Moskau, die Hauptstadt Russlands, ist eine ganz normale Großstadt mit zwischen 12 und 15 Millionen Einwohnern. Bedeutende historische Bauten, massive Verkehrsprobleme, Baustellen allüberall. Warum soll man mit den Menschen, die hier leben – in welcher Position auch immer – nicht reden können? (Foto Christian Müller)

Kann man mit Russland reden?

(Red.) Spätestens seit heute Nacht 02 Uhr MEZ wissen ein paar Millionen Fernsehzuschauer auf dieser Welt einige Details mehr über die Geschichte Russlands. Dem US-amerikanischen Journalisten Tucker Carlson ist es gelungen, mit Russlands Präsident Wladimir Putin ein zweistündiges Interview zu führen, das heute Nacht in englischer Sprache gesehen und gehört werden konnte. Kenner der Geschichte Russlands und der NATO haben dabei wenig Neues erfahren, aber für Millionen von US-Amerikanern dürfte das Gespräch tatsächlich Neues enthalten haben. Die – geopolitische – Geschichte der letzten hundert Jahre gehört ja nicht unbedingt zur Allgemeinbildung der US-Amerikaner. Und zumindest Eines zeigte das Interview klar: Auch mit Putin – wie mit den meisten Russen – kann man durchaus reden. (Zum Interview mit deutschen Untertiteln und zum ins Deutsche übersetzte ausgeschriebene Interview siehe am Ende des Artikels.) (cm)

„Frankreich hat Großbritannien verärgert“, titelten neulich mehrere internationale Veröffentlichungen. Der Grund? Der französische Präsident Macron soll darauf bestanden haben, eine Form des Dialogs mit Russland zu führen. Die ehemalige britische Premierministerin Liz Truss sagte dazu: „Emmanuel Macron sendete in den Monaten nach der Invasion in der Ukraine gemischte Botschaften über die Entschlossenheit des Westens an Wladimir Putin“. Die damalige britische Regierung war Berichten zufolge frustriert über das Beharren des französischen Präsidenten, die Verhandlungen mit Russland offen zu halten. Bei der Aussendung von Signalen war die ehemalige britische Premierministerin sicherlich weniger subtil als Macron gewesen. So posierte siezum Beispiel in ihrer früheren Funktion als britische Außenministerin während einer NATO-Übung in Estland in einem Panzer und forderte Europa auf, die Eröffnung der Nord Stream 2-Pipeline zu blockieren – und das war im Dezember 2021, also noch vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine.

Ein anderer ehemaliger britischer Premierminister, Boris Johnson, verriet, wie er im Frühjahr 2022 befürchtete, dass Kiew unter Druck gesetzt werden würde, ein schlechtes Friedensabkommen zu akzeptieren: „Ich dachte, dass ein solcher Kompromiss nicht fair wäre. Man kann nicht mit einem Krokodil verhandeln, das einem das halbe Bein zerbissen hat und nun vorschlägt, das andere Bein zu zerbeißen.“

Seit der russischen Invasion in die Ukraine wurde in der Tat jeder Versuch eines Dialogs mit Russland abgelehnt und stigmatisiert. Mit Krokodilen kann man ja nicht reden. Nicht nur Macron, sondern auch der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz wurde beschuldigt, vor Putin zu knien, um einen Krieg in der Ukraine zu vermeiden. Macron und Scholz wären das Symbol eines Europas, das, im Gegensatz zu den USA, dem Vereinigten Königreich oder etwa Polen, nicht kämpferisch genug gegen Russland eingestellt war. Sie würden die «soft»-Seite des Westens zeigen. Offenheit zum Dialog wäre ein Zeichen von Schwäche.

Das Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive sollte den Westen und insbesondere Europa dazu veranlassen, die bisherige Strategie für den Krieg in der Ukraine zu überdenken. Letztes Jahr um diese Zeit schien die Ukraine praktisch nur noch einen Schritt von der Rückeroberung der Krim entfernt zu sein: Die ukrainischen Streitkräfte hätten nur noch die Russen bis zum Asowschen Meer durchbrechen müssen, und der Weg zur Krim wäre frei und der Vormarsch der Ukraine unaufhaltsam gewesen. Die Waffen, die der Westen der Ukraine reichlich zur Verfügung gestellt hatte, würden sich als unüberwindbar erweisen. Der Krieg wäre bald Geschichte. Die Deutschen könnten wieder auf ihre Panzer stolz sein. So hieß es. Es lief aber anders. Ein toller Plan führt nicht immer zu einem tollen Ergebnis.

Leider gibt es heute im Westen, trotz der mageren Ergebnisse der ukrainischen reconquista – der sogenannten Gegenoffensive –, sehr wenige Anzeichen für eine Änderung der Pläne gegenüber der Ukraine. Russland muss weiterhin besiegt werden, Russland darf nicht gewinnen, und das kann natürlich nur auf dem Schlachtfeld geschehen. Währenddessen schwankt der Westen zwischen dem Gefühl der Unbesiegbarkeit der USA und der NATO und der sich allmählich manifestierenden panischen Angst, dass Russland auf lange Sicht den Krieg doch gewinnen könnte. 

Mit Russland kann nicht verhandelt werden, denn das russische Ziel sei die Zerstörung der gesamten Ukraine und des ukrainischen Volkes, was einem Völkermord gleichkäme. Darüber hinaus führe Russland in der Ukraine nicht nur einen Krieg gegen das ukrainische Volk, sondern auch gegen die westlichen Werte. Diese westlichen Werte, auf die wir so stolz sind und auf denen die Legitimität der Überlegenheit des Westens über den Rest der Welt beruht. Das ist es, was uns gesagt wird – natürlich nicht laut, denn laut können bestimmte Dinge nicht gesagt werden. Aber so ist es gemeint. 

Die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine, die wenige Tage nach Beginn der russischen Invasion vor zwei Jahren begannen, zeigen jedoch, dass die Ziele Russlands viel bescheidener waren: Es hätte genügt, den neutralen Status der Ukraine anzuerkennen, um den Konflikt sofort zu beenden. Die Ukraine hätte in ihren Grenzen von 2015 weiterbestehen können, ohne die Krim und einen Teil des Donbass. Auch die russische Politik in den besetzten Gebieten der Ukraine zeigt, dass es nicht darum geht, die ukrainische Nation auszulöschen: In den Schulen der so genannten neuen Gebiete, die mehrheitlich russischsprachig sind, wird die ukrainische Sprache weiterhin als Fremdsprache unterrichtet. 

Man muss nicht unbedingt Pazifist sein. Frieden muss tatsächlich nicht um jeden Preis erreicht werden. Mit Dschingis Khan kann man nur schwer verhandeln, das stimmt. Vor allem wenn die Mongolen mit der Absicht ankommen, das Dorf dem Erdboden gleichzumachen und alle zu töten, Männer, Frauen und Kinder, sogar Hunde und Vieh. Aber selbst mit den Mongolen war es damals möglich, irgendwann Diplomatie zu betreiben, wie die Geschichte zeigt. Und Putins heutiges Russland ist – trotz all des Unsinns, der in den letzten Jahren in der Ukraine und anderswo darüber erzählt wurde – kein Nachfahre des Mongolenreichs und hat die Kriegsführung nicht von den Mongolen geerbt. Wladimir Putin ist nicht Dschingis Khan mit einem Telefon, wie der russische Revolutionär Nikolai Bucharin Stalin einmal nannte.

Wenn der Frieden nicht um jeden Preis erreicht werden soll –doch genau mit diesem Slogan wurde Selenskyj 2019 gewählt, die Ukrainer hatten schon damals genug von der Kriegspartei – darf ein Sieg nicht auf Kosten des Überlebens des Landes gehen. Heute ist eine Generation von Männern in der Ukraine dezimiert, wie das Durchschnittsalter der ukrainischen Armee zeigt. Millionen von Flüchtlingen sind über Europa verstreut, und viele werden nie in die Ukraine zurückkehren. Ein Krieg kann nicht um jeden Preis gewonnen werden. Krieg ist kein Film. Und selbst in epischen Gedichten nehmen Helden oft ein tragisches Ende, sie kämpfen eben wie Helden, aber zum Schluss verliert ihr Volk trotzdem und sie sind nun Geschichte. 

Ein Krieg, der militärisch nicht gewonnen werden kann, muss anders gelöst werden. Zumindest sollte es so sein, wenn das Ziel darin besteht, den Krieg zu beenden und nicht, ihn so lange wie möglich aufrechtzuerhalten, um den Gegner (Russland) bluten zu lassen. 

Natürlich ist es für viele Menschen schwierig, sich zwischen Krieg und Diplomatie zu entscheiden: Krieg macht stolz, Krieg gibt einem das Gefühl von Heldentum, Ruhm und Einheit, besonders für all die heldenhaften, großsprecherischen Kämpfer, die den Krieg weit weg von der Front führen. Die Diplomatie hingegen wäre langweilig, feige, defätistisch und gleichbedeutend mit Verrat.

Heute sagt man immer wieder, dass wir keinen Dialog mit Russland führen können, weil Russland nicht an einem Dialog interessiert sei. Man sagt uns, dass man mit Russland nicht reden kann, weil Russland den Verstand verloren habe. Putin sei verrückt geworden, und deshalb könne man mit ihm nicht vernünftig reden, die einzig mögliche Lösung sei, ihn zu beseitigen, durch Regimewechsel und militärische Niederlage. Russland wolle auch Europa und den Westen zerstören, sagt man uns: Und die Aggressoren, die Barbaren, die Hunnen würden nur die Sprache der Gewalt verstehen. Es sei sinnlos, mit Attila oder Dschingis Khan zu reden. 

Aber Russland ist nicht von einer atavistischen Feindseligkeit gegenüber der westlichen Zivilisation getrieben. Auch wenn viele in Russland heute eine gewisse Antipathie gegenüber Amerika und Europa empfinden, sind dies sicherlich nicht die Gründe, die zum Krieg in der Ukraine geführt haben. Der derzeitige Krieg in der Ukraine ist kein überkommener Zivilisationskrieg, der jede Art von friedlicher Lösung unmöglich macht. Dieser Krieg entstand einzig und allein aus Sicherheitsbedenken und der möglichen Präsenz der NATO in der Ukraine. Bedenken, die von Russland seit Jahren geäußert worden waren, die der Westen aber hartnäckig ignoriert hat. 

Das Sicherheitsdilemma in den internationalen Beziehungen ist keine Erfindung der russischen Propaganda. Aber auf jeden Fall hätten die bösen Russen kein Recht auf ihre eigenen nationalen Sicherheitsinteressen, heißt es. Doch wie würde der Westen, der stets mit einer gewissen Paranoia den geringsten Einfluss und Einmischungen von außen interpretiert, auf ein feindliches Militärbündnis vor seiner Haustür reagieren?

Die Verteidiger der transatlantischen Weltordnung versichern uns, dass die Ukraine nicht im Begriff war, der NATO im Jahr 2022 beizutreten, dass dies alles Lügen Russlands seien. Doch die NATO hatte die Ukraine seit den 1990er Jahren umworben, und es war bereits eine roadmap für den NATO-Beitritt der Ukraine aufgestellt worden: Schon in einem 1997 in der Zeitschrift «Foreign Affairs» erschienenen Artikel sagte der ehemalige nationale Sicherheitsberater der USA, Zbigniew Brzezinski, einen NATO-Beitritt der Ukraine bereits für den Zeitraum 2005-2010 voraus. Die NATO-Erweiterung sei einfach unaufhaltsam. Die Versprechungen der NATO gegenüber der Ukraine wurden bei mehreren Gelegenheiten und werden auch heute noch selbst vom NATO-Generalsekretärwiederholt. Das Ziel der NATO-Mitgliedschaft wurde in der Verfassung der Ukraine rechtlich verankert. Zu der theoretischen und rechtlichen Dimension kommt die sehr konkrete Dimension der Bereitstellung von Rüstungsgütern und militärischen Übungen der NATO in der Ukraine vor dem Einmarsch im Februar 2022 hinzu. Handlungen, die Russland nur als Provokationen empfinden konnte und von denen der Westen wusste, dass Russland sie als Provokationen empfinden würde: Dennoch entschied man sich, sie fortzusetzen.

In den Monaten vor dem Krieg hatte Russland seine Bedingungen dargelegt, es ging vor allem um einen Stopp der NATO-Erweiterung. Diese Bedingungen bezeichnete der Westen trotzdem als inakzeptabel. Die Verhandlungen endeten mit den Worten des amerikanischen Außenministers Antony Blinken: „Es gibt keine Änderung, es wird keine Änderung geben“, womit er sich auf die „Politik der offenen Türen“ der NATO bezog. Doch es waren nicht die Verhandlungen, die zu dem Konflikt zwischen Russland und dem Westen in der Ukraine geführt haben. Au contraire, es waren der fehlende Dialog und die beharrliche Weigerung des Westens, einen Dialog auf Augenhöhe zu führen, die zum Krieg mit Russland führten. Der Westen war unnachgiebig und beharrte stolz auf seinen Positionen. Und die Folge war der Krieg.

Reden sollte immer besser sein als die Alternative. Die Alternative wäre, sich auf einen Krieg mit Russland vorzubereiten, nach einer langen Reihe von Missverständnissen und Fehlinterpretationen auf beiden Seiten. Selbst der Kalte Krieg wurde schließlich nicht durch Krieg, sondern durch Diplomatie gelöst. Dennoch liest man in den letzten Wochen mit Besorgnis immer häufiger die Aufforderung an die Zivilbevölkerung Europas, sich auf einen Krieg mit Russland vorzubereiten. Sind wir wirklich sicher, dass zwischen einem (schwierigen) Dialog mit Russland und einem offenen Krieg der Krieg die beste Wahl wäre, weil er die moralisch einzig mögliche Wahl sei? Ist es nicht an der Zeit, sich von dem moralischen Fanatismus zu befreien, der durch das Trauma der Münchner Konferenz von 1938 entstanden ist, als Hitler Teile der Tschechoslowakei zugesprochen erhielt? Jeden Krieg durch das Prisma des Zweiten Weltkriegs zu interpretieren ist äußerst manipulativ – und beweist auch einen großen Mangel an Geschichtskenntnissen.

Mit Russland zu reden ist möglich!

Mit Russland zu reden ist möglich. Russland ist keine eigenständige Zivilisation im Huntingtonschen Sinne oder für den Westen absolut unverständlich. Es handelt sich um keine von der westlichen Welt völlig isolierte Zivilisation. Es ist keine asiatische Zivilisation und daher per definitionem despotisch, von Natur aus gegen die Werte der europäischen Zivilisation gerichtet und daher eine Zivilisation, der man nicht trauen oder die man nicht respektieren kann. Selbst wenn es so wäre, hätte diese Art von Logik etwas zutiefst Rassistisches an sich: als ob man nur mit Europäern reden könnte und als ob nur Europäer (und Amerikaner) vernünftige Menschen wären. Rational zu sein bedeutet auch, die Gründe der anderen zu verstehen, nicht unbedingt und um jeden Preis jede Art von Rationalität außer der eigenen abzulehnen. 

Europa und Russland können Seite an Seite leben: Sie sind keine absoluten Gegensätze und unversöhnlichen Feinde, es gibt viele Berührungspunkte in der russischen und europäischen Geschichte und Kultur. Und der kulturelle und fatalistische Diskurs zur Erklärung des unvermeidlichen Konflikts zwischen Russland und dem Westen ist in jedem Fall sinnlos: In Europa selbst hat die kulturelle Nähe jahrhundertelange Konflikte und einige der blutigsten Kriege der Menschheitsgeschichte nicht verhindert. Der Konflikt zwischen Russland und dem Westen ist nicht unvermeidlich. Es handelt sich nicht um einen Zivilisationskrieg, sondern um einen Konflikt, der aus konkreten Faktoren erwachsen ist und von konkreten Personen geführt wird. Die NATO ist nicht das Rote Kreuz, die USA und ihre Verbündeten haben sich in den letzten Jahren in viele Konflikte eingemischt, und es waren nicht alles Verteidigungskriege. Die NATO sollte Kriege verhindern und zur Sicherheit Europas beitragen und wurde stattdessen zur Ursache von Kriegen. Das zu verstehen wäre schon ein guter Anfang für einen Dialog. 

Zum Interview Tucker Carlson mit Wladimir Putin:

Und hier zum Interview mit deutschen Untertiteln.

Und hier zum ganzen Interview in deutscher Sprache zum Nachlesen (Übersetzung Andreas Mylaeus) und/oder zum Downloaden als PDF.