Kertsch auf der Krim: Eingang zum Bergwerk, in dem sich einige tausend Stadtbewohner über Monate hin gegen den Angriff der deutschen Wehrmacht zu verteidigen suchten – und bis auf ein paar wenige dabei zu Tode kamen, erschossen oder verhungert. (Foto Stefano di Lorenzo)

Krim II: Kertsch – Antike, Widerstand und Brücken

(Red.) GlobalBridge-Autor Stefano di Lorenzo war, wie bereits gemeldet, in den letzten Wochen auf der Krim – zehn Jahre, nachdem sie sich aufgrund einer Volksabstimmung von der Ukraine getrennt und mit Russland wiedervereinigt hat. Was hat sich in dieser Zeit auf der Krim verändert? Wie denken die Leute dort heute über ihre neue Zugehörigkeit zu Russland? Haben sie aufgrund des Krieges in der Ukraine Angst? Hier sein zweiter Bericht, diesmal über Kertsch, die geschichtsträchtige Stadt ganz im Osten der Halbinsel Krim. (cm)

Heute auf die Krim zu reisen, ist nicht die einfachste und reibungsloseste Sache der Welt. Seit 2022 gibt es keine Flüge mehr auf die Halbinsel, weder aus Moskau noch aus anderen russischen Städten; der Himmel über und neben der Ukraine ist für die zivile Luftfahrt zu gefährlich. Die meisten Reisenden und Besucher, die auf die Krim wollen, reisen daher mit dem Zug oder dem Auto über die berühmte Brücke über die Meerenge von Kertsch an, die das Schwarze Meer von dem Asowschen Meer trennt. Die Zugfahrt von Moskau nach Simferopol (ca. 1750 km, etwa so lang wie die Strecke von Berlin nach Neapel) dauert je nach Zugtyp zwischen 29 und 41 Stunden. Aber für Russen und Leute, die in Russland reisen, sind solche Entfernungen nichts, wovor man sich fürchten müsste. 

Es gibt übrigens auch Alternativen zur Kertsch-Brücke. Heute gibt es Busse, die die Krim zum Beispiel mit den Städten Donezk und Mariupol im Donbass verbinden. Diese Region gehört seit September 2022 aus der Sicht Russlands offiziell zu den „neuen Gebieten“. Das ist natürlich eine ziemlich abenteuerliche Option, die sich nicht gerade für den Sommerurlaub oder neugierige Touristen eignet, da die „neuen Gebiete“ eigentlich ein umstrittenes Territorium sind, wo das Risiko besteht, von ukrainischen Raketen getroffen zu werden. Tatsache ist jedoch, dass die Brücke von Kertsch nicht mehr die einzige Verbindung zwischen der Krim und dem russischen Festland ist. Auch für die russische Armee.

Pons delendus est — Die Brücke muss zerstört werden!

Dennoch ist diese Brücke für die Ukraine und den Westen zu einer Art Zwangsvorstellung geworden, zu einem „Symbol der russischen Besatzung“. In der heroischen Vorstellung so vieler ukrainischer und westlicher Bildschirmfreiheitskämpfer ist die Zerstörung der Brücke von Kertsch etwas, was wild bejubelt werden müsste. Diese würde eine Niederlage Russlands, die „Befreiung“ der Krim und einen tödlichen Schlag für das Putin-Regime bedeuten. Wie viele dieser virtuellen Freiheitskämpfer waren eigentlich auch nur einmal im Leben auf der Krim oder in der Ukraine?

Einerseits kann man die Feindseligkeit vieler Ukrainer gegenüber der Brücke und Russland verstehen: Schließlich wird ihr Land seit zwei Jahren täglich von Russland bombardiert. Als die Brücke im Oktober 2022 angegriffen wurde, gab die Ukraine eine Briefmarke mit einem Bild der in Flammen stehenden Kertsch-Brücke heraus. Viele Bewohner Kiews, darunter viele Frauen und junge Leute, ließen sich ganz schön lächelnd und ekstatisch vor dem Hintergrund einer riesigen Reproduktion der Briefmarke fotografieren, die an einer der zentralen Straßen der ukrainischen Hauptstadt angebracht worden war. „Ich mag es wirklich, wie die Brücke brennt, die Leute haben sehr lange darauf gewartet, deshalb sind wir sehr froh, dass jetzt ihre Zeit gekommen ist, in Panik zu geraten“, sagte zum Beispiel eine gewisse Kristina aus Kiew. „Meine Mutter hat mich geweckt: Was für eine tolle Nachricht. Heute ist doch ein Feiertag“, sagte ein Mann namens Alexander. „Diese Bilder der Krim-Brücke gefielen nicht nur den Ukrainern, sondern auch ausländischen Gästen der Hauptstadt“, kommentierte damals ein ukrainischer Fernsehsender. 

Schadenfreude ist leider nicht erst seit 2022, sondern schon seit mindestens 10 Jahren Teil des Ukrainian Way of Life. Das ist kein Urteil, sondern eine Tatsache, die sich nicht leugnen lässt. Zum Leidwesen der Einwohner Kiews wurde die Stadt nur wenige Tage später von einem Schwarm russischer Drohnen angegriffen, was die Schwäche der ukrainischen Verteidigungsanlagen deutlich machte.

Schwerer zu verstehen ist die Wut vieler Westler auf die Krim-Brücke. Darunter befinden sich einige illustre Namen aus Politik und Fachwelt. Aber nicht nur, wenn man die Art von Kommentaren betrachtet, die man im Netz finden kann. Es scheint, dass der bloße Gedanke an eine Brücke, die zwei ferne und für die meisten unbekannte Regionen miteinander verbindet, viele im Westen nachts nicht schlafen lässt. Vor einigen Wochen forderte „scherzhaft“ auf der Plattform X (früher Twitter) der ehemalige litauische Außenminister und derzeitige litauische Botschafter in Schweden Linas Linkevičius die Menschen auf, Fotos vor dem Hintergrund der Brücke von Kertsch so schnell wie möglich zu machen, da es diese bald nicht mehr geben würde. Viele kritisierten ihn für diesen, gelinde gesagt, provokativen Tweet, aber es gab auch viele begeisterte Reaktionen. 

Zuvor hatten einige hochrangige Offiziere der Bundeswehr, darunter der Inspekteur der Luftwaffe Generalleutnant Ingo Gerhartz und Brigadegeneral Frank Gräfe, sowie weitere anonyme Führungskräfte in einer Videokonferenz die Planung eines Angriffs auf die Brücke von Kertsch besprochen. Die Russen fingen die Kommunikation ab und machten sie öffentlich. Der eigentliche Skandal war, wie immer in solchen Fällen, nicht die Tatsache, dass die Russen diese Kommunikation abgehört und veröffentlicht hatten, sondern der Inhalt. Aber der Inhalt wurde nicht wirklich thematisiert. In Deutschland sprach man offen davon, eine Brücke mit deutschen Waffen zu sprengen. Aber wie konnten die Russen so unverschämt sein, dieses Gespräch zu veröffentlichen? Diese verdammten Russen!

Auch der ehemalige Brigadegeneral Heinrich Fischer drängte Bundeskanzler Olaf Scholz in einem Artikel für die Zeitschrift „Europäische Sicherheit und Technik“, die Lieferung von Taurus-Raketen nicht zu verzögern. Kiew bräuchte sie, um die Krim-Brücke zu zerstören. «Am 13. Dezember 2023 stellte Bundeskanzler Scholz fest ‹Wir stehen eng an der Seite der Ukraine in ihrem Verteidigungskampf gegen Russland!› Herr Bundeskanzler, ich nehme Sie ernst. Stimmen Sie endlich der Unterstützung der Ukraine mit Taurus zu», so der deutsche Ex-General.

Ist Deutschland an einem Krieg gegen Russland beteiligt? Schon wieder? Wie würde Russland reagieren, wenn eines Tages die Brücke über die Straße von Kertsch mit einer westlichen Rakete gesprengt werden sollte? Angesichts eines solchen Angriffs wäre eine russische Antwort ja fast unweigerlich. Doch niemand scheint sich allzu sehr um die Folgen solcher Aktionen zu kümmern. Wie würde jedes westliche Land, das etwas auf sich hält, reagieren, wenn Russland an der Zerstörung einer Brücke, einer Straße oder eines Gebäudes in Europa oder Amerika beteiligt wäre? 

Der Tag der Entscheidung?

Der ukrainische Geheimdienst hatte einige Wochen zuvor laut einem Artikel in der britischen Zeitung The Guardian angekündigt, dass die Zerstörung der Brücke unvermeidlich sei. Einige hatten sogar ein konkretes Datum genannt, nämlich den Tag (oder kurz vor dem Tag) der erneuten Amtseinführung Putins am 7. Mai. Andere sprachen eher vage von „den kommenden Wochen“. In Anbetracht der Tatsache, dass ich mich in diesen Tagen auf einen Besuch auf die Krim vorbereitete, konnte ich mich einer gewissen Nervosität nicht erwehren. Einerseits hoffte ich, dass die Ukrainer genug Menschlichkeit zeigen würden, indem sie ihren Angriff auf die Brücke koordinierten, um zu verhindern, dass dabei jede Art von Zug mit Hunderten von Zivilisten an Bord im Moment einer möglichen Explosion getroffen werden könnte. Andererseits begann ich zu überlegen, welche alternativen Routen es aus der Krim heraus gäbe, falls die Brücke während meiner Anwesenheit angegriffen werden sollte. Als ich erfuhr, dass es Busse zwischen der Krim und dem Donbass gab, war ich etwas erleichtert, selbst wenn das bedeuten würde, durch ein Kriegsgebiet zu fahren.

Schon am Tag nach meiner Ankunft auf der Krim schien sich das Schicksal zu erfüllen. Die Brücke von Kertsch, die ich erst ein paar Stunden zuvor von der Festung Kertsch aus fotografiert hatte, war nun von einem dichten Vorhang aus weißem Rauch umgeben, der sich kilometerweit erstreckte. Die Brücke war angegriffen worden! Ich begann, die Nachrichten im Internet panisch zu überprüfen, um zu sehen, ob ich etwas darüber lesen konnte. Der Verkehr auf der Brücke schien tatsächlich blockiert zu sein, es musste doch etwas passiert sein!

Doch die Menschen um mich herum wirkten seltsam ruhig und schenkten der langen weißen Rauchfahne keinerlei Beachtung. Ein paar verschlafene Fischer an einem Steg hielten ruhig ihre Angeln in der Hand und warteten auf Fische. Ich wandte mich aufregt an einen von ihnen: „Was ist passiert, was ist das für ein Rauch, haben Sie selbst etwas gesehen?“, fragte ich besorgt. „Ach nein, machen Sie sich keine Sorge, den Rauch lassen sie absichtlich ab“, erwiderte ein alter Mann. „Das ist einfach ein Rauchvorhang, den lassen sie absichtlich nach einem Luftalarm ab. Das muss nicht unbedingt bedeuten, dass die Brücke von einer Rakete getroffen wurde“, sagte ein anderer Mann zu mir. 

Nur ein Rauchvorhang nach einem Luftangriffalarm? Das heißt, man kann einfach ruhig weiter fischen und spazieren? Der Mensch kann sich offenbar ja an fast alles gewöhnen… Ein paar Stunden später war der Rauch weg.

Die älteste Stadt

Heute ist Kertsch vor allem für die Brücke zwischen der Krim und dem russischen Festland bekannt, die 2018 eröffnet wurde. Aber Kertsch ist nicht nur die Brücke. Die Stadt ist nach Sewastopol und Simferopol die drittgrößte Stadt der Krim, mit rund 150.000 Einwohnern. Und Kertsch hat eine besondere Bedeutung in der Geschichte der Krim und Russlands. Manche behaupten sogar, Kertsch sei die älteste Stadt auf dem Gebiet des heutigen Russlands – lassen wir die territorialen Streitigkeiten zwischen Russland und der Ukraine einmal beiseite. Um diesen Titel konkurriert Kertsch mit der Stadt Derbent in Dagestan und einer anderen Stadt griechischen Ursprungs auf der Krim, Phäodosia. 

Die Stadt Pantikapaion, auf deren Ruinen später das heutige Kertsch errichtet wurde, wurde im 7. oder 6. Jahrhundert v. Chr. von griechischen Kolonisten aus Milet gegründet und war viele Jahrhunderte lang die wichtigste Stadt der Region. Das Bosporanische Reich, das nicht nur große Teile der heutigen Krim, sondern auch ausgedehnte Gebiete auf der anderen Seite der Straße von Kertsch umfasste, war mehrere Jahrhunderte lang eine relativ wohlhabende Region der griechischen und später hellenistischen Welt. Auch der antike griechische Historiker Herodot soll Pantikapaion besucht und bewundert haben.

Das Bosporanische Reich erreichte wahrscheinlich unter Mithridates VI. im ersten Jahrhundert v. Chr. den Höhepunkt seiner Macht. Dann wurde es von den Römern unterworfen und zu einem Klientenstaat gemacht. Heute kann man in Kertsch die Ruinen der antiken Stadt Pantikapaion sehen, sie liegen auf einem nach dem antiken König Mithridates benannten Hügel. Kertsch und die Krim im Allgemeinen sind in gewisser Weise die Brücke, die Russland zunächst mit dem antiken Griechenland und dann mit der christlichen Religion des byzantinischen Ritus verbindet, eine wahre Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart.

Unendliches Leid und Heldentum

Aber Kertsch ist nicht nur wegen der antiken Geschichte von Bedeutung. In Kertsch befinden sich auch eines der beeindruckendsten Denkmäler und Gedenkstätten, die dem Zweiten Weltkrieg gewidmet sind. Der Zweite Weltkrieg, der Kampf gegen die völkermörderische Nazi-Barbarei und der sowjetische Sieg sind nach wie vor einer der wichtigsten kulturellen und anthropologischen Grundlagen der zunächst sowjetischen und dann russischen Gesellschaft nach 1945. Die meisten Kämpfe des Zweiten Weltkriegs und die überwiegende Zahl der militärischen und zivilen Opfer fanden an der Ostfront statt, auf dem Gebiet des heutigen Russlands, der Ukraine und Belarus. Die Tragödie des Zweiten Weltkriegs oder „Großen Vaterländischen Krieges“, wie er in Russland genannt wird, ist noch immer Teil des kollektiven Gedächtnisses und der russischen Identität. Nicht nur, wie im Westen, als Tag der Trauer und Reue für die Tausenden und Abertausenden von Toten, sondern auch als tiefer Stolz darauf, einen Kampf bis zum bitteren Ende gegen einen monströsen Feind, der einen totalen Vernichtungskrieg führte, weitergebracht und gewonnen zu haben.

Während des Zweiten Weltkriegs, im Jahr 1942, war Kertsch die letzte Stadt auf der Krim, die fiel, nach etwa sechs Monaten übermenschlichen Widerstands. Der letzte Ort des erbitterten und verzweifelten Widerstands waren die Adschi-Muschkai-Steinbrüche, wo 13.000 sowjetische Kämpfer und Zivilisten Zuflucht fanden und von den Nazi-Truppen belagert wurden. Nur sehr wenige schafften es lebend heraus. Christian Müller von Global Bridge hat darüber ausführlich geschrieben. Es war in jeder Hinsicht eine grausame Geschichte. Heute können die Steinbrüche besichtigt werden. Draußen steht ein imposantes Denkmal, in typisch sowjetischem Stil. 

Der Widerstand von Kertsch ist eine der vielen Geschichten von grausamer und unmenschlicher Grausamkeit auf der einen Seite und tragischem und verzweifeltem Heldentum auf der anderen Seite, die in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs leider allzu zahlreich sind. Die Russen scheinen aus dem einen oder anderen Grund nicht gewillt zu sein, diese Dinge zu vergessen. Die Erinnerung an den Kampf des sowjetischen Volkes gegen die nationalsozialistische Invasion, an das unendliche Leid und den später so dringend begehrten Sieg ist den Russen nach wie vor etwas Heiliges. 

Man mag heute, fast 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, Sympathie für Russland haben oder nicht. Aber es ist schwer, für solche Geschichten keine Sympathie zu empfinden. Heute kämpft Russland in der Ukraine nicht nur gegen die ukrainische Armee, sondern gegen eine westliche Front, die mehr denn je gegen Russland vereint ist. Leider spielen auch in diesem Krieg historische Erinnerungen eine wichtige Rolle und die Russen fühlen sich nach wie vor missverstanden. Und sie scheinen immer noch bereit zu sein, weiter zu kämpfen, für ihre Existenz, für ihre nationale Würde. Man kann mit einer solchen Interpretation des heutigen Krieges in der Ukraine einverstanden sein oder auch nicht, man kann denken, dass die Russen alle verrückt sind, alle hypnotisiert von der Propaganda des Putin-Regimes. Den Russen ist es egal. Denn sie waren irgendwie immer daran gewöhnt, allein gegen den Feind zu stehen, so wie sie es sehen. Es ist nicht etwas, was von oben diktiert wird. Es ist ein Teil des russischen Gemeinschaftsbewusstseins.

Siehe dazu von Stefano di Lorenzo: «Die Krim zehn Jahre danach»

Siehe zur Krim auch die Berichte von Christian Müller, der die Krim im Frühling 2019 persönlich besucht hat: