören. Es ist die ganz andere Sache, die Geschichte mit den Augen des eigenen Vaters oder Bruders zu sehen. In ein oder zwei Jahren wird die russische Jugend wieder lernen, mit Verachtung auf die Produkte der westlich orientierten russischen Kulturschaffenden zu blicken. Die Älteren tun dies bereits: Meinungsumfragen zeigen, dass eine große Mehrheit der Russen den westlichen kulturellen Einfluss negativ beurteilt. 

Der Blick auf die Kulturliebhaber …

Und was ist mit diesen russischen Kulturliebhabern, die seit Menschengedenken alles Westliche verehren? Hier ist etwas höchst Merkwürdiges passiert. Als die militärische Sonderoperation angekündigt wurde, sprachen sie sich dagegen und für die ukrainischen Nazis aus – eine Dummheit, aber sie hielten es für gut und richtig, ihre politischen Ansichten mit denen ihrer westlichen Gönner und Idole in Einklang zu bringen, um in deren Gunst zu bleiben. Einige von ihnen protestierten gegen den Krieg (wobei sie die Tatsache ignorierten, dass dieser bereits seit acht langen Jahren andauerte). Und dann flohen einige von ihnen in unangemessener Eile aus dem Land. 

Bedenken Sie, dass es sich dabei weder um Gehirnchirurgen noch um Raketenwissenschaftler handelt, sondern um Menschen, die auf der Bühne herumtänzeln und dabei Geräusche mit ihren Händen und ihrem Mund machen. Oder um Menschen, die dasitzen, während Maskenbildner ihr Gesicht und ihre Haare verschönern, und dann endlos Zeilen wiederholen, die ihnen jemand anderes auf den Leib geschrieben hat. Das sind keine Menschen, die die Fähigkeit haben, eine heikle politische Situation zu analysieren und die richtige Wahl zu treffen. In einem früheren, gesünderen Zeitalter hätte man ihre Meinung konsequent ignoriert, aber das Internet, die sozialen Medien und andere neue Informationsmedien haben so eine Wirkung, dass jeder hysterische Trottel ein kleines Video drehen kann und Millionen von Menschen, die nichts Besseres mit ihrer Zeit anzufangen wissen, es sich auf ihren Handys ansehen und Kommentare dazu abgeben. 

Die Tatsache, dass diese Leute den russischen Medienraum nun freiwillig von ihrer Präsenz säubern, ist eine positive Entwicklung, aber das braucht Zeit. Wenn die militärische Sonderoperation morgen zu Ende ginge, würden sie zweifellos versuchen, zurückzukommen und so zu tun, als sei nichts von alledem geschehen. Und dann würde die russische Populärkultur eine westlich geprägte Jauchegrube voller nichtssagender Persönlichkeiten bleiben, die jede einzelne Todsünde verherrlichen würden, nur um persönlich bekannt zu werden und sich zu bereichern. Russland hat viele talentierte Menschen, die bereit sind, ihren Platz einzunehmen – wenn sie nur lange genug wegbleiben würden, damit alle sie vergessen können! 

… und auf die westlich orientierten Finanzhaie

Besonders schädlich für Russlands Zukunft ist das Aufkommen und die Vorherrschaft prowestlicher Wirtschafts- und Finanzeliten. Seit der willkürlichen und in vielen Fällen kriminellen Privatisierung staatlicher Ressourcen in den 1990er Jahren ist eine ganze Kohorte mächtiger Wirtschaftsakteure herangewachsen, die nicht die Interessen Russlands im Sinn haben. Vielmehr handelt es sich um rein egoistische Wirtschaftsakteure, die bis vor kurzem glaubten, mit ihren unrechtmäßig erworbenen Gewinnen in die vornehme westliche Gesellschaft eintreten zu können. Diese Leute haben in der Regel mehr als einen Pass, sie versuchen, ihre Familien in irgendeiner wohlhabenden Enklave außerhalb Russlands unterzubringen, sie schicken ihre Kinder auf Schulen und Universitäten im Westen, und für sie ist Russland nur ein Territorium, das sie für ihre Pläne zur Gewinnung von Reichtum ausnutzen können. 

Als der Westen als Reaktion auf den Beginn der russischen Militäroperation einen spekulativen Angriff auf den Rubel startete und die russische Zentralbank zwang, strenge Devisenkontrollen einzuführen, waren diese Mitglieder der russischen Geldelite gezwungen, über eine folgenschwere Entscheidung nachzudenken. Sie konnten in Russland bleiben, aber dann mussten sie ihre Verbindungen zum Westen kappen. Oder sie konnten in den Westen ziehen und von ihren Ersparnissen leben, aber dann waren sie von der Quelle ihres Reichtums abgeschnitten. Diese Entscheidung wurde ihnen durch die westlichen Regierungen erleichtert, die alles daran setzten, das Eigentum reicher russischer Staatsangehöriger zu beschlagnahmen, ihre Bankkonten einzufrieren und sie verschiedenen anderen Demütigungen und Unannehmlichkeiten auszusetzen. 

Dennoch fällt ihnen diese Entscheidung schwer, denn sie müssen erkennen, dass sie trotz ihres manchmal sagenhaften Reichtums für den Westen nur ein paar Russen sind, die man ausrauben kann. Viele von ihnen sind mental nicht darauf vorbereitet, ihr eigenes Volk zu verraten, dem sie beigebracht haben, es zu verachten und zum eigenen Vorteil auszubeuten. Ein schneller Sieg in Russlands militärischen Sonderoperation würde sie glauben lassen, dass ihre Probleme nur vorübergehender Natur sind. Wenn genug Zeit vergeht, werden einige von ihnen für immer davonlaufen, während andere beschließen werden, zu bleiben und für das Gemeinwohl in Russland zu arbeiten. 

Als nächstes sind verschiedene Mitglieder der russischen Regierung an der Reihe, die aufgrund ihrer Ausbildung in westlicher Wirtschaft nicht in der Lage sind, den wirtschaftlichen Wandel in Russland zu verstehen, geschweige denn, ihn zu unterstützen. Das meiste, was im Westen als wirtschaftliches Denken durchgeht, ist nur ein ausgeklügelter Deckmantel für dieses grundlegende Diktum: „Den Reichen muss erlaubt werden, noch reicher zu werden, die Armen müssen arm gehalten werden und die Regierung sollte nicht versuchen, ihnen (viel) zu helfen.“ Das funktionierte, solange der Westen Kolonien hatte, die er ausbeuten konnte, sei es durch die gute alte imperiale Eroberung, Plünderung und Vergewaltigung oder durch den finanziellen Neokolonialismus von Perkins‘ „Economic Hit Men“ oder, wie kürzlich von mehreren hochrangigen EU-Beamten zähneknirschend zugegeben wurde, durch die Ausnutzung billiger russischer Energie. 

Es wird sich sehr viel ändern – und einiges ist schon passiert …

Das funktioniert nicht mehr, nicht im Westen, nicht in Russland und auch sonst nirgendwo, und die Mentalitäten müssen sich ändern. Bei der Besetzung von Regierungsämtern gibt es eine große Trägheit, da viele Interessen um Macht und Einfluss wetteifern. Es dauert seine Zeit, bis so grundlegende Ideen wie die Tatsache, dass die US-Notenbank nicht mehr das weltweite Monopol auf das Drucken von Geld hat, durch das System sickern. Daher ist es für die russische Zentralbank nicht mehr notwendig, Dollarreserven zur Deckung ihrer Rubel-Emissionen zu halten, um sie gegen spekulative Angriffe zu verteidigen, da es für die russische Zentralbank nicht mehr notwendig ist, ausländischen Währungsspekulanten zu erlauben, sich auszutoben und spekulative Angriffe zu inszenieren. 

Doch einige Ergebnisse wurden bereits erzielt, und sie sind geradezu spektakulär: In den letzten Monaten haben einige wenige, gut gewählte Abweichungen von der westlichen Wirtschaftsorthodoxie den Rubel zur stärksten Währung der Welt gemacht, haben es Russland ermöglicht, mehr Exporteinnahmen zu erzielen, obwohl es weniger Öl, Gas und Kohle exportierte, und haben es ihm ermöglicht, die Inflation auf fast Null zu senken. Seit Beginn des militärischen Sondereinsatzes konnte Russland seine Staatsverschuldung erheblich reduzieren und die Staatseinnahmen erhöhen. Eine rasche Beendigung der militärischen Sonderoperation Russlands könnte das Ende solcher Wunder und eine höchst unwillkommene Rückkehr zum unhaltbaren Status quo ante bedeuten. 

Neben der immateriellen Welt der Finanzen haben sich auch in der materiellen russischen Wirtschaft bedeutende Veränderungen vollzogen. Früher waren viele Wirtschaftszweige, darunter der Autohandel, das Baugewerbe, die Softwareentwicklung und viele andere, in ausländischem Besitz, und die Gewinne aus diesen Aktivitäten verließen das Land. Dann wurde beschlossen, die Auszahlung von Dividenden zu blockieren. Als Reaktion darauf verkauften ausländische Unternehmen ihre russischen Vermögenswerte und nahmen dabei einen großen Verlust in Kauf, der ihnen den Zugang zum russischen Markt verwehrte. Der Wandel war verblüffend. Anfang 2022 besaßen beispielsweise westliche Autofirmen einen großen Anteil am russischen Automobilmarkt. Viele der in Russland verkauften Autos wurden in ausländischen Werken zusammengebaut, und die Gewinne aus diesen Verkäufen wurden ins Ausland verlagert. Jetzt, weniger als ein Jahr später, sind die europäischen und amerikanischen Autohersteller aus Russland so gut wie verschwunden und wurden durch eine schnell wiedergeborene einheimische Autoindustrie ersetzt. Chinesische Autohersteller haben sofort einen großen Marktanteil für sich erobert, während Südkorea weiterhin mit Russland Handel trieb und seinen Marktanteil halten konnte. 

Ebenso verblüffend waren die Veränderungen in der Flugzeugindustrie. Zuvor flogen die russischen Fluggesellschaften Airbusse und Boeings, die meisten davon geleast. Nach dem Beginn der Sonderoperation forderten westliche Politiker die Auflösung dieser Leasingverträge und die Rückgabe der Flugzeuge an ihre Eigentümer, wobei sie außer Acht ließen, dass dies finanziell ruinös wäre (der Markt für gebrauchte Flugzeuge würde auf Jahre hinaus überschwemmt und die Nachfrage nach neuen Flugzeugen würde zerstört) und zudem auch physisch unmöglich wäre, da es keine Möglichkeit gab, die Flugzeuge zu übergeben. Als Reaktion darauf verstaatlichten die russischen Fluggesellschaften die Flugzeugregistrierung, stellten den Flugverkehr zu feindlichen Flughäfen ein, wo ihre Flugzeuge beschlagnahmt werden konnten, und begannen, die Leasingzahlungen in Rubel auf Sonderkonten bei der russischen Zentralbank zu leisten. 

Dann kam die Nachricht, dass Aeroflot den Kauf von über 300 neuen Passagierflugzeugen plant, allesamt russische МС-21, SSJ-100 und Tu-214, und zwar bis 2030, wobei die ersten Lieferungen für 2023 geplant sind. Fast alle Komponenten, die aus dem Westen stammen, wie z. B. die Verbundwerkstoffe für die Kohlefaserflügel der MC-21 und die Triebwerke, die Avionik und vieles andere für die oben genannten Flugzeuge, werden in kürzester Zeit ersetzt. In diesem Zeitraum werden viele der zuvor geleasten Boeings und Airbusse auslaufen, aber der Marktanteil dieser Unternehmen im größten Land der Erde wird für immer verloren sein. Der Schaden für die westlichen Flugzeughersteller wird genauso groß sein wie der Schaden für die westlichen Fluggesellschaften. Zu Beginn der Feindseligkeiten hat der kollektive Westen seinen Luftraum für Russland gesperrt, und Russland hat dies erwidert. Das Problem ist, dass Europa klein und leicht zu umfliegen ist, während Russland riesig ist und man einen ganzen Tag braucht, um es zu umfliegen. Die europäischen Fluggesellschaften stellten plötzlich fest, dass sie auf den Strecken nach Japan, China oder Korea nicht konkurrenzfähig sind. 

Auf die Sperrung des Luftraums folgten weitere Sanktionen, sowohl von der Europäischen Union als auch von den USA, die allesamt rechtswidrig sind, da der UN-Sicherheitsrat das einzige Gremium ist, das Sanktionen verhängen darf. Derzeit arbeitet die Europäische Union am neunten Paket von Sanktionen, die alle als „Sanktionen aus der Hölle“ bezeichnet werden. Apropos Hölle: In Dante Alighieris „Inferno“ gibt es neun Kreise der Hölle, vielleicht ist der Sanktionsmoloch also kurz vor seinem Ende. 

Die Sanktionen gegen Russland sind wirkungslos

Diese Sanktionen sollten die russische Wirtschaft rasch zerstören und so viel sozialen Aufruhr und Leid verursachen, dass sich die Menschen auf dem Roten Platz versammeln und den gefürchteten Diktator Putin stürzen würden (so dachten zumindest westliche Außenpolitik-Experten). Offensichtlich ist nichts dergleichen geschehen, und Putins Zustimmungsrate ist so hoch wie eh und je. Die guten Menschen in der Europäischen Union hingegen beginnen tatsächlich zu leiden. Sie können es sich nicht mehr leisten, ihre Wohnungen zu heizen oder regelmäßig heiß zu duschen, Lebensmittel sind für sie unverschämt teuer geworden, und auch sonst läuft so viel schief, dass sich in ganz Europa riesige Menschenmengen zu Protesten versammeln und unter anderem ein Ende der antirussischen Sanktionen, eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland und eine Rückkehr zur Normalität fordern. Es ist unwahrscheinlich, dass ihre Forderungen erfüllt werden, da dies für die europäischen Staats- und Regierungschefs einen großen Gesichtsverlust bedeuten würde. 

Es gibt jedoch einen wichtigeren Grund, warum die Sanktionen aufrechterhalten werden: Eine Rückkehr zur Normalität würde bedeuten, dass Russland Europa wieder billig mit Energie und Rohstoffen versorgt, während europäische Unternehmen von der Arbeitskraft der Russen profitieren können. Das ist ziemlich unattraktiv und wird daher wahrscheinlich nicht passieren. Russland nutzt die Sanktionen als Gelegenheit, seine heimische Industrie wieder aufzubauen und seinen Handel neu auszurichten, weg von feindlichen Ländern und hin zu befreundeten Ländern, die fair und wohlwollend mit Russland umgehen. Das Land arbeitet auch hart daran, die Verwendung der von Dmitri Medwedew als „giftig“ bezeichneten Währungen, nämlich des US-Dollars und des Euro, schrittweise einzustellen.

Hinzu kommt eine wunderbare neue russische Innovation namens „Parallelimport“. Wenn sich ein Unternehmen aufgrund der antirussischen Sanktionen weigert, seine Produkte nach Russland zu verkaufen oder in Russland zu warten oder aufzurüsten, dann kauft Russland diese Produkte und Aufrüstungen von einer dritten, vierten oder fünften Partei, ohne die Erlaubnis der USA, der EU oder des Herstellers. Wenn ein bestimmtes Markenprodukt nicht mehr erhältlich ist, benennen die Russen die Marke einfach um und stellen das gleiche Produkt selbst her oder lassen es von den Chinesen oder einem anderen Handelspartner herstellen. Und wenn der Westen sich weigert, Russland Lizenzen für sein geistiges Eigentum zu erteilen, dann wird dieses geistige Eigentum in Russland frei. 

Das funktioniert besonders gut bei Software: Kostenlose Kopien von Markensoftware sind genauso gut wie die kostenpflichtigen Kopien, und wenn im Westen kein technischer Support, keine Schulungen oder andere damit verbundene Dienstleistungen verfügbar sind, organisieren die Russen einfach ihre eigenen. Geistiges Eigentum verschiedener Art macht einen großen Teil des fiktiven Reichtums des Westens aus, und die westlichen Sanktionen haben zur Folge, dass Russland dieses Eigentum kostenlos nutzen kann. Dank der modernen Digitaltechnik funktioniert das auch mit Hardware recht gut. Anstatt Produkte mühsam zurückzuentwickeln, kann derselbe Effekt nun dadurch erzielt werden, dass man die 3D-Modelle auf einem USB-Stick kauft und sie in 3D ausdruckt oder die Fräs- und Bohrwege automatisch generiert, um sie auf einer NC-Fräse herzustellen. Putin verwendet gerne den Ausdruck „tsap-tsarap“, um diesen Prozess zu beschreiben. Er ist schwer, ihn direkt zu übersetzen, bezieht sich aber auf den Akt einer Katze, die ihre Beute mit den Krallen schnappt. Kurz gesagt: Was Russland früher bezahlen musste, ist jetzt dank der Sanktionen kostenlos. 

Die Stärke des russischen Militärs wird unterschätzt

Da die militärische Sonderoperation schließlich eine Art Krieg ist, müssen wir kurz auf seine militärischen Aspekte eingehen. Auch hier scheint ein gleichmäßiges Vorgehen am besten zu funktionieren. Das erklärte Ziel Russlands ist es, die ehemalige Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren, und bis zu einem gewissen Grad wurde dies auch schon erreicht: Der größte Teil der Panzer und Artillerie, die die Ukraine von der UdSSR geerbt hatte, ist bereits zerstört. Die meisten der eingefleischten Nazi-Bataillone sind entweder tot oder nur noch ein Schatten ihrer selbst. Auch die meisten der Freiwilligen, die einst auf ukrainischer Seite kämpften, sind verschwunden. Nachdem seit Februar 2022 mehr als 100 000 ukrainische Soldaten „getötet wurden“ (wie die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, unverblümt behauptete und dann kleinlaut wieder dementierte), und nach vielleicht einer halben Million Verletzter, unzähligen Männern im wehrfähigen Alter, die sich mit Hilfe der Bestechung außer Landes gebracht haben, und mehreren Einberufungsrunden ist die Verfügbarkeit an ukrainischen Soldaten gering. Bei weit über hundert ukrainischen Opfern pro Tag wird die Ausbeute mit der Zeit sicher sogar noch geringer werden. Ausländische Söldner wurden eingesetzt, um die Lücke zu füllen – Engländer, Polen, Rumänen –, aber es gibt ein großes Problem mit ihnen: Wie Julius Cäsar feststellte, sind viele Menschen bereit, für Geld zu töten, aber niemand will für Geld sterben – außer einem Idioten, möchte ich hinzufügen. Und an der russischen Front der NATO wird ein Idiot und sein Leben schon bald getrennt. Aktuelle Informationen über russische Verluste sind ein Staatsgeheimnis, und die einzige Zahl, die Verteidigungsminister Sergej Schoigu Ende September 2022 bekannt gab, lautete 5937 Tote seit Beginn der Kampagne. Seitdem soll die Zahl der Todesopfer deutlich gesunken sein. 

An Idioten mangelt es auf ukrainischer Seite derzeit noch nicht – und auch nicht an gespendeten westlichen Waffen. Zuerst kamen gebrauchte Panzer aus der Sowjetzeit und andere Waffensysteme, die aus ganz Osteuropa gespendet wurden; dann kamen echte westliche Waffensysteme. Und nun hört man überall in der NATO den klagenden Aufschrei, dass sie nichts mehr hat, was sie den Ukrainern geben kann: Der Schrank ist leer. Auch können sie auf die Schnelle keine weiteren Waffen herstellen. Um mit der Produktion von Waffen in demselben Tempo wie Russland beginnen zu können, müssten diese NATO-Mitglieder zunächst ihre Industrie reindustrialisieren, und dafür sind weder die personellen Ressourcen noch das Geld vorhanden. Und so mahlt die russische Armee weiter, entmilitarisiert die Ukraine und damit auch den Rest der NATO. Dabei perfektioniert sie die Kunst, einen Landkrieg gegen die NATO zu führen. Kein einziges NATO-Land wäre auch nur auf die Idee gekommen, dies zu tun.

Russland zerstört die NATO

Vielleicht handelt es sich um eine schleichende Ausweitung der Mission, oder vielleicht war dies von Anfang an der Plan, aber was Russland im Moment tut, ist die Zerstörung der NATO. Sie erinnern sich vielleicht daran, dass Russland vor einem Jahr von den USA die Einhaltung bestimmter Sicherheitsgarantien forderte, die es als Bedingung für die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands gegeben hatte, nämlich dass die NATO nicht nach Osten erweitert würde. „Keinen Zentimeter nach Osten“, so lautet das offizielle Protokoll des Treffens. Gorbatschow und Schewardnadse haben es nicht geschafft, diese Vereinbarung zu Papier zu bringen und zu unterzeichnen, aber eine mündliche Vereinbarung ist eine Vereinbarung. Vor einem Jahr war das russische Angebot noch recht moderat: Die NATO sollte sich auf ihre Grenzen von vor 1997 zurückziehen, als sie sich nach Osteuropa ausdehnte. 

Aber wie bei Verhandlungen mit den Russen üblich, ist ihr erstes Angebot in der Regel das beste. Nach allem, was wir wissen, könnte Russlands bestes und letztes Angebot angesichts der Entwicklung in der Ukraine bedeuten, dass die NATO sich ganz auflösen muss. Schließlich wurde der Warschauer Pakt vor 31 Jahren auch aufgelöst, aber die NATO gibt es immer noch, und sie ist größer denn je. Wozu? Um Russland zu bekämpfen? Worauf warten sie dann noch? Kommt und holt es euch! Das muss nicht einmal in Form von Verhandlungen geschehen. Russland könnte zum Beispiel sagen, dass es Lettland einen kurzen Schlag verpasst (das Land hat ein oder zwei Schläge verdient, weil es seine große einheimische russische Bevölkerung in Nazi-Manier missbraucht) und sich dann zurücklehnen und sagen: „Kommt schon, NATO, kommt und sterbt heldenhaft vor unserer Haustür für das arme kleine Lettland!“ Daraufhin werden die NATO-Vertreter geschlossen, aber sehr ruhig dastehen und nachdenklich ihre eigenen Schuhe und die der anderen prüfen. Sobald klar wird, dass es keine Angebote für einen Dritten Weltkrieg geben wird, um Lettland zu rächen, wird die NATO leise austrocknen und verschwinden. 

Schließlich kommen wir zu dem vielleicht unwichtigsten Grund für den Krieg: die ehemalige Ukraine selbst. In Anbetracht der anderen strategischen Ziele Russlands erscheint sie eher als Opferfigur in einem Schachspiel. In Anbetracht dessen, was Russland in den letzten neun Monaten bereits erreicht hat – vier neue russische Regionen, sechs Millionen neue russische Bürger, eine Landbrücke zur Krim, eine Bewässerungsanlage für die Krim –, bleibt Russland nicht mehr viel, was es militärisch erreichen kann, bevor seine militärische Kampagne das Stadium des abnehmenden Ertrags erreicht. Die Hinzufügung der Regionen Nikolajew und Odessa und die vollständige Kontrolle der Schwarzmeerküste wären natürlich am wertvollsten; die Kontrolle über Charkow und Kiew etwas weniger wertvoll. Die Kontrolle über die gesamte Dnjepr-Wasserkaskade ist ein absolutes Nice-to-have. Was den Rest betrifft, so könnte man die Ukraine für lange Zeit als deindustrialisiertes, entvölkertes Ödland mit dem Etikett „größtenteils harmlos“ dahinvegetieren lassen. 

Dazu wichtige persönliche Informationen – und eine Prognose

Lassen Sie mich ein oder zwei persönliche Details verraten. Zwei meiner Großeltern stammten aus Zhitomir, mein Vater wurde in Kiew geboren, mein erstes romantisches Interesse galt einem Mädchen aus Odessa, und im Laufe der Jahre hatte ich genauso viele Freunde aus Odessa, Charkow, Lwiv, Kiew, Donezk, Winniza und anderswo wie irgendwo sonst in Russland. Russland? Sie haben richtig gelesen: Es gibt keine Möglichkeit, mich davon zu überzeugen, dass das so genannte „ukrainische Territorium“ nicht irgendwie Russland ist oder dass die Menschen, die dort leben, nicht irgendwie Russen sind – unabhängig davon, was einigen von ihnen in letzter Zeit durch eine Gehirnwäsche eingeredet wurde. Hinzu kommt, dass keiner dieser Menschen, die ich im Laufe der Jahre kennengelernt habe, sich jemals auch nur im Geringsten als Ukrainer gesehen hat, und sie würden wahrscheinlich schon die Idee einer ukrainischen nationalistischen Identität als symptomatisch für einen Geisteszustand betrachten. Die Bezeichnung „ukrainisch“ war für sie eine bolschewistische Nonsens-Bezeichnung. Seither ist das Ukrainisch-Sein zu einer westlichen Methode geworden, um geringfügige ethnische Unterschiede auszunutzen, damit eine Gruppe von Russen eine andere Gruppe von Russen bekämpft. 

Falls Sie Zweifel haben, lassen Sie uns den guten alten Ententest anwenden: Gehen, quaken und sehen die Menschen dort wie Russen aus? Das gesamte Gebiet, mit einer kleinen Ausnahme im äußersten Westen, war zwischen zehn und drei Jahrhunderten Teil Russlands; die meisten Menschen dort, und praktisch die gesamte städtische Bevölkerung, sprechen Russisch als Muttersprache; ihre Religion ist überwiegend russisch-orthodox. Sie sind auch genetisch nicht vom Rest der russischen Bevölkerung zu unterscheiden. Was also ist mit ihnen geschehen? 

Leider verbrachte ein kleiner Teil dieses russischen Landes drei Jahrhunderte in der Gefangenschaft des österreichisch-ungarischen Reiches oder als Teil Großpolens, was ihren Geist mit fremden Ideen wie Katholizismus und ethnischem Nationalismus vergiftete. Im Gegensatz zu Russland, das ein multinationaler, multiethnischer, religiös vielfältiger Monolith ist, ist der Westen ein Mosaik ethnischer Nationalismen, und wo es Nationalisten gibt, kann es auch Nazis, ethnische Säuberungen und Völkermord geben. 

So wie ein Tropfen Gift den ganzen Krug Wein verseuchen kann, haben es diese Westukrainer mit viel Hilfe und Geld von den deutschen Nazis, dann von den Amerikanern und Kanadiern geschafft, einen großen Teil des ehemals ukrainischen Territoriums mit einem falschen Nationalismus zu infizieren, der auf einer gefälschten Geschichte und einer willkürlich zusammengebastelten Kultur beruht. Offizielle Verbote des Unterrichts und schließlich des Gebrauchs der russischen Sprache haben eine Generation junger Menschen hervorgebracht, die ihrer Muttersprache Russisch praktisch nicht mächtig sind. Sie werden auf Ukrainisch unterrichtet, aber ukrainische Lese- und Schreibkenntnisse sind ein Widerspruch in sich, da in dieser Sprache nie etwas Bedeutendes geschrieben oder veröffentlicht wurde und die überwiegende Mehrheit der ukrainischen Literatur auf Russisch verfasst ist, wie Sie sich denken können. (Auch Nikolai Gogol, der wohl berühmteste „ukrainische“ Autor, hat seine Werke in russischer Sprache geschrieben. Red.)

Die russische militärische Sonderoperation, die seit Februar 2022 läuft, hat die gesamte Bevölkerung polarisiert. Diejenigen, die sich bereits 2014 für Russland entschieden hatten, waren natürlich überglücklich, endlich Hilfe von Russland zu bekommen. Die nun russischen Regionen Donezk, Lugansk, Saporoschje und Cherson stimmten gerne für den Anschluss an Russland. Was jedoch den Rest des ehemaligen ukrainischen Territoriums betrifft, so geht die Polarisierung meist in die entgegengesetzte Richtung. Diejenigen, die zu Russland gehören wollten, haben meist mit den Füßen abgestimmt und leben jetzt irgendwo in Russland. 

Das ist etwas, das nur die Zeit beheben kann. Irgendwann wird die Bevölkerung der ehemaligen Ukraine gezwungen sein, sich zu entscheiden: Entweder sie sind Russen, oder sie sind Flüchtlinge irgendwo in Europa, oder sie sterben im Kampf gegen die Russen an der Front. Man beachte, dass selbst Donezk und Lugansk diese Entscheidung nicht sofort getroffen haben, so wie es auf der Krim der Fall war. Damals sprachen sich in Donezk und Lugansk nur etwa 70 Prozent der Bevölkerung dafür aus, die Ukraine zu verlassen und sich wieder Russland anzuschließen. Es bedurfte acht Jahre unerbittlicher ukrainischer Bombardements, um sie zu dieser Entscheidung zu bewegen. 

In den dazwischen liegenden Jahren wurden die eingefleischten „Ukrainer“ ausgefiltert, so dass eine Bevölkerung zurückblieb, die zu fast 100 Prozent pro-russisch war. Erst dann erkannte der Kreml sie offiziell an, entsandte Truppen, um sie vor einer drohenden Invasion zu schützen, und nahm sie kurz darauf in die Russische Föderation auf. Und nun muss die gleiche Art von Sortiervorgang im Rest der ehemaligen Ukraine stattfinden. Wie lange wird das dauern? Das wird nur die Zeit zeigen, aber schon jetzt ist klar, dass es aus russischer Sicht keinen zwingenden Grund zur Eile gibt.

Meinungen in Beiträgen auf Globalbridge.ch entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.

Zum Original-Beitrag in englischer Sprache siehe hier. Die Übersetzung besorgten Martin Grobe und Christian Müller, der auch die Zwischenüberschriften gesetzt hat.