Die absolute Neutralität des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz ICRC ist dessen wichtigstes Prinzip. Darum ist der Sitz des ICRC in Genf, in der neutralen Schweiz. (Screenshot aus einem Video, mit dem sich das ICRC selber vorstellt.)

Jetzt propagieren 87 Schweizer Polit-Opportunisten eine «okkasionelle Neutralität» – eine «Neutralität je nachdem»

Es ist einfach unglaublich: Jetzt haben 87 bekannte Schweizer Polit-Größen ein Manifest veröffentlicht, in dem die Schweizer Regierung aufgefordert wird, die Neutralität der Schweiz der heutigen Zeit anzupassen und sie von Fall zu Fall anders zu handhaben. Wenn es passt, zum Beispiel aus wirtschaftlichen Gründen, dann ist man neutral. Wenn es nicht passt, zum Beispiel wenn es um Russland geht, soll die Schweizer Außenpolitik nicht mehr neutral sein und im Gleichschritt mit der NATO marschieren. Opportunismus pur! Als Schweizer Bürger kann man sich für solche Polit-Intellektuelle nur schämen!

Besonders enttäuschend ist, dass unter den Erstunterzeichnern des Manifestes auch einige bisherige Schwergewichte in der Schweizer Politik zu finden sind. René Rhinow zum Beispiel, der nicht nur zu den Erstunterzeichnern gehört, sondern auch zum sechsköpfigen Führungskomitee, war nicht nur als Vertreter der Freisinnig-Demokratischen Partei – der Liberalen – von 1987 bis 1999 Ständerat und zuletzt ein Jahr lang sogar Ständeratspräsident, er war von 2001 bis 2011 auch Präsident des Schweizerischen Roten Kreuzes – einer Institution, die wie keine andere vom Prinzip der Neutralität lebt. Das Schweizerische Rote Kreuz, 1866 von Guillaume Henri Dufour gegründet, hat heute annähernd 5000 Mitarbeitende und über 50’000 freiwillige Helfer. Dieser René Rhinow schrieb in der NZZ vom 18.5.2022 und schreibt auf seiner eigenen Website, die Neutralität der Schweiz müsse «okkasionell» gehandhabt werden! Wörtlich: «Vieles spricht dafür, dass die Schweiz den Status eines ‹dauernd› Neutralen aufgibt und allenfalls die Neutralität auf bestimmte Konstellationen einschränkt, ohne sie grundsätzlich und definitiv aufzugeben. Die Schweiz wäre dann ‹gewöhnlich› neutral, wie etwa Irland sowie (noch?) Finnland und Schweden, und auch frei, auf die Neutralität okkasionell im Interesse der eigenen Sicherheit zu verzichten.» (Auszeichnung durch die Redaktion)

Eine Neutralität, die nur okkasionell, also nur von Fall zu Fall gilt? Kann man sich zum Beispiel ein Rotes Kreuz vorstellen, das okkasionell – von Fall zu Fall – entscheidet, ob einem Verwundeten geholfen werden soll oder nicht?

Aber es gibt auch andere Prominente unter den «Neutralität-jenachdem»-Propagandisten, zum Beispiel auch Kaspar Villiger, der nicht nur von 1989 bis 2003 Bundesrat, also ein Mitglied der siebenköpfigen Schweizer Regierung war, sondern von 2009 bis 2012 Verwaltungsratspräsident der Großbank UBS, die bekanntlich 2008 vom Staat gerettet werden musste.

Aufgefallen schon seit ein paar Tagen sind vor allem auch der Historiker Marco Jorio und der ehemalige Schweizer Botschafter Daniel Woker (nicht zu verwechseln mit dem ehemaligen NZZ-Auslandredakteur Martin Woker, zu dessen Zeit der Auslandteil der NZZ noch lesenswert war). Sie bezeichnen die kürzlich eingereichte Volksinitiative für eine Verankerung der Schweizer Neutralität in der Bundesverfassung als «Pro-Putin-Initiative». Hier wird mit solch primitiven Wortschöpfungen „argumentiert“ – das harte Wort „primitiv“ ist in diesem Fall leider unvermeidlich.

Kein Wort zur neutralen Schweiz als prädestinierte Vermittlerin bei internationalen Konflikten

Dass die neutrale Schweiz in etlichen Fällen internationaler Konflikte in der Vergangenheit eine wichtige Vermittlerrolle spielen konnte und zum Teil noch immer spielt, man denke an Kuba, Korea oder auch an den Iran, wird in dem Manifest der 87 Neutralitätsrelativierer mit keinem Wort erwähnt. Ist ja auch nicht wichtig, die Schweiz hat nichts davon, warum soll sie sich dafür engagieren, dass internationale Konflikte gelöst oder entschärft werden? Und diese miese Haltung im Jahr 2024, wo etliche Konflikte jeden Tag unzählige Tote verursachen!

Dass die Schweiz in der Person Ignazio Cassis einen opportunistischen Außenminister hat – und dass dieser dies auch nicht verheimlicht, sondern ausdrücklich bestätigt –, ist traurig genug. Gerade hat er den Schweizer Entwicklungshilfe-Organisationen im Budget Geld entzogen, das er für die durch und durch korrupte ukrainische Regierung braucht. Auch Ignazio Cassis machte ja einen Versuch, die Neutralität der Schweiz zu relativieren, Stichwort «Kooperative Neutralität». Dieser sein Vorschlag wurde allerdings schon vor seiner Veröffentlichung so zerpflückt, dass das Papier gleich wieder im Schredder landete.

Und jetzt haben wir eine Gruppe von 87 Angehörigen der politischen Elite, die diesen Opportunismus zum Prinzip der Schweizer Politik machen will.

Es ist nur noch zum Heulen.

Und ein paar persönliche, aber notwendige Anmerkungen

Jene, die meine persönliche Bio kennen, wissen, dass damals, als ich CEO der Schweizer Vogt-Schild Medien Gruppe war, René Rhinow ein paar Jahre lang als VR-Präsident mein Vorgesetzter war. Aus dieser Zeit ist nichts übrig geblieben, das zu heftiger Kritik Anlass gäbe. Ich kenne auch einige andere dieser 87 Polit-Größen persönlich, so zum Beispiel Kurt Flury, Georg Kreis, Georg Müller, Casper Selg u.a. Schon viele Jahre Grund zur Verachtung habe ich nur bei Roger Blum – er ist mein leiblicher Cousin –, der 1980 gegen mich persönlich als neuen Chefredakteur der «Luzerner Neusten Nachrichten» LNN und meinen damaligen Arbeitgeber Ringier einen nächtlichen Fackelumzug durch die Altstadt Luzern organisierte, was ihn nicht hinderte, später als Berner Medien-Professor sich für Forschungsaufträge von Ringier bezahlen zu lassen. Später war er Stiftungsratsmitglied der «Gottlieb und Hans Vogt Stiftung» in Solothurn. Dort war er maßgeblich an den Entscheiden beteiligt, wohin deren Gelder fließen – doch dazu schweigt des Sängers Höflichkeit …

Es geht also nicht um den politischen Kampf gegen Personen, nicht gegen einzelne und auch nicht gegen die 87 Erstunterzeichner des Manifests, sondern um den politischen Kampf gegen eine Politik, die sich ausschließlich um die Eigeninteressen der Schweiz kümmert und eine wichtige Funktion der bisherigen neutralen Schweiz, die Vermittlung bei internationalen Spannungen und Konflikten und Genf als neutralen Standort für Verhandlungen und Friedensgespräche verunmöglichen will.

Zur Website «Manifest Neutralität 21»
Zur ausführlichen Begründung und zu den Namen der 87 Erstunterzeichnern, als PDF.

Siehe dazu auch: «Die Schweiz ist als neutraler Staat für Vermittlungen prädestiniert – und die Welt braucht Vermittler!»

PS vom 1.6.2024 12 Uhr: Auf diesen Beitrag haben mir einige Leserinnen und Leser eine positive Rückmeldung gemacht und für einige war es sogar der Anlass für eine Geldspende an Globalbridge.ch. Herzlichen Dank! – Ich werde keinen Zeitaufwand und auch keine privaten Kosten scheuen, um eine weitere Annäherung der Schweiz an die NATO zu bekämpfen. Weitere Artikel mit der Information, warum die NATO für die heutige hochgefährliche Situation in Europa in hohem Masse mitverantwortlich ist, werden auf Globalbridge.ch folgen. Danke für Ihr Interesse und für Ihre Unterstützung! Christian Müller