25. Mai 1965: Muhammad Ali besiegt Sonny Liston. Schon der erste Boxkampf der beiden Schwergewichtsboxer ein Jahr zuvor – Muhammad Ali hieß damals noch Cassius Clay – lockte gemäß Schätzungen international 180 Millionen Leute vor die Fernseher. (Foto Neil Leifers)

Keine Friedensverhandlungen in Sicht: Ist auch die menschliche Psyche ein Hindernis?

Die Menschen, zumindest die westlichen, mögen klare Resultate: Sieger und Besiegte. Das zeigt sich zum Beispiel im Sport. Sportarten, bei denen es nur um die Rangfolge der Teilnehmenden geht, sind deutlich weniger populär. – Ein paar Beobachtungen und Gedanken zum fast völligen westlichen Ausbleiben eines Rufes nach Friedensverhandlungen im Ukraine-Krieg.

Ältere Semester erinnern sich: Wenn Cassius Clay alias Muhammad Ali, der Box-Weltmeister der 1970er Jahre, in den 1960er Jahren den damaligen Box-Weltmeister Sonny Liston herausforderte, konnte man dieses «Spiel» in vielen Ländern live miterleben. Die weltweiten TV-Zuschauerzahlen erreichten neue Rekordwerte. Und warum war das so sehenswert? Es gab einen klaren Sieger, dem man zujubeln konnre, und einen klaren Verlierer. Der Verlierer lag vielleicht sogar am Boden, so wie 1965, und musste ausgezählt werden. Super!

Aber auch andere Sportarten, bei denen es klare Sieger und klare Verlierer gibt, locken Zehntausende von Menschen nicht nur vor die Bildschirme, auch in die Arenen. Fussball! Vor allem in Europa und in den Latino-Ländern der Publikumsrenner! Oder auch Tennis! Es geht nicht nur bei den aktiven Spielern um zig Millionen von Dollars, auch bei den Übertragungsrechten der TV-Stationen geht es um Millionen – weil die Zuschauerzahlen besonders hoch sind! Einer gewinnt, der andere verliert. Genau das macht das Spiel so spannend! 

Oder auch, zum Beispiel in der Schweiz, aber auch in Mittel-, Ost- und Nordeuropa oder auch in Kanada: Eishockey! Da erinnern viele Spielszenen geradezu an militärische Nahkämpfe. Und einzelne Spiele sind denn auch in die politische Geschichte eingegangen. Als 1968 anlässlich der Olympischen Winterspiele in Grenoble die Mannschaft der Tschechoslowakei die Mannschaft der Sowjetunion besiegte, war das eine Weltsensation. Die Tschechoslowakei konnte gegen die Sowjetunion siegen, wo sie politisch und wirtschaftlich doch total unter der Herrschaft der Sowjetunion zu leiden hatte!

Aber wie ist es bei Sportarten, bei denen es zwar einen ersten Platz gibt, aber keine Verlierer? Leichtathletik? Rhythmische Sportgymnastik? Synchronschwimmen? Selbst beim Schießen, das der benutzten Gewehre und Pistolen wegen ja an den Krieg erinnern könnte. Wo sind die Zehntausende von Zuschauern? Wie langweilig doch, wenn bei den Olympischen Spielen 2020 in Tokio in der Disziplin «Herren 50m Gewehr Dreistellungskampf» der Sieger aus China 466.0 Punkte machte, der zweite aus der Russischen Föderation aber nur 464,2 Punkte. Wo ist da der Verlierer? 

Es darf auch brutal sein…

Und das nur beim Sport? Warum waren die Stierkämpfe in Spanien so populär? Da, wo in 99 von 100 Fällen der Torero der strahlende Sieger ist und der Stier nach dem theatralisch provozierten Kampf brutal erstochen und getötet wird? Die wenigen Ausnahmen, wo der Torero zu Tode kam, ließen das Spektakel immer noch als Kampf mit Sieger und Verlierer erscheinen. So wie bei den Spielen im Römischen Reich vor 2000 Jahren. Panem et circenses! Brot und Spiele! Der Mensch will Sieger sehen, Sieger und auch Verlierer!

Nicht anders ist es in der Wirtschaft. Im gegenwärtig weltweit neoliberalen Wirtschaftssystem gibt es die Sieger: George Soros, Bill Gates, Jeff Bezos, Warren Buffet, Elon Musk, und wie sie alle heissen! Die Dollar-Multimilliardäre! Und es gibt die Verlierer, die Menschen, die mit ihrer Arbeit kaum das Geld verdienen, um ihrer Familie ein Dach über dem Kopf und das tägliche Brot zu sichern. Und wie langweilig doch der Kommunismus, wo alle gleichviel haben sollen und wo es zwar Verlierer, aber keine Sieger gibt!

Auch in der Politik

Auch in der sogenannt demokratischen Politik der westlichen Länder funktioniert das Sieger- und Verlierer-System: Bei den Wahlen muss eine Partei – oder eine Koalition – der Sieger sein, die anderen sind die Verlierer. So, dass der Sieger im Parlament gar nicht mehr diskutieren muss, er hat ja die Mehrheit auf sicher. Wie langweilig dagegen doch das Schweizer System, wo die vier größten Parteien in der siebenköpfigen Regierung vertreten sind und vor jedem Entscheid erst noch diskutiert werden muss – mit einem Resultat meistens in Form eines Kompromisses. Und welches Land kopiert die Schweiz? Keines! Sieger müssen her! Sieger und Besiegte!

Wundert es da, wenn die westliche Welt auch im Krieg in der Ukraine keinen Frieden sehen will, sondern eine Siegerin und einen Verlierer? Wenn die westlichen Politiker das sogar in der UNO-Charta schon im Artikel 1 Punkt 2 festgehaltene Selbstbestimmungsrecht der Völker mit Füssen treten und die Krim, die sich 2014 in einem Referendum für die Trennung von der Ukraine entschieden hat und sich mit Russland wiedervereinigen wollte – und dies aufgrund der Zustimmung aus Moskau auch so über die Bühne gegangen ist – wenn die westlichen Politiker diese Krim nun «befreien» wollen, die Ukraine damit zur Siegerin und Russland zum Verlierer machen wollen? Wundert es da, wenn im gesamten deutschsprachigen Raum, aber auch in vielen anderen Ländern, insbesondere auch in Großbritannien und in den USA, die großen Medien, Print, Radio und Fernsehen, keine Friedensverhandlungen wollen, sondern alles daransetzen, eine Siegerin – die Ukraine – und einen Besiegten, einen Verlierer – Russland – zu sehen?

Die Frage liegt auf dem Tisch

Der Schreibende hat damals in den 1960er und frühen 1970er Jahren, als er an der Universität Zürich Geschichte und Staatsrecht studierte und die Universität noch, wie es der Name sagt, «universal» war, fakultäts- und fächerübergreifend, und nicht wie seit der Bologna-Reform nur noch eine zeitsparende Schmalspur-Ausbildungsstätte, auch einige Vorlesungen in Pädagogik, Psychologie und Soziologie besucht. Sein Spezialgebiet ist das aber nicht. Vielleicht sollten einige professionelle Psychologen, Psychiater und Soziologen diese menschliche Vorliebe für das Resultat «Sieger und Verlierer» und die Verachtung von Frieden aufgrund von Kompromissen etwas genauer unter die Lupe nehmen.

Müssen in der Ukraine wirklich noch Zehntausende, vielleicht gar Hunderttausende von Menschen elendiglich zu Tode kommen, nur weil die Welt Sieger und Verlierer sehen will? Das Zeitalter der Höhlenbewohner, die im Kampf um die tägliche Nahrung die Wölfe und Bären, ihre Konkurrenten, tatsächlich besiegen mussten, sind ja doch schon eine ganze Weile vorbei. 


Siehe dazu auch diesen Beitrag auf Globalbridge.ch.