Russische Eltern, die bereit sind, Waisen aus einem Waisenheim im Donbass zu übernehmen. (Bild NZZ/AP)

«Kinderfänger Putin»: ein Lehrstück über Fakten-Chirurgie   

Ein Artikel der «NZZ am Sonntag» verfälscht durch raffiniertes Framing die Aussagen des UN-Sicherheitsrates.

Es ist seit vielen Monaten ein Dauerbrenner in westlichen Medien: Russland entführt gewaltsam Kinder aus der Ukraine, unterzieht sie einer Gehirnwäsche in Lagern, die zum Teil in Sibirien liegen, und so weiter. Am Anfang waren es Tausende, dann Zehntausende, jetzt sind es Hunderttausende.

Mykola Kuleba, einer der Repräsentanten aus Kiew, die die Verbreitung dieser Meldungen betreiben, sagte auf einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates Ende August: «Mehr als eine Million Kinder sind in den besetzten Gebieten der Krim und des Donbass gestrandet („ended up“) und wurden nach Moskau deportiert. Sie wurden gestohlen und zu Waffen gemacht. Tausende von ihnen kämpfen nun gegen ihr Heimatland.» 

Kuleba betreibt die Kinderrrechtsorganisation «Save Ukraine», die der Regierung Selenskyj nahesteht. In der Sitzung des Sicherheitsrates kam auch die Juristin Kateryna Rashevska zu Wort, auch sie Sprecherin eines Zentrums für Menschenrechte in Kiew mit eindeutiger politischer Stossrichtung.

Die «NZZ am Sonntag» berichtete über besagte UN-Sitzung am 29. Oktober unter dem Titel «Kinderfänger Putin». Das Wording dockt assoziativ an die Sage vom Rattenfänger von Hameln an. Dieser soll im Mittelalter die Stadt von einer Rattenplage befreit haben, und dann, weil man ihm seine Bezahlung vorenthielt, die Kinder der Stadt entführt haben. Sie tauchten dem Märchen zufolge nie mehr auf. 

In dem Artikel behauptet die NZZ-Korrespondentin, die UNO habe die Angaben aus Kiew bestätigt. Als Beweis wird die zuständige UN-Funktionärin Rosemary DiCarlo zitiert: 

«Schon die Zahlen, sagt die stellvertretende Generalsekretärin, Rosemary DiCarlo, erzählten eine erschütternde Geschichte: seinerzeit 554 getötete, 17’000 verletzte, 1181 vermisste und 19’546 gewaltsam entführte Kinder.»

Dies seien «erwiesenermassen» die Fakten, heisst es, und dies habe die Uno bestätigt. Ich weiss nicht, ob die Redaktion der «NZZ am Sonntag» sich die Mühe gemacht hat, den Uno-Rapport von dieser Sitzung zu lesen. Man braucht einige Zeit, bis man ihn auf der UN-Homepage gefunden hat. Dort heisst es gleich zu Beginn, der Sicherheitsrat könne die Vorwürfe aus Kiew nicht überprüfen:

(…) «she (Frau DiCarlo) expressed regret that the UN still does not have the necessary access to verify allegations of violations against children in the territory of Ukraine under Moscow’s control or in the Russian Federation itself.»

Zu deutsch: „Sie (Frau DiCarlo) äußerte ihr Bedauern darüber, dass die UNO immer noch nicht über den notwendigen Zugang verfügt, um die Vorwürfe über Verstöße gegen Kinder auf dem von Moskau kontrollierten Gebiet der Ukraine oder in der Russischen Föderation selbst zu überprüfen.“

Diese Einschränkung findet in der «NZZ am Sonntag» keine Erwähnung. Vielmehr wird der Eindruck erweckt, der Sicherheitsrat habe die Anschuldigungen aus Kiew im Wesentlichen als Tatsachen anerkannt. Ein Framing, welches Professionalität und journalistisches Ethos vermissen lässt.

Wer nur einen Teil der Wahrheit wiedergibt und einen entscheidenden Teil ausblendet, muss sich vorwerfen lassen, die Unwahrheit zu verbreiten.

Die Regierung in Moskau hat nie bestritten, dass sie Kinder aus der Ukraine nach Russland überführt und in vielen Fällen zur Adoption freigibt. Es handele sich in den meisten Fällen um Kriegswaisen, die in Übereinstimmung mit dem humanitären Völkerrecht geschützt und aus den Kampfgebieten in Sicherheit gebracht werden müssten.  

Das Dementi des Kreml wird zwar in dem NZZ-Artikel gegen Ende erwähnt. Die gesamte Darstellung der Vorgänge lässt aber für Leserinnen und Leser nur den Schluss zu, Moskau begehe Kriegsverbrechen an Kindern.  Der Europarat, so wird hervorgehoben, habe die «Deportation ukrainischer Kinder nach Russland offiziell als Völkermord bezeichnet.»

Die Angaben der ukrainischen Menschenrechtsaktivisten tendieren zum Grotesken und demontieren sich dadurch teilweise selbst. Dass der russischen Armee damit gedient sein soll, dass sie Kinder entführt und diese dann als Soldaten an die Ukraine-Front schickt, erschliesst sich keiner Logik.  

Verbrechen an Kindern gehören seit jeher zu den effizientesten Propagandalügen in allen Kriegen. Die «Kinder-Gulags», die von westlichen Medien derzeit kritiklos und distanzlos kolportiert werden, gehören mit hoher Wahrscheinlichkeit zu der Sorte «Brutkasten-Babies-Story», die im ersten Golfkrieg von einer westlichen PR-Agentur unters Volk gebracht wurde. 

Auch der Rapport des UN-Sicherheitsrates über die Sitzung vom 24. August lässt überwiegend Vertreter und Sympathisanten des Nato-Bündnisses zu Wort kommen, die schwerste Anschuldigungen gegen Russland vorbringen. Der russischen Stimme in der Kontroverse wird in dem Bericht sehr wenig Platz eingeräumt. Was nicht weiter erstaunt. Rosemary DiCarlo, welche den Text, die sogenannte «Meeting Coverage», verantwortet, war Uno-Botschafterin der USA und kann auf eine diplomatische Karriere als US-Diplomatin zurückblicken. Honi soit qui mal y pense.