Wenn politische Konferenzen auf einer US-Air Base stattfinden, ist bereits die Wahl des Konferenz-Ortes eine klare Message: Wir wollen eine militärische «Lösung» (Foto Mil Ramstein)

Krieg in der Ukraine: Der Westen treibt die Eskalation auf die Spitze

(Red.) Der in Brüssel ansäßige Beobachter der geopolitischen Lage Gilbert Doctorow analysiert die Reaktionen Russlands auf das Treffen der sogenannten „Ukraine-Kontaktgruppe“ auf der US Air Base Ramstein in Deutschland und dessen unter Leitung des US-amerikanischen Aussenministers Antony Blinken zustande gekommenen – erneut äusserst provokativen – Beschlüsse. Ein Atomkrieg wird immer wahrscheinlicher. (cm)

Das Vereinigte Königreich und der Commonwealth trauern um die vor zwei Tagen verstorbene Königin Elisabeth II..  Ich bin auch in Trauer, aber aus einem ganz anderen Grund: Die gestrige Versammlung der sogenannten Ukraine-Kontaktgruppe auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Deutschland hat die Karten in Bezug auf die westliche Militär- und Finanzhilfe für die Ukraine neu gemischt, indem sie die Beiträge zum laufenden heiligen Kreuzzug gegen Russland von noch mehr Ländern erhöht und neue, noch wirkungsvollere Präzisionswaffen zu den Lieferungen an Kiew hinzugefügt hat. Dies war eine offene Aufforderung an den Kreml, seinerseits zu eskalieren, ebenso wie der am selben Tag erfolgte Testabschuss einer neuen Interkontinentalrakete, der Minuteman III, vom Luftwaffenstützpunkt Vandenberg in Kalifornien und der gestrige unangekündigte Besuch von Außenminister Antony Blinken, der in westlichen Medienberichten erwähnt wurde, und auch anderer hochrangiger Beamter der Regierung Biden in Kiew. Das berüchtigtste Mitglied dieser Delegation war sicherlich Blinkens Stellvertreterin Victoria Nuland, die damals schon den Staatsstreich vom Februar 2014 inszeniert hatte, durch den in Kiew das russenfeindliche Regime an die Macht kam, dem Wolodymyr Selenskyj jetzt vorsteht.

Die Russen könnten aufgrund des Verlaufs der Militäraktionen vor Ort gezwungen sein, den Köder zu schlucken. Wie jetzt deutlich wird, haben sie in den letzten Tagen bei sehr schweren Boden- und Artilleriekämpfen um Charkow einige Verluste erlitten. Die ukrainischen Erfolge wurden durch die vor kurzem aus den NATO-Ländern eingetroffenen hochmodernen Waffen, durch die von den USA gelieferten Zieldaten und durch taktische Anweisungen von NATO-Offizieren aus dem Off begünstigt.  Mit „den Köder schlucken“ meine ich, dass die Russen zu einem totalen Krieg gegen die Ukraine eskalieren könnten.  Diese Frage spielte gestern in den wichtigsten Nachrichten und politischen Talkshows des russischen Staatsfernsehens eine wichtige Rolle.  Ich werde im Folgenden etwas ausführlicher auf diese Fragen eingehen.

Bedauerlicherweise zwingt mich all das Vorstehende auch dazu, auf die Kritik einzugehen, die ich vor einigen Wochen an dem jüngsten Aufsatz von John Mearsheimer in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ veröffentlicht habe. Seine übergreifende Botschaft über die Gefahren, dass wir in einen Atomkrieg stolpern, wird durch die jüngsten Entwicklungen besser untermauert, auch wenn ich glaube, dass Mearsheimer es versäumt hat, die verschiedenen aufeinanderfolgenden Schritte zu erkennen, die vor uns liegen, bevor wir uns in einem solchen Krieg wiederfinden. Mearsheimer hat die russischen Möglichkeiten, mit Rückschlägen am Boden umzugehen, zu sehr vereinfacht. Dies wird auch ein zentrales Thema meiner folgenden Ausführungen sein.  

Schließlich werde ich in diesem Aufsatz die Aufmerksamkeit auf die zweite Dimension der anhaltenden Konfrontation zwischen Russland und dem gesamten kollektiven Westen lenken: den Wirtschaftskrieg, der gegen die Russische Föderation mittels Sanktionen geführt wird, die inzwischen die gegen jedes andere Land der Erde gerichteten Sanktionen bei weitem übertreffen. Dieser Krieg läuft, wie ich darlegen werde, gut für die Russen. Noch wichtiger für uns alle ist, dass dies der einzige Bereich ist, in dem die Völker Europas ein Mitspracherecht haben, wenn es darum geht, der verrückten Politik ein Ende zu setzen, die von ihren nationalen Regierungen unter dem direkten Druck Washingtons verfolgt wird.

Nach meinen Vorbemerkungen zu meinen Beobachtungen

In den letzten zehn Tagen haben wir den Beginn der ukrainischen Gegenoffensive erlebt, die in den westlichen Medien mit großer Spannung erwartet wurde. Es wurde eine Umkehrung des russischen Kriegsglücks vorausgesagt, die zu einem Patt oder einer völligen Niederlage Russlands führen würde, wie Mearsheimer und einige andere Analysten der US-Außenpolitik befürchteten, die dann eine nukleare Antwort des Kremls auslösen würde.

In der Realität allerdings hatte die ukrainische Gegenoffensive einen sehr schlechten Start. Sie begann im Süden, in der Region Cherson. Das überwiegend russischsprachige Cherson war die erste ukrainische Großstadt, die den Russen in die Hände gefallen war, und sie ist von strategischer Bedeutung für die Sicherung der russischen Vorherrschaft in der Schwarzmeerregion.  Die ersten Ergebnisse der ukrainischen Angriffe auf die Stadt waren für die ukrainischen Streitkräfte jedoch katastrophal. Schon bald wurde deutlich, dass sie neue Rekruten eingesetzt hatten, die über wenig oder gar keine militärische Erfahrung verfügten. Die Infanterie griff über offenes Gelände an, wo sie von den russischen Verteidigern Chersons mühelos in großer Zahl vernichtet wurde. Ich habe die Zahl von 5000 ukrainischen Opfern bei dieser Gegenoffensive auf Cherson gehört. Die Russen jubelten natürlich, obwohl es Berichte gab, dass einige ukrainische Reservisten vom Schlachtfeld abgezogen wurden, um sie anderswo einzusetzen.

Was folgte, war etwas, womit die Russen offensichtlich nicht gerechnet hatten, nämlich ein gut vorbereiteter und durchgeführter Angriff auf ihre Stellungen um die nordöstliche Stadt Charkow, die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Charkow war zu Beginn des Krieges kurzzeitig von russischen Streitkräften umzingelt worden, wurde aber in relativer Ruhe gelassen, da die Russen ihre Strategie auf die Einnahme des Donbass ausrichteten und einen größeren Krieg in den Städten mit Ausnahme der Stadt Mariupol vermieden haben. Was genau der russische Spielplan ist, wurde kürzlich in einem bemerkenswerten Artikel erläutert, den ein gewisser „Marinus“ in der Marine Corps Gazette veröffentlichte

Vor ein paar Tagen schnappte ich aus der Diskussion am Abend mit Wladimir Solowjow folgenden Satz auf: „Ja, wir haben einige Fehler gemacht, aber in einem Krieg ist es unvermeidlich, dass Fehler gemacht werden.“ Aus den jüngsten Nachrichten über den offensichtlichen Verlust von Balakliya und den umliegenden Dörfern am Stadtrand von Charkow können wir ersehen, dass die ukrainische Taktik genau die war, die Russland vom ersten Tag an der „besonderen Militäroperation“ durchaus effektiv gegen sie eingesetzt hatte, nämlich eine Finte in einem Kriegsgebiet, gefolgt von einem Totalangriff auf eine ganz andere Region. Natürlich war die „Finte“ um Cherson, wenn es denn eine war, mit dem zynischen Opfer tausender junger und auch nicht mehr ganz so junger ukrainischer Fußsoldaten verbunden. Aber die daraus resultierende Ablenkung hinderte die Russen daran, genügend Kräfte aufzubringen, um ihre Stellungen um Charkow, zu denen auch die strategisch wichtige Stadt Izyum gehört, erfolgreich zu verteidigen.

Izyum liegt nahe der russisch-ukrainischen Grenze südöstlich von Charkow und ist ein wichtiger logistischer Stützpunkt für Munition und Waffen, die zur Unterstützung der Donbass-Operation von dort aus weitertransportiert werden. Die neuesten Informationen von russischer Seite besagen, dass die Russen nun eine große Anzahl von Reservisten in dieses Gebiet entsandt haben, um ihre Stellungen zu halten.  Es wird auch von heftigen Artillerieduellen gesprochen. Es ist davon auszugehen, dass es auf beiden Seiten zu schweren Verlusten gekommen ist. Der Ausgang ist noch nicht absehbar. Russische Kriegsberichterstatter vor Ort in Donezk betonen nun allerdings, dass der russische Vormarsch auf Slawjansk im Zentrum der ehemaligen Oblast Donezk ohne Unterbrechung fortgesetzt wird, was darauf schließen lässt, dass die von den Ukrainern behaupteten Angriffe auf ihre Munitionslager nicht richtig wirksam waren. Wenn Slawjansk in den nächsten Wochen eingenommen wird, wird Russland schnell die Kontrolle über das gesamte Gebiet des Donbass übernehmen.

Und jetzt das Treffen in Ramstein

In der gestrigen Talkshow sagte der Moderator Wladimir Solowjow, dass dieser jüngste Vorstoß der ukrainischen Gegenoffensive zeitlich mit dem Treffen hochrangiger Vertreter der NATO und anderer Verbündeter auf dem Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Deutschland unter der Leitung des zu Besuch weilenden US-Verteidigungsministers Lloyd Austin zusammenfiel. Sollten die ukrainischen Bemühungen vor Ort scheitern, würde der Ruf laut werden: Wir müssen sie mit mehr Waffen und Ausbildung versorgen. Und wenn die ukrainischen Bemühungen bei ihrer Gegenoffensive erfolgreich waren, würden die Anwesenden in Ramstein genau denselben Appell hören, nämlich Kiew jetzt erst recht mehr zu unterstützen.

Obwohl der „Abend mit Solowjow“, der ab etwa 23.00 Uhr Moskauer Zeit ausgestrahlt wurde, den Zuschauern einige wenige Minuten an Videoaufnahmen von der Eröffnung des Treffens in Ramstein bot, wurde dem russischen Publikum einige Stunden zuvor in der Nachmittagsnachrichtensendung „Sixty Minutes“ eine weitaus umfassendere Berichterstattung geboten. Hier wurde fast eine halbe Stunde lang über Auszüge aus CNN und anderen amerikanischen und europäischen Fernsehberichten über Ramstein berichtet. Der Moderator Jewgeni Popow las die russische Übersetzung der verschiedenen westlichen Nachrichtenbeiträge vor. Seine Präsentation zielte eindeutig darauf ab, die Bedrohung zu dramatisieren und die Alarmglocken zu läuten.

Wladimir Solowjow seinerseits ging über die Darstellung der Bedrohung durch die USA und ihre Verbündeten hinaus und analysierte die mögliche Reaktion Russlands.  Er sprach ausführlich, und wir können davon ausgehen, dass er für das, was er sagte, die direkte Zustimmung des Kremls hatte, denn seine Gäste, die weiter von der Macht entfernt sind als er, durften größtenteils dummes Zeug reden, so wie die Kritik eines Diskussionsteilnehmers an einem kürzlich erschienenen pro-ukrainischen, antirussischen Artikel des Yale-Professors Timothy Snyder in der „New York Review of Books“, der in den großen strategischen Fragen, mit denen Russland heute konfrontiert ist, eh keine Rolle spielt.

Der Krieg geht in eine neue Phase

Was also hatte Solowjow zu sagen? Erstens, dass das Treffen in Ramstein eine neue Etappe des Krieges markiere, weil die angekündigten neuen Waffensysteme des Westens deutlich bedrohlicher seien, z. B. Raketen mit einer Genauigkeit von 1 bis 2 Metern, wenn sie dank ihres GPS-gesteuerten Flugs aus einer Entfernung von 20 oder 30 Kilometern abgefeuert werden, im Unterschied zu den lasergesteuerten Raketen, die bisher an die Ukraine geliefert wurden. In die gleiche Kategorie fallen auch Waffen, die die russischen Radarsysteme zur Steuerung des Artilleriefeuers zerstören sollen.  

Zweitens, dass „Ramstein“ die weitere Ausweitung der Koalition des heiligen Kreuzzugs gegen Russland markiert. Und drittens handele es sich nicht mehr um einen Stellvertreterkrieg, sondern um einen echten, direkten Krieg mit der NATO, der mit einem entsprechenden Einsatz aller Ressourcen im In- und Ausland geführt werden müsse. 

Russland, so Solowjow, sollte sich von der bisherigen Zurückhaltung befreien und die ukrainische Infrastruktur mit der doppelten Nutzung – zivil und militärisch – zerstören, die es bisher ermöglicht hat, westliche Waffen quer durch das Land an die Front zu transportieren. Das Eisenbahnsystem, die Brücken, die Elektrizitätswerke – sie alle sollten nun neu zu erlaubten Zielen werden.  Außerdem sollte Kiew von Raketenangriffen und der Zerstörung der Ministerien und des Präsidialapparats, die für die Fortführung des Krieges verantwortlich sind, nicht länger verschont bleiben. Ich stelle fest, dass diese Ideen schon vor mehr als einem Monat in der Solowjow-Sendung geäußert wurden, dann aber wieder aus dem Blickfeld verschwunden sind, nachdem die Russen vor Ort große Erfolge erzielen konnten. Die jüngsten Rückschläge und die neuen Risiken, die mit der in Ramstein dargelegten westlichen Politik verbunden sind, lassen sie nun wieder aktuell werden.

Solowjow sprach sich auch dafür aus, dass Russland in der Ukraine nun endlich seine eigenen modernsten Waffen einsetzen sollte, die ähnliche Eigenschaften aufweisen wie die von der NATO an die ukrainische Seite gelieferten Waffen. Ausserdem sollte Russland erwägen, auf die eine oder andere Weise die GPS-Lenkung für US-Waffen zu neutralisieren.  Wenn dies heisst, dass die entsprechenden US-Satelliten zerstört oder irgendwie ausgeblendet werden, würde dies bedeuten, dass eine bekannte rote Linie – ein casus belli – der USA überschritten würde.

Vom Alleingang zu mehr internationaler Unterstützung

Als Nächstes sollte Russland unter den neuen Umständen seine Politik des Alleingangs aufgeben und sich aktiv um ergänzende Waffensysteme aus bisher unbeteiligten Ländern wie dem Iran und Nordkorea bemühen. Die Beschaffungen aus beiden Ländern waren bisher marginal. Zu diesem Thema durften einige der TV-Diskussionsteilnehmer mit militärischem Sachverstand erklären, dass diese beiden Länder über hochentwickelte und bewährte Waffen verfügen, die Russlands Kampfaktivitäten erheblich unterstützen könnten. Der Iran verfügt über unschlagbare Drohnen, die schwere Sprengladungen tragen können und sich bereits in Operationen bewährt haben, die im öffentlichen Fernsehen nicht erwähnt werden dürfen. Und Nordkorea verfügt über sehr effektive Panzer und hochmobile Feldartillerie, die beide mit der russischen Militärpraxis voll kompatibel sind, da die technischen Konzepte auf chinesischen Waffen basieren, die wiederum von den russischen kopiert wurden. Diese Waffen haben sich auch in den Händen von ungenannten Käufern im Nahen Osten bewährt. Außerdem verfügt Nordkorea über ein riesiges Munitionslager, das mit der russischen Artillerie kompatibel ist. Am Rande wurde auch erwähnt, dass Russland, da Kiew viele westliche Söldner und verdeckte NATO-Offiziere mobilisiert hat, auch aus dem Ausland militärisches Personal rekrutieren sollte, z. B. ganze Brigaden aus Nordkorea, die man gegen Bezahlung „ausleihen“ und einsetzen kann.

Der Schritt zum Dritten Weltkrieg

Wenn auch nur eine dieser Ideen, die Solowjow jetzt geäußert hat, vom Kreml tatsächlich umgesetzt wird, dann wird die gegenwärtige Konfrontation in und um die Ukraine faktisch globalisiert, und wir haben die Umrisse dessen, was man als Dritten Weltkrieg bezeichnen könnte.  Ich stelle jedoch fest, dass der Einsatz von Atomwaffen, ob taktisch oder nicht, in den Optionen, die das offizielle Moskau im Zusammenhang mit den Herausforderungen seiner Ukraine-Operation erörtert, überhaupt nicht vorkommt. Eine solche Möglichkeit würde sich nur dann ergeben, wenn die Zahl der NATO-Truppen, die jetzt in EU-Länder an der russischen Grenze entsandt werden, auf ein Vielfaches der derzeit zugewiesenen Truppen ansteigen würde und diese sich sichtbar auf einen Einmarsch in Russland vorbereiten würden.

Dazu ein paar persönliche Anmerkungen

Vor dem Treffen in Ramstein, vor den Nachrichten über die ukrainischen Erfolge vor Ort im Sektor Charkow, hatte ich in der vergangenen Woche vor, über eine ganz andere Entwicklung zu schreiben, die auch mit einem anderen Kalender zusammenfiel: das Ende der Sommerferien und die Rückkehr unserer nationalen Regierungen an die Arbeit. Mit der Rückkehr müssten sich unsere Präsidenten und Premierminister endlich mit der kritischen Lage der europäischen Volkswirtschaften befassen, die mit den höchsten Inflationsraten seit Jahrzehnten und einer Energiekrise konfrontiert sind, die durch die westlichen Sanktionen gegen russische Energieträger ausgelöst wurde. Es wurde viel darüber spekuliert, was genau die Regierungen tun würden. Mehrere Artikel in der Ausgabe der Financial Times vom 7. September haben mich besonders beeindruckt, und ich hatte vor, sie zu kommentieren.

Seit Monaten ist die „Financial Times“ das Sprachrohr von Downing Street Nummer 10, an der Spitze des westlichen Kreuzzuges zur Zerschlagung Russlands. Ihre Redaktion hat konsequent jeden noch so hirnrissigen Vorschlag für Sanktionen gegen Russland unterstützt. Doch am 7. Juli haben ihre Journalisten die Show gestohlen und die Grundannahmen ihrer Chefs in Frage gestellt. Ein Artikel von Derek Brower im Newsletter „FT Energy Source“ trägt zum Beispiel den selbsterklärenden Titel „The price cap idea that could worsen the energy crisis“ (Der Preisdeckel, der die Energiekrise verstärken könnte). Wie wir heute gesehen haben, war Browers Besorgnis bereits überholt, denn die EU konnte sich nicht auf eine Preisobergrenzenpolitik einigen. Diese Idee, die in den USA von keiner Geringeren als der Finanzministerin Janet Yellen propagiert wurde, steht in völligem Widerspruch zu den Praktiken des globalen Kohlenwasserstoffmarktes, wie sogar einige führende EU-Politiker erkannt haben, wodurch die Initianten aus den baltischen Staaten um den erhofften Konsens gebracht wurden.

Ein weiterer Artikel in der FT vom 7. Juli von Valentina Pop, Redakteurin von „Europe Express“, analysierte schnell und kompetent die Probleme, denen sich die europäischen Politiker gegenübersehen, wenn sie versuchen, den Schmerz der privaten Haushalte und der Industrie zu lindern, den die jüngsten Strom- und Heizungsrechnungen verursachen, da diese um ein Vielfaches höher sind als noch vor einem Jahr und für große Teile der Bevölkerung unerschwinglich sind. Das Hauptproblem, so Pop, sei die Frage, wie den Bedürftigsten angesichts der Beschränkungen und Ressourcen der verschiedenen Regierungsbehörden schnell geholfen werden könne: „In einigen Hauptstädten wird es viele Monate dauern, bis festgestellt wird, welche Haushalte Hilfe benötigen“, sagt sie. Natürlich wird die breite Bevölkerung nicht viele Monate Geduld aufbringen können (wie die gigantische Demonstration auf dem Prager Wenzelsplatz am letzten Wochenende eindrücklich gezeigt hat, Red.).

Der überraschendste Artikel in dieser Sammlung aus dieser FT-Ausgabe fand sich in der Rubrik „Opinion Lex“ der Zeitung, in der es inhaltlich darum ging, wie russische Banken den Sturm überstanden haben, der ausbrach, als die EU-Sanktionen gegen ihre Branche kurz nach dem Beginn der „besonderen Militäroperation“ Russlands verhängt wurden. Tatsächlich sind die VTB und andere große russische Banken trotz alledem in die Gewinnzone zurückgekehrt. Der Autor stellt dabei fest, dass „die Sanktionen weniger stark wirken als von westlichen Politikern erhofft“. Nicht nur ist die erwartete Bankenkrise ausgeblieben, der Rubel befindet sich auch auf dem höchsten Stand seit fünf Jahren und die Inflation ist rückläufig. Außerdem werden die offiziellen russischen Finanzdaten, die diesen generellen Aussagen zugrunde liegen, von unabhängigen und vertrauenswürdigen Marktbeobachtern als solide bezeichnet. Die wichtigsten Folgerungen daraus werden für den Schluss aufgehoben: „Russland hat gezeigt, dass es den Schmerz der westlichen Sanktionen ertragen kann. Westeuropa muss die Repressalien ebenso robust ertragen oder gar eine historische Niederlage einstecken.“ Bei den „Repressalien“ handelt es sich um die vollständige Einstellung der russischen Gaslieferungen durch Nord Stream I, bis Europa seine Sanktionen aufhebt.

Es ist interessant, dass sogar der Kommentar von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der ebenfalls am 7. Juli in der FT veröffentlicht wurde, die folgende düstere Warnung enthält:  «Wir stehen vor schwierigen sechs Monaten, in denen uns Energiekürzungen, Ausfälle und vielleicht sogar zivile Unruhen drohen». 

Zwar gibt es hier und da in Europa ein paar kluge Verwaltungsbeamte, die vielversprechende Lösungen für die drohende Krise der Energierechnungen finden. An ihrem ersten Tag im Amt kündigte die neue britische Premierministerin Liz Truss eine solche Lösung an: Sie will die maximale Energierechnung pro Haushalt sofort auf dem derzeitigen Niveau von 2500 Pfund Sterling (knapp 3000 Euro) pro Jahr einfrieren und dann mit den Energieversorgern eine Subvention vereinbaren, um deren Verluste zu decken. Das ist zwar gut, um mögliche „zivile Unruhen“ im Keim zu ersticken. Aber es bleibt die Frage, wie Großbritannien die geschätzten 150 Milliarden Pfund (175 Milliarden Euro) finanzieren soll, die dies allein im ersten Jahr kosten wird. Würde eine ähnliche Lösung in der EU genehmigt, würden sich die Gesamtkosten sicherlich den 800 Milliarden Euro nähern, die vor einem Jahr zur Deckung der durch die Covid-Pandemie verursachten Verluste aufgenommen wurden. Doch während die Covid-Hilfe durch eine kollektive Kreditaufnahme der EU finanziert wurde, ist eine solche Solidarität bei der Bewältigung der Energiekrise unwahrscheinlich, da Deutschland, die Niederlande und andere nördliche Mitgliedstaaten dagegen sind, dass dies zu einer generellen Praxis wird, und ihr Veto einlegen werden. Die britische Lösung, so klug sie auch sein mag, wird für viele Länder in der EU angesichts ihrer hohen Staatsverschuldung allein kaum möglich sein.

Die zweite Frage ist, wie die Industrie unterstützt werden kann. Wird die Industrie nicht angemessen entlastet, führt dies zu Betriebsschließungen und zu grassierender Arbeitslosigkeit, was schließlich auch politischen Protest hervorrufen wird. In jedem Fall bleiben bei solchen Lösungen die Auswirkungen der stark gestiegenen staatlichen Kreditaufnahme zur Finanzierung der Energiesubventionen unberücksichtigt, die in den besten Zeiten immer zu einer Verringerung des für andere staatliche Leistungen verfügbaren Kapitals und des für Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen verfügbaren Kapitals für die Privatwirtschaft führt.

Diese verschiedenen Probleme bei der Bewältigung der Energiekrise, die sich Europa durch die Verhängung von Sanktionen gegen Russland selbst geschaffen hat, könnten sich als unlösbar erweisen und in diesem Herbst in einer Reihe von europäischen Ländern zu spontanen Protesten  führen.    

Auf dem „alten Kontinent“ gibt es keine nennenswerte Antikriegsbewegung mehr. Die Proteste des Volkes gegen das Dilemma „Heizen oder Essen“, das den Menschen vom Staat ohne irgendeine öffentliche Debatte aufgezwungen wird, könnten also sogar unser aller Rettung sein, wenn sie die kriegsgeilen Politiker zum Rücktritt zu bewegen vermögen.

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Zum Originalartikel von Gilbert Doctorow hier anklicken. Die Übersetzung besorgte Christian Müller.

Siehe vom gleichen Autor auch: «Mehr hinhören, was die Russen sagen!»

Zum Autor Gilbert Doctorow: «Gilbert Doctorow is an independent political analyst based in Brussels. He is a magna cum laude graduate of Harvard College and holds a doctorate in Russian history from Columbia University. From a position as postdoctoral fellow at Harvard’s Russian Research Center in 1975 he transitioned to corporate business, serving major U.S. corporations in their ambition to establish industrial projects in the USSR under conditions of detente. His twenty-five year business career culminated in the position of Managing Director, Russia during the years 1995-2000. Since 2010, Doctorow has published collections of his weekly essays on US-EU-Russian relations and most recently brought out a two volume edition of his diaries and reminiscences.  Volume I of „Memoirs of a Russianist,“ bears the subtitle „From the Ground Up“ and sets out the background to his analytic mindset on Russia, on the United States that we see in his present-day essays. Volume II – „Russia in the Roaring 1990s“  is one of the first monographs devoted to the life and times of the foreign community of corporate managers in Moscow and St Petersburg that numbered 50,000 families in the capital alone in 1995. It documents in diary entries and newspaper clippings how the Russian market was won by foreign interests in the 1990s, only to be lost in the spring of 2022 by the sanctions and „cancel Russia“ policies of the Collective West.  A Russian language edition in a single 780 page volume was published by Liki Rossii in St Petersburg in November 2021. – Zu Gilbert Doctorows Website hier anklicken.