SOCAR heisst «State Oil Company of Azerbaijan Republic», «Staatliche Ölgesellschaft der Republik Aserbaidschan». Jeder, der bei SOCAR Benzin oder Diesel tankt, hilft einen Staat finanzieren, der eine menschenverachtende und gewalttätige Politik betreibt. (Photo SOCAR)

Karabach: Einmal mehr siegt die nackte Gewalt!

(Red.) Nach der gewollten Entvölkerung Berg-Karabachs durch Aserbaidschan bahnt sich im Südkaukasus ein neues Desaster an. Und die Welt schaut einfach zu. Wo bleiben die sogenannten «europäischen Werte»? (cm)

Der Exodus der armenischen Bevölkerung aus Berg-Karabach hat sich in der letzten Septemberwoche vollzogen: Satellitenbilder des US-Unternehmens Maxar dokumentierten, wie sich auf der Hauptverkehrsachse des sogenannten Latschin-Korridors Tag für Tag von neuem eine schier unendlich lange, farbige Autoschlange durch die weiche, grüne Hügellandschaft des Südkaukasus schlängelte und ausschliesslich in eine einzige Richtung bewegte: weg aus einem Gebiet, das die Fliehenden bis vor kurzem noch ihre Heimat nannten. 

Erschöpfte Kinder, verängstigte Frauen und abgemagerte Männer flohen in Privatwagen, in Bussen und auf vollgestopften Lastwagen, oft nur mit dem, was sie am Leib trugen. Innerhalb der ersten fünf Tage waren von den schätzungsweise 120.000 Einwohnern über 90.000 geflohen. Soll die Hauptverkehrsachse des Latschin-Korridors für Fliehende weiterhin offen bleiben, wird Berg-Karabach abgesehen von wenigen Alten und Gebrechlichen ohne Armenier bleiben – zum ersten Mal seit Jahrtausenden. Bis Ende September machten die Armenier 95 Prozent der Bevölkerung aus. 

Auflösung aller Institutionen

Die Menschen flohen, weil die Heimat, in der sie sich seit dreissig Jahren sicher zu sein glaubten, nicht mehr existiert. Der wohl letzte Präsident ihrer international nie anerkannten «Republik Arzach», Samwel Shahramanyan, besiegelte am 27. September mit einem Dekret die Auflösung aller politischen Strukturen Berg-Karabachs. Die lokale Präsidentschaft, das Parlament und die gewählten Bürgermeister sowie sämtliche Institutionen der letzten 30 Jahre soll es ab dem 1. Januar 2024 nicht mehr geben. 

Die formelle Auflösung der Republik, die vollständige Entwaffnung ihrer eigenen «Verteidigungskräfte», sowie die Aufnahme von Gesprächen mit Baku über die vollständige «Wiedereingliederung» in Aserbaidschan als Minderheit, waren Bedingungen, welche Aserbaidschan nach seinem letzten Blitzkrieg den Behörden in Stepanakert vorgelegt hatte. 

Der letzte Krieg um Berg-Karabach begann am 19. September, als Aserbaidschan Berg-Karabachs Städte und Dörfer massiv mit Artillerie und Drohnen angriff. Es war die zweite Großoffensive Aserbaidschans gegen Berg-Karabach innerhalb der letzten drei Jahre. Die Strategie der Eskalation habe sich für Aserbaidschans Autokraten Ilham Alijew nach 2020 immer ausbezahlt, urteilt Laurence Broers, einer der renommiertesten Südkaukasus-Experten. Alijew habe wiederholt und erfolgreich auf Gewalt gegen seinen schwachen Gegner gesetzt, ohne je auf nennenswerten Widerstand der Weltgemeinschaft zu stossen, sagte er in einem Interview gegenüber dem deutschen Magazin «Spiegel». Und er werde es wieder tun.

Teurer Preis des Triumphs  

Tatsache ist, dass Berg-Karabach der Offensive am 19. September militärisch wenig entgegenzusetzen hatte. Seine «Verteidigungskräfte», ein paar Tausend Mann stark, waren ganz allein auf sich gestellt. Und die Bevölkerung stand durch Aserbaidschans monatelange Wirtschaftsblockade am Rand einer Hungerkatastrophe. 

Moskau vermittelte zwischen den Parteien und erreichte 24 Stunden später ein Waffenstillstandsabkommen, das sämtliche Forderungen Bakus unhinterfragt übernahm. Die Führung Berg-Karabachs tauschte ihre Kapitulation gegen das Recht für die Bevölkerung aus, den Latschin-Korridor «frei und ungehindert» für die Flucht benützen zu können. Alijew triumphierte.

Der «Triumph», den Putin Alijew mit diesem Abkommen auf dem Tablar anbot, hatte freilich einen Preis. Berichten aus Baku zufolge soll der Verbleib der russischen Friedenstruppen auf dem Territorium Aserbaidschans für «eine noch auszuhandelnde Zeit» verlängert werden. Russland konnte nach dem Krieg 2020 als einzige Großmacht rund 2000 Friedensoldaten im Gebiet stationieren. Ihre Mission, offiziell dem «Schutz der Armenier Berg-Karabachs» verschrieben, endet im Jahr 2025. Der Verbleib von «russischen Stiefeln» auf dem Territorium Aserbaidschans über dieses Datum hinaus garantiert, dass  Moskau die Politik von Baku weiterhin mitbestimmen kann. 

In einer Ära, in der globale und regionale Mächte wieder dabei sind, neue Trassen für den Transport von Energieressourcen zu ziehen, misst der Kreml der Nützung von Aserbaidschans Pipelines, um Russlands Energiereichtum trotz Sanktionen auf den Weltmarkt zu bringen, besondere Bedeutung bei. Im zynischen Pokerspiel um «strategische Interessen» werden Volksgruppen wie den Karabach-Armeniern höchstens die Rolle des Bauern auf dem Schachbrett eingeräumt.

Am 24. September öffnete Alijew den Latschin-Korridor für die «freie, freiwillige und ungehinderte Bewegung» der Bewohner Berg-Karabachs. 

„Wie sie meine Erinnerungen entweihen. Wie sie meine Werte verhöhnen. Wie sie sich in meinen Himmel einmischen“, sagte Meri Asatryan, eine Assistentin des Ombudsmanns für Menschenrechte in Karabach, in einem Video auf Instagram. Dann trat auch sie die Flucht an. 

Armeniens unerträgliche Einsamkeit 

«Alle wussten, dass die ethnische Säuberung Berg-Karabachs bevorsteht. Niemand hat etwas getan, um sie zu verhindern», beklagt der politische Analytiker Benyamin Poghosyan in Jerewan. Auf der Landkarte des Südkaukasus erscheint Berg-Karabach, wenn überhaupt, als ein klitzekleiner Flecken. Dennoch markierte dieses kleine, geographisch isolierte Territorium Entwicklungen von globaler Bedeutung: Wladimir Lenin beschloss 1919 den Kampf des türkischen Rebellen Kemal Atatürk gegen die «imperialistischen Mächte» mit Waffen und Geld zu unterstützen, und er hoffte, Anatolien als Sprungbrett für eine Infiltration der Oktober-Revolution in die Welt der Muslime benützen zu können. Zwei Jahre später überliess er auf dem Verhandlungstisch seinem Freund Kemal unter anderem Berg-Karabach, dessen Bevölkerung auch damals zu 95 Prozent armenischen Ursprungs war. Umgekehrt kennzeichnete der Konflikt, der 1988 in voller Wucht ausbrach, weil die Armenier Berg-Karabachs für den Anschluss ihres Gebiets an Armenien stimmten, dass die Sowjetunion ihre Ränder nicht mehr unter Kontrolle hatte.  

Nach Beginn des Ukraine-Kriegs traten die EU und die USA als geopolitische Akteure und als «Alternative» zu Russland im Südkaukasus auf. Unter der Ägide der EU-Präsidentschaft unterzeichneten Aserbaidschans Ilham Alijew und Armeniens Nikol Paschinjan in Prag am 6. Oktober 2022 eine Erklärung, in der sie gegenseitig die territoriale Integrität und Souveränität ihrer Länder anerkannten. Statt einer Selbstbestimmung für Berg-Karabach sah der EU-Plan einen internationalen Mechanismus vor, der dafür sorgen sollte, dass die 120‘000 Armenier Berg-Karabachs in ihrer Heimat in „Würde und Sicherheit“ leben könnten. Der Plan wurde vom US-Aussenminister persönlich unterstützt.

Dieser Friedensplan des Westens war möglicherweise nicht zynisch, aber einmal mehr ungeheuerlich schlecht vorbereitet. Er entbehrte jene Mechanismen, die es ermöglicht hätten, die Konflikt-Parteien zu einer Umsetzung zu zwingen. Vom Plan des Westens pickte Alijew nur jenen Paragraphen heraus, der die territoriale Souveränität und Integrität Aserbeidschans vorsah, und setzte einmal mehr auf das Recht des Stärkeren. Die Entvölkerung Berg-Karabachs ist mitunter eine Folge der Unfähigkeit des Westens, seine Pläne umzusetzen. „Ein äusserst schlechter Präzedenzfall für die Glaubwürdigkeit des Westens“, kritisierte Stefan Meister, der die Bundesregierung aussenpolitisch berät.

Eine türkische Welt von der Adria bis zu China

Für Alijew zähle nur die Meinung der Türkei und Russlands, schreibt Thomas de Waal, auch er ein sehr guter Kenner des Südkaukasus, in der Zeitschrift „Foreign Affairs“. Alijew habe verstanden, dass die Türkei erstens seine Ambitionen unterstützen und Russland ihn dabei nicht hindern würde und dass der Westen nicht fähig sei, seine Worte in Taten umzusetzen. In der Tat halten Ilham Alijew, wie auch Putin und Erdogan, den Westen für dekadent und käuflich. Wie Moskau und Ankara macht auch Baku keinen Hehl daraus, die USA und die EU aus dem Südkaukasus verdrängen zu wollen. 

Als hätte eine riesige Uhr die Zeit zurückgedreht, buhlen Russland, die Türkei und der Iran wie in vergangenen Jahrhunderten erneut um Macht und Einflusssphären in der Region. Die Türkei ist spätestens seit 2020, als sie im zweiten Krieg um Berg-Karabach beträchtlich zum Sieg Aserbaidschans beigetragen hatte, als mächtiger Akteur zurückgekehrt. Die türkische Aussenpolitik betrachtet den Südkaukasus und Zentralasien dabei als einen eng miteinander verbundenen Raum, der die Basis bilden sollte für eine türksprachige Welt, die sich von der „Adria bis zur chinesischen Mauer“ erstreckt. Von dieser Welt verspricht sich der immer wieder von Großmacht-Visionen getriebene türkische Präsident die Türkei im 21. Jahrhundert zu einer globalen Macht verwandeln zu können. Voraussetzung für die Verwirklichung seines Traums ist allerdings ein territorialer Zugang, der die Türkei direkt mit Aserbaidschan und Zentralasien verbindet. Und dieser verläuft durch die südarmenische Provinz Sangesur. 

Einen Tag nach der Kapitulation Berg-Karabachs gratulierte Erdogan seinem Amtskollegen Alijew in der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan für dessen historischen Sieg. Dass die Blitzoperation „siegreich und mit grösster Sensibilität für die Rechte der Zivilbevölkerung abgeschlossen wurde“, erfülle ihn mit Stolz, sagte er. Dann forderte er den armenischen Ministerpräsident Nikol Paschinjan auf, die „Friedenshand Aserbaidschans“ zu akzeptieren und „aufrichtige Schritte“ im Bezug auf den Sangesur-Korridor zu unternehmen. 

Die Türkei und Aserbaidschan fordern Armenien ultimativ dazu auf, dieses Stück armenischen Territoriums „freiwillig“  freizugeben oder, wie in Berg-Karabach, eine neue Niederlage zu riskieren. 

Droht ein neuer Flächenband?

Noch stossen die Pläne zur Errichtung eines Sangesur-Korridors in Iran auf heftigen Widerstand. Teheran betrachtet jede Änderung der Grenzen im Südkaukasus als eine „rote Linie“. Es befürchtet, dass die von Ankara angestrebte „türkische Welt von der Adria bis zur chinesischen Mauer“ den iranischen Einfluss in Zentralasien sowie ihre Landverbindungen durch den Kaukausus gefährden könnte. Die uralte Rivalität zwischen dem Iran und der Türkei könnte einmal mehr einen Flächenband auslösen, der nicht nur den Südkaukasus, Iran und die Türkei betreffen würde, sondern auch Israel, das sich Aserbaidschans strategischer Alliierte nennt, und womöglich sogar Indien, das mit dem Iran paktiert.

„Haben die Armenier eine Chance, zu überleben“? fragte der armenische Dichter Hrant Matewosjan den polnischen Journalisten Ryszard Kapuscinski, als dieser 1991 die kleine kaukasische Republik besuchte. Gerade war der erste Krieg um Berg-Karabach ausgebrochen. „Erwartet sie nicht das Schicksal der Juden: zu existieren, jedoch nur in der Diaspora, nur als Vertriebene, dazu verurteilt, in Ghettos zu leben, über alle Kontinente verstreut?”  

Dass die Armenier heute, gut hundert Jahre, nachdem sie Opfer eines Genozids vom Ausmass des Holocaust wurden, erneut um ihre Existenz bangen müssen, ist ein Armutszeichen der Weltgemeinschaft. Um nicht noch einmal zum Kollateralschaden der Geschichte zu werden, fordern sie die UNO auf, Friedenstruppen entlang der armenisch-aserbaidschanischen Grenze zu stationieren. Wird die „Weltgemeinschaft“ darauf antworten?

Momentan überwiegen die Aufrufe an „alle Konfliktparteien“, sich zu einigen. Mehr als zwei Jahre lang hat dieselbe „Weltgemeinschaft“ tatenlos zugeschaut, wie sich auf dem Südkaukasus eine ethnische Säuberung gigantischen Ausmasses abzeichnete. Die Gefahr ist gross, dass sich die nun mit Gewalt erreichte „friedliche Lösung“ der Weltgemeinschaft als neues Desaster auf die Füsse fallen wird.

Anmerkung zum Aufmacherbild mit SOCAR:

SOCAR ist ein aserbaidschanischer staatlicher Konzern, der Öl und Erdgas vertreibt. Allein in der Schweiz gibt es um 200 SOCAR-Tankstellen, und auch die Migros kauft von SOCAR Treibstoff für viele ihrer Tankstellen. Die Öl- und Erdgas-Bodenschätze Aserbaidschans haben wesentlich dazu beigetragen, dass in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku heute gigantische Wolkenkratzer stehen und Aserbaidschan sich militärisch massiv aufrüsten und wirtschaftlich stärken konnte – ganz im Gegensatz zu Armenien, das schon durch seine Lage als Binnenland und ohne solche Bodenschätze wirtschaftlich und militärisch nicht mithalten konnte. So konnte es kommen, dass Aserbaidschan – notabene mit massiver Unterstützung des größenwahnsinnigen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan – heute eine Politik betreiben kann, die absolut unmenschlich und nur noch gewalttätig ist. Die Autofahrer und -fahrerinnen in der Schweiz und auch die in Österreich, wo SOCAR auch mehr und mehr aktiv ist, müssen sich deshalb bewusst sein, dass sie mit jedem Liter Benzin und mit jedem Liter Diesel, die sie bei SOCAR tanken, diesen Staat konkret unterstützen. Wer seine eigene, wenn auch kleine Markt-„Macht“ im Sinne des Friedens einsetzen will, tankt bei anderen Tankstellen. (cm)