Der russische Zar Alexander I. war am Wiener Kongress 1815 der Schweiz äusserst wohlgesinnt – und half mit, der Schweiz Neuralität zu verpassen, zur Verhinderung der Stärkung einer der damaligen Grossmächte. Zaren-Portrait von Stepan Semjonowitsch Schtschukin 1809.

Politiker und Politikerinnen aus NATO-Ländern haben «keine Vorstellung, was Krieg bedeutet»

Es sind nicht mehr die grossen Zeitungen und Fernsehstationen, die für eine tiefgründige Information sorgen. Es sind neben einigen Internet-Plattformen – zum Beispiel den deutschen «NachDenkSeiten» – oft sogar Privatpersonen, die die Realität unabhängiger und klarer sehen und formulieren. Der in Pension lebende Schweizer Gymnasiallehrer Felix Auer ist einer von ihnen. Hier ein Auszug aus einem Brief an seine Bekannten.

«Wie Ihr wisst, hat die Schweiz ihre Neutralität nicht selbst gewählt. Sie wurde ihr anno 1815 vom Wiener Kongress mehr oder weniger ‹aufgezwungen›, um einen Puffer zwischen dem napoleonischen Frankreich und dem Österreichisch-Ungarischen Grossreich zu bilden. Der Wiener Vertrag hat auch dazu geführt, dass die Eidgenossenschaft ihr Jahrhunderte altes ‹Geschäftsmodell› aufgeben musste, welches darin bestand, Generationen von jungen Mitbürgern auf die europäischen Schlachtfelder zu schicken. (Die ‹Mitwirkung› der Mitbürgerinnen bestand damals darin – so wie auch heute– , diesen Horden  von Testosteron-geladenen jungen Männern die  Sexualabfuhr zu ermöglichen.) Jeder Krieg hat immer – auf allen Seiten – zu Unterdrückung und Vergewaltigung von Frauen geführt. 

Dies hat sich auch mit der Ernennung von Frauen zu Verteidigungsministerinnen in verschiedenen europäischen und aussereuropäischen Staaten nicht geändert. Krieg ist Männersache. Mit dem Ausreiseverbot für ukrainische Männer bekommen wir dies ja gerade wieder deutlich vor Augen geführt. Und dass ein hoher Testosteron-Spiegel offensichtlich nicht nur das Problem der männlichen Spezies ist, sehen wir täglich bei den Äusserungen der deutschen Aussenministerin.

Nebenbei: Dass sich 1815 die Sicht einer neutralen Schweiz gegen die Sicht von Österreich-Ungarn (welches die vorrevolutionäre Zeit – 1789 – zu Gunsten der Aristokratie wiederbeleben wollte) durchgesetzt hat, haben wir dem russischen Zaren Alexander I. und dessen Hauslehrer, dem Schweizer Frédéric-César de La Harpe, zu verdanken.

Auch wenn diese Neutralität der Eidgenossenschaft ‹aufgezwungen› wurde, ist sie der Schweiz letztendlich in allen darauf folgenden europäischen Kriegen zu Gute gekommen.

Anno 2021/2022 waren die Forderungen Russlands an die Ukraine und an die NATO die gleichen wie jene an die Eidgenossenschaft beim Wiener Kongress: Die Ukraine soll eine Pufferzone zwischen Atommächten bleiben und sich mit der Sicherheits-Versicherung aller ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates als neutral erklären. Wirtschaftlich dürfe sie sich der EU annähern, doch – als neutraler Staat wie die Schweiz – kein militärisches Bündnis mit der NATO eingehen und keine fremden Truppen innerhalb ihres Staatsgebietes dulden. Dies hätte die Ukraine unverwundbar gemacht, denn jede Verletzung ihrer Neutralität hätte die Weltgemeinschaft verpflichtet, gegen den Aggressor, sei er von West oder Ost, vorzugehen.

Dies haben die USA anders gesehen, denn ihr Ziel war, Atomwaffen direkt an der Grenze zu Russland – in der Ukraine! – zu stationieren, um so die Atommacht Russland gemäss der Doktrin der – vom Pentagon finanzierten – Rand Corporation aufs Äusserste in deren Aussenpolitik einzuschränken. Den Link zu dieser Doktrin habe ich schon mehrmals verschickt. 

Wie dieser Krieg ausgeht, wissen wir nicht. Und wie die Welt danach aussehen wird, wissen wir noch weniger. Nehmen wir an, dass es der ukrainischen Armee und ihrem ‹heroischen› Schauspieler-Präsidenten dank massiven Waffenlieferungen von Seiten der NATO gelingt, nach Monate- oder Jahre-langem Krieg die Truppen Russlands zu vertreiben. Was wird verbleiben? Bei den Kriegen im Irak, in Afghanistan, in Libyen oder Syrien haben wir es gesehen : Chaos und totale Zerstörung.

Und was machen wir mit Russland, dem grössten Land unseres Planeten und zweitgrösster Atommacht, danach? Sollten wir eine Invasion planen und das gleiche Schicksal erleben wie Napoleon und Hitler-Deutschland? Denken wir, dass dies heute einfacher sei, weil über die (un-)sozialen Medien Einflussmöglichkeiten verstärkt möglich sind? – Erinnern wir uns doch daran, dass alle USA-Kriege der vergangenen 77 Jahre (von Korea bis Afghanistan) fatal ausgegangen sind und ausser Millionen von Toten kein Komma mehr Sicherheit gebracht haben! Was gibt uns Anlass zur Annahme, dass dies mit Russland nicht ebenfalls der Fall sein wird? – Der ganz grosse Unterschied: In der Ukraine stehen sich jetzt zum ersten Mal seit 1945 zwei Atommächte gegenüber und der ganze europäische EU-Hühnerhof (inklusive Schweiz) watschelt brav und blind hinter den USA mit.

Die Zensur russischer Medien in der westlichen USA- und EU-Welt ist eine Massnahme im aktuellen Informations- und Medienkrieg zwischen dem US-geführten Block aus NATO, EU und Partnern auf der einen und Russland (und später China) auf der anderen Seite. Es ist ein Tabubruch. Meinungs- und Pressefreiheit sind ein integraler Bestandteil der EU-Grundrechte-Charta. „Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäusserung. Dieses Recht schliesst die Meinungs­freiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben“, heisst es in Artikel 11. – Die westliche Zensur russischer Medien (mit dem unbewiesenen und unbeweisbaren Begriff  ‹Desinformation›) heisst somit nichts anderes als man schränkt ein demokratisches Grundrecht ein mit dem Verweis, dass so genannt ‹autokratische› Staaten dies ja auch tun. Ein Teufelskreislauf, denn damit entwickeln sich Demokratien zwangsläufig auch zu Autokratien, wo der/die BürgerIn nur noch jene Ideologien erfahren darf, die von Institutionen, die sie nie demokratisch wählen konnten, bestimmt werden.

Man muss den Krieg zwischen der Ukraine und Russland vom Ende her denken: ‹Vom Ende her denken› heisst für mich, sich bewusst zu sein, was für Folgen ein hemmungsloses emotionales Hochtreiben der Eskalation haben könnte. Es ist ein grosser Fehler, auf militärische Lösungen zu setzen. Auch ich war ein Militär. Wenn es militärische Lösungen sind, die zu Ende gedacht in die Katastrophe führen, dann ist dieser Ansatz falsch. Man muss Wege suchen, die in einer Lösung enden und nicht in einer Eskalation, die uns am Schluss zu einem 3. Weltkrieg führt.

Was wir beobachten, ist, dass jetzt in fast allen NATO-Ländern Politiker und Politikerinnen am Werk sind, die keine Ahnung vom Militär haben, geschweige denn je Militärdienst geleistet haben. Sie besitzen keine Vorstellung, was Krieg bedeutet. Das sind Menschen, die mit militärischer Gewalt nie etwas am Hut hatten, die in der jetzigen Situation völlig überfordert sind, die massive Waffenlieferungen befürworten und nicht im Geringsten eine Vorstellung davon haben, welche Folgen das haben könnte. Sie haben sich immer zum Pazifismus bekannt und nur Friedensbedingungen gekannt. Jetzt plötzlich werden sie mit militärischer Gewalt und Krieg konfrontiert, und zwar unmittelbar vor der Haustür. Das führt – gepaart mit Kriegsrhetorik – zu verhaltensauffälligen Übersprungsreaktionen, die unverantwortlich sind und politische Romantik beinhalten, die in der Konsequenz äusserst gefährlich sind.»