Langsam, aber stetig: Die russischen Truppen rücken vor und haben auch Peski bereits unter Kontrolle. (Screenshot)

Krieg in der Ukraine: Mehr hinhören, was die Russen sagen

(cm) Die Beurteilungen und Informationen über den Krieg in der Ukraine und die Positionen der sich gegenüberstehenden Kriegsparteien liegen meilenweit auseinander. Während sich zum Beispiel in der Schweiz Journalisten und Redakteure im Russenhass suhlen und die Schwäche der Russen besingen, sehen unabhängige Militär-Experten die Lage deutlich anders.

Redaktionelle Vorbemerkung: Es ist keine Überraschung: In den Zeitungen des Schweizer Medien-Konzerns CH-Media wird das eigene Wunschdenken zur Headline und zum Inhalt eines Leitartikels auf der Frontseite:

Die CH-Media-Zeitungen am 24. August auf der Frontseite: Es ist Zeit, Russlands Schwäche zu erkennen. (Screenshot)

Der Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung NZZ, Eric Gujer, weiss sogar bereits, wer der Verlierer des Krieges ist – und schreibt’s ebenfalls gleich auf die Frontseite:

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John J. Mearsheimer, einer der bekanntesten US-amerikanischen Politologen, widerspricht diesen einseitigen Beurteilungen nicht, nimmt sie im Gegenteil als bare Münze, zieht daraus aber den Schluss, damit sei die Gefahr eines durch Russland begonnenen Nuklear-Krieges massiv angewachsen. Aber es gibt auch unabhängige Beobachter und Kommentatoren, die Russland aus persönlichem Erleben kennen. Einer von ihnen, der in den USA ausgebildete Russistiker Gilbert Doctorow (siehe sein CV unten) schaut und hört deutlich besser hin. (cm)

Hier nun die aktuelle Analyse von Gilbert Doctorow:

Vor einigen Tagen veröffentlichte die meistgelesene Zeitschrift für internationale Politik in den USA, «Foreign Affairs», einen Artikel von John Mearsheimer, Professor an der University of Chicago, mit dem Titel „Playing with Fire in Ukraine: the Underappreciated Risks of Catastrophic Escalation“. Die Online-Version ist hier abrufbar. 

Diese Veröffentlichung war an sich schon ein großes Ereignis angesichts der orthodoxen Sichtweise von «Foreign Affairs» auf alles, was mit Russland zu tun hat, und der Anfechtung des Washingtoner Narrativs durch Mearsheimer, seit sein Artikel «Why the Ukraine Crisis is the West’s Fault» in der Herbstausgabe 2014 von «Foreign Affairs» erschien. Damals löste dieser Artikel einen Wutanfall bei den Hardlinern aus, die die Mehrheit der US-amerikanischen Außenpolitiker und der Leser der Zeitschrift ausmachen.

Das Video einer Rede zum selben Thema, die Mearsheimer 2014 kurz nach Erscheinen seines Artikels hielt, wurde von mehr als 12 Millionen Besuchern der Website www.youtube.com angesehen. Eine aktualisierte Version derselben Rede, die im Frühjahr dieses Jahres auf youtube präsentiert wurde, hat ebenfalls mehr als 1,6 Millionen Zuschauer angezogen. Man kann mit Sicherheit sagen, dass John Mearsheimer der meistgesehene und meistgehörte Akademiker ist, der die in den USA gängige Meinung zum Ukraine-Krieg bestreitet.

Ich erkenne das Verdienst von Mearsheimers neuem Artikel an: Er warnt davor, dass der Konflikt in der Ukraine leicht außer Kontrolle geraten und zu einem Atomkrieg eskalieren könnte. Das Team der unerfahrenen und unwissenden Berater im Weißen Haus muss aus seiner Selbstgefälligkeit tatsächlich aufgerüttelt werden, und alles, was in «Foreign Affairs» veröffentlicht wird, wird ihnen zwangsläufig zur Kenntnis gebracht, während ein Artikel, der z. B. auf www.antiwar.com veröffentlicht wird, schon vor dem Lesen verbrannt wird.

Dies entschuldigt jedoch nicht, dass Mearsheimer sich auf die gleichen eingeschränkten und verzerrten Informationsquellen stützt, wie sie von den Mainstream-Medien und Mainstream-Wissenschaftlern verwendet werden, während er andere Informationsquellen ignoriert, die seiner Analyse mehr Tiefe verleihen und seine Schlussfolgerungen möglicherweise wesentlich verändern würden. Ich glaube, dass er zu sehr auf die rosigen Prognosen Washingtons und Kiews über eine Gegenoffensive hört, die zu einem Patt und möglicherweise sogar zu einer russischen Niederlage führen wird, und dass er nicht auf die russischen Berichte über die Fortschritte ihrer Kampagne vor Ort hört, die darauf hindeuten, dass alle Hindernisse auf dem Weg zur Eroberung der Oblast Donezk, d. h. der Einnahme des gesamten Donbass, langsam aber stetig aus dem Weg geräumt werden.

Der russische Vormarsch wird durch die Abtrennung von Truppen in die Region Cherson nur geringfügig verlangsamt, um den laut angekündigten ukrainischen Angriff im Keim zu ersticken. Die neuesten Nachrichten besagen, dass sich die Russen den strategisch wichtigen Punkten Slawjansk und Kramatorsk nähern, der Wiege der Unabhängigkeitsbewegung im Donbass im Jahr 2014. Durch die Einnahme dieser Städte in der Zentralregion unterbrechen die Russen den Waffennachschub für die am stärksten befestigten ukrainischen Stellungen vor den Toren von Donezk, aus denen seit acht Jahren täglich Wohnviertel bombardiert und Zivilisten getötet werden. Dies erklärt, warum die ukrainischen Stellungen in der Stadt Peski, die nur zwei Kilometer von der DVR-Hauptstadt Donezk entfernt liegt, in der vergangenen Woche überrannt und zerstört wurden.

Über die Einnahme der Stadt Peski wurde in den westlichen Medien nicht berichtet, ebenso wenig wie über die kriegsverbrecherischen Aktivitäten der Ukrainer, die sich auf zivile Ziele konzentrieren und damit gegen die internationalen Konventionen zur Kriegsführung verstoßen. Der russische Vormarsch hat also nichts mit «Schock und Schrecken» zu tun, d.h. die Russen tun jetzt sicher nichts, um Schlagzeilen zu machen und um Joe Biden zu einer unverhältnismäßigen Eskalation zu zwingen.

Der jüngste Zeitplan der Russen, der in ihren führenden Fernseh-Talkshows verkündet wurde, sieht vor, die Befreiung des Donbass bis zum Jahresende abzuschließen. Wenn es danach zu keiner ukrainischen Kapitulation kommt, ist ein weiterer Vormarsch über Odessa bis nach Transnistrien und zur rumänischen Grenze wahrscheinlich, und dann braucht niemand mehr einen Friedensvertrag. 

Das Selenskyj-Regime könnte durch die gegenseitigen Beschuldigungen, die seine Machtbasis erschüttern, dem Untergang geweiht sein.

Mearsheimer geht in seinem Artikel sehr ausführlich auf die vielen möglichen Szenarien für eine gefährliche, wenn nicht gar katastrophale Eskalation des Konflikts ein. Diese sind jedoch zahlreich und weitgehend unvorhersehbar, so dass er letztlich nur einen Bruchteil der Möglichkeiten abdeckt, wie die Dinge aus dem Ruder laufen könnten. Sie sind, wie er zugibt, nicht sehr wahrscheinlich. Amen.

Und was ist mit den Atomkraftwerk Saporischschja?

Eine dieser Möglichkeiten für eine katastrophale Eskalation, die derzeit die Aufmerksamkeit der weltweiten Medien auf sich zieht, ist der Konflikt um das Atomkraftwerk im russisch besetzten Saporischschja, dem größten Atomkraftwerk Europas. Beide Konfliktparteien spielen die Bedrohung durch Artillerie- und Raketenangriffe auf eine Nuklearanlage zu propagandistischen Zwecken hoch, um die andere Seite als Verrückte darzustellen: Die Ukrainer bezeichnen die Kreml-Führung als Nuklearterroristen und Erpresser, die Russen die ukrainischen Streitkräfte, die das Kraftwerk beschießen, als „Affen mit Granaten“. Sicherlich hatte Mearsheimer bei der Formulierung seines Artikels die Beschädigung des Kraftwerks und die Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Atmosphäre im Sinn. Ich möchte jedoch klarstellen, dass es sich hier um ein Scheinproblem handelt, so wie die angebliche russische Blockade der ukrainischen Häfen afrikanische Länder in Hungersnot brachte, weil sie kein Getreide erhielten, das sie vor dem Konflikt in der Ukraine bestellt hatten. Tatsache ist, dass die Kernreaktoren von meterdicken Betonwänden umgeben sind, die allen Geschossen, die die Ukrainer abzufeuern in der Lage sind, standhalten. Die Risiken bestehen für die Verwaltungsgebäude und die Kühlsysteme. Die Russen sind aber durchaus in der Lage, die Kernreaktoren jederzeit abzuschalten, um eine Katastrophe zu verhindern.

Lassen Sie mich nun die Aufmerksamkeit auf das nukleare Risiko lenken, das Mearsheimer in seinem Artikel benennt. Er greift genau das gleiche Argument auf wie die Mainstream-Kommentatoren in den USA, nämlich dass Russland auf Atomwaffen zurückgreifen könnte, falls sich die Lage aufgrund einer stärkeren westlichen Intervention einschließlich westlicher Truppen vor Ort gegen Russland wenden sollte. Wir alle wissen, dass bereits westliche Truppen vor Ort sind, nämlich die «Ausbilder», die das Feuer für HIMARS leiten. Wir wissen, dass hochrangige amerikanische und andere westliche Offiziere, die mit ihren ukrainischen Kollegen in Kontakt stehen, vor kurzem durch den russischen Raketenangriff auf Winnyzja in Stücke gerissen wurden. Das wurde alles totgeschwiegen, und der einzige Hinweis auf diese Katastrophe für Washington war am nächsten Tag die Entlassung der für die Ukraine zuständigen Geheimdienstführung.

Natürlich weiß niemand, was eine Eskalation noch für Folgen haben könnte. Aber auch hier lässt Mearsheimer einige wichtige Überlegungen außer Acht. Warum geht er davon aus, dass die Russen zu nuklearen Optionen eskalieren müssen, und warum würden sich diese Optionen gegen Kiew richten und nicht etwa gegen London? Vor allem übersieht er die Tatsache, dass die Russen erst begonnen haben zu kämpfen, wie Putin kürzlich öffentlich sagte. Sie haben noch nicht mobilisiert und noch keine militärischen Aufgebote verschickt, sie haben die Wirtschaft noch nicht auf Kriegsfuß gestellt. Und sie haben ihre wichtigsten Waffen noch nicht eingesetzt. Stattdessen haben sie diese bewusst zurückgehalten, um sie notfalls in einem direkten Krieg mit der NATO einsetzen zu können. Dabei handelt es sich um massiv zerstörerische konventionelle Sprengladungen, die von Hyperschallraketen und ähnlichen Flugkörpern getragen werden.

Auch die negativen wirtschaftlichen Folgen in Europa müssen beachtet werden

Und dann gibt es noch eine weitere Dimension des Konflikts, die Mearsheimer in seinem Artikel nicht anspricht, obwohl sie einen entscheidenden Einfluss darauf haben wird, ob Washington oder Moskau das Tauziehen gewinnt: der wirtschaftliche Schaden, den die Sanktionen in Europa durch Rückschläge anrichten, die mit Beginn der Heizperiode im Herbst und Winter politisch unhaltbar werden. Die baltischen Staaten und Polen sind und bleiben immun gegen Vernunft, da sie von wahnhaften Russophobikern geführt werden. Wenn es jedoch zu den unvermeidlichen Straßendemonstrationen in Frankreich kommt, dem eh unbeständigsten der großen EU-Staaten, gefolgt von Ostdeutschland und sogar von Belgien, einem eher passiven Land, wie ich von den lokalen Eliten höre, mit denen ich spreche, dann werden die Politiker Europas in widersprüchliche Richtungen auseinandergehen und die Einheit wird zusammenbrechen. Die Russen sind sich sicher, diesen psychologischen Krieg zu gewinnen, trotz aller Bemühungen der staatlichen EU-Medien, es zu vertuschen. Der Tag, an dem Scholz grünes Licht für die Eröffnung von Nord Stream II gibt, wird den russischen Sieg markieren und den von den USA gesteuerten selbstmörderischen Entscheidungen hier in Europa ein Ende setzen.

Aus all den oben genannten Gründen fordere ich Professor Mearsheimer und seine Anhänger auf, genauer darauf zu achten, was die Russen sagen, und weniger auf die heiße Luft, die aus Washington kommt.

Zum Artikel von John J. Mearsheimer in «Foreign Affairs»

Zum Originalartikel von Gilbert Doctorow hier anklicken. Die Übersetzung besorgte Christian Müller.

Zum Autor Gilbert Doctorow: «Gilbert Doctorow is an independent political analyst based in Brussels. He is a magna cum laude graduate of Harvard College and holds a doctorate in Russian history from Columbia University. From a position as postdoctoral fellow at Harvard’s Russian Research Center in 1975 he transitioned to corporate business, serving major U.S. corporations in their ambition to establish industrial projects in the USSR under conditions of detente. His twenty-five year business career culminated in the position of Managing Director, Russia during the years 1995-2000. Since 2010, Doctorow has published collections of his weekly essays on US-EU-Russian relations and most recently brought out a two volume edition of his diaries and reminiscences.  Volume I of „Memoirs of a Russianist,“ bears the subtitle „From the Ground Up“ and sets out the background to his analytic mindset on Russia, on the United States that we see in his present-day essays. Volume II – „Russia in the Roaring 1990s“  is one of the first monographs devoted to the life and times of the foreign community of corporate managers in Moscow and St Petersburg that numbered 50,000 families in the capital alone in 1995. It documents in diary entries and newspaper clippings how the Russian market was won by foreign interests in the 1990s, only to be lost in the spring of 2022 by the sanctions and „cancel Russia“ policies of the Collective West.  A Russian language edition in a single 780 page volume was published by Liki Rossii in St Petersburg in November 2021. – Zu Gilbert Doctorows Website hier anklicken.