US-Panzer vor dem Verlad in Savannah (Georgia, USA) für die NATO-Manöver «Defender Europe 21» am Schwarzen Meer. @ Army Times

Perception is Reality: Warum Russland sich zu Recht bedroht fühlte

Nicht was wir sagen, ist entscheidend, sondern wie es verstanden wird. Die Manager in der Wirtschaft wissen das. Die meisten Politiker und auch die meisten Journalisten aber haben das noch nicht begriffen. Ein persönlicher Kommentar von Christian Müller.

Es war eines meiner unvergesslichen Erlebnisse. Wir hatten eine harte Diskussion, ich, als CEO einer der damals zehn grössten Medien-Gruppen der Schweiz, und mein Verwaltungsrat. Ich verteidigte mich gegen einen Vorwurf des Verwaltungsrates und sagte, ich hätte es ja gesagt. Aber die Antwort war, und sie kam von Marco de Stoppani, dem ehemaligen «Leiter Verlag und Druck» der NZZ: «Vergiss nicht! Perception is Reality! Nicht was Du gesagt hast, ist wichtig, sondern wie es angekommen ist und wie es verstanden wurde.» 

Wie recht Marco de Stoppani doch hatte! Wer immer etwas sagt oder schreibt oder tut, entscheidend ist, wie das verstanden wird, nicht was er selbst damit meint oder gemeint hat. Darauf hat gerade auch wieder der bekannte US-Politologe John J. Mearsheimer in seiner Analyse des Krieges in der Ukraine aufmerksam gemacht: «Viele Menschen im Westen glauben nicht, dass es sich [bei der NATO-Osterweiterung] um eine existenzielle Bedrohung für die Russen handelt, aber was sie glauben, ist irrelevant, denn das Einzige, was zählt, ist, was Putin und seine russischen Kollegen denken, und sie halten die NATO-Osterweiterung für eine existenzielle Bedrohung.»  («Lots of people in the West do not believe it is an existential threat to the Russians, but what they believe is irrelevant because the only thing that matters is what Putin and his fellow Russians think, and they think it is an existential threat.»)

Russland hatte Grund, die Osterweiterung als Bedrohung zu empfinden

Die NATO-Erweiterung nach Osten ist nicht nur geographisch sichtbar gegen Russland gerichtet, auch das Vorgehen und die Geschwindigkeit der Aufnahmen neuer Länder in die Mitgliedschaft der NATO zeigt dies deutlich. 

Das jüngste Beispiel: Das an Griechenland grenzende Binnenland Mazedonien war für Verhandlungen für eine Mitgliedschaft in der EU und in der NATO gesperrt, weil Griechenland – selbst Mitglied der NATO und der EU – des Namens «Mazedonien» wegen schon in den 1990er Jahren das Veto gegen solche Verhandlungen eingelegt hatte. Der Name «Mazedonien» gehöre Griechenland, wurde argumentiert. Über 20 Jahre später, im Jahr 2018, wurde ein Kompromiss gefunden, das Land solle künftig «Nordmazedonien» heissen, worauf Griechenland seine Blockierung der NATO- und EU-Verhandlungen zurückziehen werde. Am 11. Januar 2019 stimmte das mazedonische Parlament der Namensänderung ihres Staates mit einer Stimme über der notwendigen Zweidrittelsmehrheit zu. Bereits am 21. Januar, also nur zehn Tage später (!) und noch bevor auch das griechische Parlament am 25. Januar den neuen Namen «Nordmazedonien» akzeptierte und noch bevor der neue Name «Nordmazedonien» am 12. Februar offiziell in Kraft trat, reiste der zuständige Chef der NATO-Division «Nachrichtendienst und Sicherheit», Botschafter Arndt Freytag von Loringhoven, nach Skopje, um dort die «Reformen» der mazedonischen «Verteidigungs- und Sicherheitssysteme» zu besprechen. Ab sofort durfte «Nordmazedonien» an NATO-Treffen teilnehmen, und nur ein Jahr später, am 27. März 2020, wurde Nordmazedonien als 30. Land auch formell in die NATO-Mitgliedschaft aufgenommen.

Auf dem Deutschlandfunk konnte man dazu lesen: «Für die NATO hat der Beitritt der ehemaligen jugoslawischen Republik eine symbolisch-strategische Bedeutung. Wichtig, weil die NATO aus ihrer Sicht damit eine weitere Lücke auf dem Balkan schließt und den Einfluss Russlands in Grenzen hält. Auch der mazedonische Ministerpräsident Zoran Zaev warnte vor ‹ernsten, existenziellen Gefahren› für sein Land, sollte es von der transatlantischen Integration ausgeschlossen bleiben. Zudem stellte Zaev immer wieder die Rechnung auf: NATO ist gleich EU ist gleich mehr Wohlstand.»

NATO-Manöver an der russischen Grenze

Wenn die NATO militärische Manöver durchführt, führt sie diese nicht dort durch, wo sie gegründet wurde und wo sie seit vielen Jahrzehnten schon besteht, in den USA oder im Westen Europas, sondern immer nahe der russischen Grenze. Im Herbst 2019 zum Beispiel kündigte die US-Army die «grössten Manöver seit 25 Jahren» an, mit 37’000 beteiligten Soldaten, wovon 20’000 Soldaten und jede Menge Panzer extra aus den USA eingeflogen werden sollen – und dann auch eingeflogen wurden. Und diese gigantischen Manöver mit dem Namen «Defender 2020» wurden an der Grenze zu Russland durchgeführt, vor allem auch in den baltischen Staaten. (Der Covid-Pandemie wegen musste dann das Manöver allerdings vorzeitig wieder abgebrochen werden.)

Auch die NATO-Manöver «Defender 2021» wurden wieder an der russischen Grenze durchgeführt, mit 28’000 beteiligten Soldaten aus 26 Ländern. Inbegriffen dabei waren diesmal auch Manöver am Schwarzen Meer, also auch im Süden an der Grenze Russlands.

Und auch die Manöver «Defender Europe 2022» sollen mit 33’000 Soldaten aus 26 Ländern stattfinden – diesmal vor allem in Norwegen zur Ausbildung der Streitkräfte bei extrem tiefen Temperaturen. (Schweden und Finnland an der russischen Grenze sind – noch – keine NATO-Mitglieder.)

US-Militärbasen rings um Russland

Die USA unterhalten, je nach Definition der Funktion und der Grösse, gegen tausend Militärbasen ausserhalb ihres eigenen Landes, nicht zuletzt rings um Russland. Im Kosovo zum Beispiel, einem mit Hilfe von NATO-Bomben von Serbien abgetrennten und jetzt sogenannt unabhängigen Staat im Bereich des früheren Jugoslawien, erstellten die USA sofort eine neue Militärbasis: Camp Bondsteel. Sie ist fast vier Quadratkilometer gross und beherbergt ständig 7000 US-Soldaten. 

Aber auch in Rumänien, in Deveslu, wurde schon im Jahr 2013 eine US-Raketenbasis errichtet, und auch in Polen, in Redzikowo, im Jahr 2016. Warum? 

Aus der Geschichte gelernt

Russland erinnert sich aber vor allem auch an die Kuba-Krise 1962. Nachdem die USA sowohl in der Türkei als auch in Italien gegen die Sowjetunion gerichtete Mittelstrecken-Raketen installiert hatten, begann die Sowjetunion – damals unter Nikita Chruschtschow – auf Kuba, nicht allzu weit von Florida entfernt, ihrerseits Mittelstrecken-Raketen zu stationieren. Das empfanden nun die USA als klare Bedrohung und sie reagierten. John F. Kennedy kam mit dem sowjetischen Botschafter Kontakt auf und sie vereinbarten mit Zustimmung Chruschtschows den Abzug der Raketen aus Kuba (öffentlich sichtbar) und aus der Türkei und Italien (geheim, zur Gesichtswahrung der USA). Die USA haben damit aber weltweit demonstriert, dass Militär- und Raketenbasen in unmittelbarer Nähe als Bedrohung verstanden werden müssen. 

Und all das keine «Bedrohung»?

Die Erweiterung der NATO bis an die Grenzen Russlands, die Errichtung neuer US-Militärbasen (wie zum Beispiel Camp Bondsteel im Kosovo) und die Installation von Raketenbasen (wie zum Beispiel in Deveslu in Rumänien oder in Redzikowo in Polen): Warum soll Russland das alles nicht als Bedrohung verstehen dürfen?

«Perception is Reality», wie etwas verstanden wird, ist die Realität. Das sollten nicht nur die Manager grosser Firmen, sondern auch die Journalisten und die Politiker endlich begreifen. 

Russland fühlte sich durch die USA und die NATO – nicht zuletzt auch durch die intensiven Waffenlieferungen an die Ukraine – zunehmend bedroht, wie John J. Mearsheimer das richtig analysierte. Deshalb verlangte Russland im Dezember 2021 von den USA und von der NATO Sicherheitsgarantien. Beide, die USA und die NATO, waren aber nicht bereit, solche abzugeben, ja sie intensivierten sogar noch ihre Waffenlieferungen an die Ukraine. Einmal mehr eine unmissverständliche Provokation.

Und hier noch ein Video, das zeigt, wie John McCain die ukrainische Armee gegen Russland anfeuert, hier anklicken.

Und da soll man erstaunt sein, wenn Russland – leider – mit dem Angriff auf die Ukraine reagierte?