Blick auf den Latschin-Korridor zwischen Armenien und Berg-Karabach. (Bild Wikimedia Commons)

Karabach-Armenier in humanitärer Not – ein Notruf!

Den Menschen in Berg-Karabach fehlen Medikamente, Nahrungsmittel, Treibstoff – sie sehen sich am Rande der humanitären Katastrophe. Selbst das Internationale Rote Kreuz ruft auf zu Vermittlung und Hilfe!

Der de-facto-Präsident des von Armeniern besiedelten Berg-Karabachs, Arayik Harutyunyan, hat am 24. Juli den Katastrophenzustand für das von ihm verwaltete Gebiet ausgerufen. Seit 225 Tagen halte Aserbaidschan die einzige Verbindung Berg-Karabachs mit Armenien und der Aussenwelt «illegal blockiert» und verhindere somit den freien Verkehr von Menschen, Medikamenten und Nahrungsmitteln über den Latschin-Korridor, sagte er in einem übers Internet ausgestrahlten Interview. 

Während dieser siebenmonatigen Blockade sind laut Harutyunyan die (von Aserbaidschan kontrollierten) Dienstleistungen wie Gas, Wasser oder Strom regelmässig ausgefallen, was täglich zu stundenlangen Stromausfällen und damit zur Lahmlegung der begrenzten, lokalen Produktion Berg-Karabachs zur Folge hatte. Die humanitäre Katastrophe habe sich auf alle Lebensbereiche ausgewirkt, von der Lebensmittelversorgung über die Gesundheitsfürsorge bis hin zu Landwirtschaft und Bildung, führte er aus. Allerdings: «In den vergangenen 40 Tagen wurde kein einziges Kilogramm Lebensmittel eingeführt» – die Menschen Berg-Karabachs seien mit einer «totalen Belagerung» konfrontiert. Arayik Harutyunyan appellierte an die Weltgemeinschaft, insbesonderes an die UNO und an das Internationale Rote Kreuz, die herannahende Katastrophe abzuwenden. «Menschenleben sind nun in Gefahr».

Dringlicher Appell des Internationalen Roten Kreuz 

Das Internationale Rote Kreuz IKRK macht selten öffentliche Erklärungen über seine weltweiten Missionen. Kurz nach dem Appell Harutyunyans warnte es aber in einer Mitteilung, die an die zuständigen Entscheidungsträger und diesmal auch an die Medien ging, dass es «trotz anhaltender Bemühungen derzeit nicht in der Lage ist, der Zivilbevölkerung humanitäre Hilfe über den sogenannten Latschin-Korridor oder über andere Routen zukommen zu lassen». Den Menschen fehle es an lebensrettenden Medikamenten, Hygieneartikel und Babynahrung, heisst es in der IKRK-Erklärung. Obst, Gemüse und Brot würden knapper und teurer. Andere Lebensmittel wie Milchprodukte, Getreide, Fisch und Hühnerfleisch seien nicht mehr erhältlich. «Unsere humanitären Hilfskonvois sind eine Lebensader für die Bevölkerung in diesem Gebiet. Da diese Konvois blockiert sind, befürchten wir, dass sich die humanitäre Lage weiter zuspitzen wird».  

Appelle bleiben unerhört

Seitdem Aserbaidschan vor sieben Monaten begonnen hat, den Latschin-Korridor, der Armenien mit dem armenisch-besiedelten, geographisch isolierten Berg-Karabach verbindet, zu blockieren, hat der Internationale Gerichtshof sowie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte rechtlich verbindliche Urteile gegen die Blockade der aserbaidschanischen Regierung erlassen. Dazu haben das Europäische Parlament, die Parlamentarische Versammlung des Europarats, Russland und die Regierungen der USA sowie unterschiedlicher europäischer Staaten an Baku appelliert, den ungehinderten Verkehr von Menschen und Gütern durch den Latschin-Korridor in beiden Richtungen zu gewährleisten. Alles bislang umsonst.

Seit seinem Sieg im Krieg um Berg-Karabach 2020 betrachtet die Regierung in Baku das abtrünnige Berg-Karabach uneingeschränkt als Teil seines Territoriums. Berg-Karabach wurde tatsächlich 1920 von Stalin Aserbaidschan zugeteilt, obwohl die überwältigende Mehrheit seiner Bevölkerung auch damals Armenier waren. Weil sie die überwältigende Bevölkerungsmehrheit bildeten, gewährte Moskau ihnen allerdings den Status einer autonomen Region. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion berief sich Berg-Karabach auf das Recht der Völker auf Selbstverwaltung und rief seine «Republik Artsakh» aus. Diese wurde bislang von keinem einzigen Staat anerkannt. 

Nach dem Krieg 2020 lehnt Aserbaidschan jede Forderung nach jeglicher Form von Autonomie für die 120.000 Menschen, die heute noch in dieser abgelegenen Region leben, strickt ab und erhöht den Druck auf die Zivilbevölkerung, indem es keine Nahrungsmittel, keine Medikamente, keinen Treibstoff ins kleine Gebiet hineinlässt. 

Kann aber die Weltgemeinschaft heute, in unserem Zeitalter, in dem die Nachrichten dank des Internets im Sekundentempo jede Ecke der Welt erreichen, 120.000 Menschen im Stillen terrorisieren und zu Grunde gehen lassen, nur weil sie sich weigern, sich dem Diktat einer politischen Führung von oben zu beugen? 

„Die Aushungerung der armenischen Bevölkerung wird ein neues Erbe von unversöhnlichem Misstrauen hinterlassen, das alle Hoffnungen auf eine Wiederherstellung der Gemeinschaftsbeziehungen zunichte macht“, schrieb alarmiert auch Laurence Broers, ein führender Wissenschaftler und Experte zum Konflikt zwischen Aserbaidschan und Armenien in einem Tweet. 

Die angestrebte «ethnische Säuberung Karabachs würde ein neues Kapitel in der Logik der erzwungenen, exklusiven Nationenbildung im Südkaukasus aufschlagen, eine ganze Reihe neuer Streitfragen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern aufwerfen und abschreckende Folgen für die anderen Minderheiten in der Region haben».

Unterdessen schickte die armenische Regierung am 26. Juli zum ersten Mal seit Beginn der Blockade einen Konvoi mit humanitärer Hilfe nach Karabach. Der aserbaidschanische Grenzdienst bezeichnete die Aktion als „provokativen Akt“ und erklärte, die armenische Seite trage die volle Verantwortung für die möglichen Folgen. 

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung näherte sich der Konvoi der von Aserbaidschan aufgestellten Grenzposten.

«Ein Tag im Leben während der Blockade» – Auszug aus einem Brief der Lehrerin Nune Arakelyan, geschrieben am 25.7.23 (Auszug)

«Wie sieht ein typischer Tag während der Blockade aus? An einem Tag zu Beginn der Blockade stürmten wir mit anderen Stadtbewohnern verzweifelt die Supermärkte und deckten uns zunächst mit den vorhandenen Lebensmitteln ein. Dann, Mitte der Blockade, begann das Rote Kreuz mit der Lieferung von Lebensmitteln und Medikamenten durch den blockierten Latschin-Korridor, und die Behörden führten ein Rationierungssystem ein. Das Leben begann, relativ erträgliche Konturen anzunehmen. Aber die heutigen Tage sind anders als alle übrigen. Die Blockade hat jetzt für die 120.000 Menschen, die immer noch hier wohnen, einen totalen, einen erschöpfenden Charakter angenommen. Für diejenigen, die chronisch Kranke oder kleine Kinder in ihren Familien haben, sind die alltäglichen Herausforderungen enorm.

Die Sorgen der Menschen unterscheiden sich auch je nach Jahreszeit. An einem winterlich kalten Tag verbindet sich die unerbittliche Suche nach den lebensnotwenigen Gütern mit dem quälenden Bemühen, die Wohnungen zu heizen, da es kein Gas gibt und der Strom regelmässig ausfällt. Der drohende Hunger weicht meist der Gefahr, ohne Wärme und Licht dazustehen, aus. Sind die Tage sommerlich warm und sonnig, sehnt sich die Seele nach Obst und Gemüse. Dann müssen wir mit Bitterheit realisieren, dass die Lieferung von Obst und Gemüse in die Stadt aufgrund des Brennstoffmangels unmöglich war. 

Mein Tag beginn mit Dankbarkeit gegenüber dem Herrn dafür, dass ich nicht in einem Keller aufgewacht bin, in dem wir uns vor Bombenangriffen verstecken mussten, und auch nicht im Ausland, sondern in meinem eigenen Bett. Und ich bin auch dankbar, dass meine Lieben leben. 

Wenn es Strom gibt, koche ich mir einen schwarzen Kaffee (ohne Zucker, denn Zucker gibt es schon lange nicht mehr). Aber Strom ist in letzter Zeit wahrlich zum Luxus geworden. Der Unterricht ohne Elektrizität bedeutet für uns Lehrer einen Rückfall zu den klassischen Lehrmethoden unserer Vorfahren, als das Wort des Lehrers an erster Stelle stand. Und es ist entscheidend, dass dieses Wort das richtige ist. Denn die Schüler sollten in der Rede ihres Lehrers oder des Dozenten Worte der Hoffnung hören, nicht Worte der Verzweiflung. 

Von der Arbeit gehe ich zu Fuss nach Hause. Auf Minibusse zu warten, hat ohnehin keinen Sinn. Wegen des Treibstoffmangels ist der öffentliche Verkehr eingestellt, und auch Taxis sind rar. Auf dem Heimweg versuche ich einzukaufen, was es noch in den Geschäften zu kaufen gibt. Die Läden werden aus Gewohnheit geöffnet, nur damit die Bevölkerung Brot kaufen kann. Früher gab es Molkereiprodukte, aber seit über einer Woche sind sie nicht mehr da. Die Verpackungen sind ausgegangen, und es gibt keinen Treibstoff, um die Waren an verschiedene Orte zu liefern.

Wenn ich nach Hause zurückkehre, versuche ich keine bekannten Gesichter zu treffen. Auf jedes Gespräch über alltägliche Dinge folgt nämlich unweigerlich die Frage: «Was glaubst Du, was als nächstes mit uns passiert?». Wie kann ich aber die Antwort auf eine solche Frage wissen. Im Grossen und Ganzen gefällt mir aber, dass unsere Menschen dem Druck noch durchhalten und Witze über unsere seltsame Situation zu machen versuchen.»

(Red.) Der Brief wurde von der unabhängigen armenischen Nachrichtenagentur Civilnet veröffentlicht.