Israelische Trennmauer zum Südlibanon mit Turm und Überwachungskameras. (Foto Karin Leukefeld)

In Zeiten des Krieges – Unterwegs im südlichen Libanon

(Red.) Unsere Berichterstatterin aus dem Nahen Osten, die deutsche Journalistin Karin Leukefeld, reiste in den letzten Tagen an die südliche Grenze des Libanons zu Israel, wo die Menschen große Angst vor einem neuen Kriegsausbruch haben – mit gutem Grund. Hier ein kurzer Erlebnisbericht. (cm)

14.10.2023. Am Vorabend hat die israelische Armee im Süden des Libanon gezielt eine Gruppe Journalisten beschossen. Issam Abdullah, ein libanesischer Videofilmer der Nachrichtenagentur Reuters, wurde getötet, zwei weitere Journalisten von Reuters, zwei Journalisten von Al Jazeera und eine AFP-Journalistin wurden verletzt. Den ganzen Tag war die Gruppe entlang der „Blauen Linie“ unterwegs gewesen, um die Lage zu beobachten, um Live zu übertragen. Am späteren Nachmittag übertrugen sie Bilder vom israelischen Beschuss von Dörfern, Bäume gingen in Flammen auf, große Rauchwolken waren zu sehen. Das Team nahm eine höher gelegene Position unweit des Ortes Aalma al-Schaab ein, um das Geschehen zu beobachten. Einige Journalisten trennten sich, um in den Ort zu fahren und mit Leuten zu sprechen.

Die Position der Journalisten war im offenen Gelände. Gegenüber liegt, jenseits der „Blauen Linie“, eine Militär- und Überwachungsbasis des israelischen Militärs bei einer Siedlung. Von dort feuerte ein Merkava-Panzer direkt auf die Gruppe. Der Videofilmer Issam Abdallah saß einige Meter von dem Übertragungsfahrzeug entfernt auf einer Mauer, um ein Live-Signal mit seiner Kamera herzustellen, damit die Kollegen übertragen konnten. Er wurde zuerst getötet, dann ging das Fahrzeug der Journalisten in Flammen auf. Der Wagen war mit einer Satellitenschüssel auf dem Dach deutlich als Pressefahrzeug zu erkennen und entsprechend gekennzeichnet. Die Journalisten trugen Helm und Schutzwesten mit der Aufschrift „Presse“.  

Die israelische Armee erklärte, man werde den „bedauerlichen Zwischenfall“ untersuchen. Zu dem Zeitpunkt habe eine Gruppe sich der Sperrmauer genähert, offenbar in der Absicht, sie zu überwinden. Allerdings soll sich die Gruppe schon vor dem israelischen Beschuss wieder von der Mauer entfernt haben, hieß es aus nicht näher bezeichneten libanesischen Sicherheitskreisen. In jedem Fall lag eine große Entfernung zwischen der Mauer und dem Standort der Journalisten, eine Verwechslung ist unglaubwürdig. 

15.10.2023. Am Wochenende reagierte die Hisbollah nach eigenen Angaben auf den Angriff auf die Journalisten und beschoss gezielt zwei Merkava-Panzer der israelischen Armee sowie Überwachungs- und Militärposten. Die israelische Armee bestätigte die Angriffe und sprach von einem Toten und fünf Verletzten. Das Vorgehen der Hisbollah entspricht ihrer Position, Angriffe aus Israel direkt mit gleichem zu vergelten. Der israelische Verteidigungsminister erklärte am Sonntag, Israel habe kein Interesse an einem Krieg im Norden des Landes.  

Issam Abdallah wurde in seinem Geburtsort Khiam im Südlibanon beerdigt. Dort hatte die israelische Besatzungsmacht 1985 eines der „grausamsten Haft- und Verhörzentren“ errichtet. In den 67 Zellen und mindestens 20 Einzelzellen wurden bis zum Abzug der israelischen Armee aus dem Südlibanon (im Jahr 2000) mehr als 5000 Libanesen, darunter 500 Frauen, inhaftiert und gefoltert. Am 23. Mai 2000, zwei Tage vor dem endgültigen Abzug der israelischen Armee, hatten Hunderte Libanesen das Gefängnis gestürmt und die Zellen geöffnet. 144 libanesische Gefangene wurden befreit. Aus dem Gefängnis wurde ein Museum und Gedenkort. Im Krieg 2006 wurde das Gelände von der israelischen Armee bombardiert und der Erinnerungsort zerstört. Jedes Dorf im Süden des Libanon kennt israelische Aggression seit Generationen.

Unterwegs entlang der „Blauen Linie“

Am Tag vor dem gezielten Angriff der israelischen Armee auf die Journalistengruppe war es entlang der „Blauen Linie“ im Südlibanon ruhig geblieben. Die Autorin war in Begleitung von H. unterwegs, der aus dem Süden des Landes stammt und jeden Winkel ebenso kennt, wie die Geschichte. Journalisten sprachen vom „ruhigsten Tag“ seit Beginn der Operation „Al Aqsa-Flut“, die von den Qassam-Brigaden der Hamas mit Unterstützung von Kämpfern des Palästinensischen Islamischen Jihad am 7. Oktober in Israel begonnen worden war. 

Die „Blaue Linie“ wurde nach dem Abzug der israelischen Besatzungsarmee aus dem Südlibanon im Jahr 2000 von den Vereinten Nationen als Waffenstillstandslinie markiert. Die in regelmäßigen Abständen aufgestellten blauen Tonnen mit dem UN-Zeichen machen klar, dass es sich nicht um eine Grenze zwischen zwei Staaten handelt. Israel nennt das Gebiet südlich der Waffenstillstandslinie Nordgaliläa. Vor der gewaltsamen Gründung des Staates Israel 1948 und der Vertreibung der Palästinenser, der Nakba, der Katastrophe, teilten sich Libanesen, Syrer und Palästinenser das fruchtbare Land. Muslime, Christen, Drusen und Juden lebten in den Dörfern gemeinsam.

Libanon und Israel befinden sich im Krieg, da der Libanon die Scheeba Höfe südlich der „Blauen Linie“ als libanesisches Territorium beansprucht. Syrien fordert die von Israel 1967 besetzten und später annektierten syrischen Golanhöhen mit Zugang zum Tiberias See (See Genezareth) zurück. Die Palästinenser beharren auf der Rückkehr in ihre von Israel besetzten und als Siedlungen zu militärischen Posten ausgebauten Ländereien und Dörfer. Das ist ihr „unveräußerliches Recht“, wie die UN-Resolution 194 III erklärt, die am 11.Dezember 1948 verabschiedet wurde. Alternativ hätten die Palästinenser Anspruch auf Entschädigung. 75 Jahre später und trotz zahlreicher weiterer UN-Resolutionen zu den Rechten der Palästinenser hat sich Israel an keine gehalten.

Dort ist unser Land

Die israelische Siedlung Mutulla liegt nur wenige Hundert Meter vom Dorf Kfar Kila und dem „Fatima Tor“ entfernt, das während der israelischen Besatzung (1982-2000) als Übergang genutzt wurde. Eine schmale, von Eucalyptusbäumen gesäumte Straße führt über eine weite Ebene, die sich im Norden bis nach Marjayoun erstreckt. Östlich fließt der Hasbani Fluss, der sein Wasser in zahlreichen kleineren Wasserläufen in die fruchtbare Ebene verteilt. Die Siedlung Mutulla ist von Weinreben, Oliven- und Obstbäumen umgeben. In Richtung Westen erstreckt sich einer Schlange gleich eine hohe Betonmauer, die Israel errichtet hat. Sie soll Siedlungen und Militärbasen, Lausch- und Überwachungsposten der israelischen Armee gegen den Südlibanon abschirmen. Neben der „Blauen Linie“ und der Mauer verläuft auf israelischer Seite eine Fahrrinne, durch die israelische Militärfahrzeuge patrouillieren. Auf libanesischer Seite verläuft eine Straße, die zur Hafenstadt Tyros führt. Eine kleinere Straße verbindet die Dörfer, die teilweise in unmittelbarer Näher zur israelischen Befestigungsanlage liegen. Sie endet in Naqoura, dem Hauptquartier der UN-Friedenstruppen für den Libanon, UNIFIL am Mittelmeer.

Blick vom Journalistenhügel auf die israelische Siedlung Mutulla. (Foto Karin Leukefeld)

Die Siedlung Mutulla sei leer, erklärt ein Journalist von einem der Fernsehteams, die sich oberhalb von Mutulla auf einem Hügel versammelt haben, um das Geschehen zu beobachten. Es gebe nur einige Soldaten dort, die sich aber kaum sehen ließen. „Da laufen gerade welche, sehen Sie!“ Sein ausgestreckter Arm deutet auf eine Gruppe von vier Soldaten, die sich im Gänsemarsch über eine freie Fläche zwischen zwei Häusern bewegen. Am Vortag seien plötzlich in Mutulla und anderen nahegelegenen Siedlungen die Sirenen angegangen und sie hätten Schüsse gehört, Leuchtraketen seien abgefeuert worden, erzählt der Mann. „Erst dachten wir, sie kämpfen gegeneinander, aber vermutlich waren sie irritiert durch die Sirenen und dachten, aus dem Libanon seien Leute in die Siedlung vorgedrungen.“ Hinter Mutulla erhebt sich auf israelisch kontrolliertem Gebiet ein Hügel, auf dessen Spitze ein Überwachungs- und Lauschposten der israelischen Armee steht. Die Journalisten sind sich sicher, dass Israel sie alle von dort fest im Blick hat und vermutlich über ihre Telefone auch abhört. 

Der Hügel auf libanesischer Seite ist inzwischen als „Medienhügel“ bekannt. Selbst ein fahrbares Café hat sich eingefunden, wo die Journalisten sich mit Kaffee, Tee, Wasser, Obst und kleinen Snacks versorgen können. Reden möchte der junge Mann, der dort verkauft, nicht. Dafür schenkt er der Autorin eine Flasche Wasser und ein freundliches Lächeln für die Kamera.

Es sei ihr erster Einsatz, sagte die Journalistin Zeinab J. im Gespräch mit der Autorin. Es werde Krieg geben, ist sie überzeugt. Angst habe sie nicht: „Ich stamme aus einem Dorf bei Nabatieh und bin, wie die meisten hier, im Krieg geboren. Wir lieben unser Land und werden darum kämpfen. Niemand läuft hier weg.“ Israel sei nie an Frieden interessiert gewesen, jetzt wollten sie sogar die Palästinenser in die Wüste Sinai vertreiben. „Das Land, das Sie dort im Süden sehen, ist unser Land und das Land der Palästinenser. Wir kennen unsere Geschichte.“ Dann sagt sie nachdenklich: „Was würde die Welt wohl sagen, wenn wir, wenn die Palästinenser in ein anderes Land kämen, die Menschen dort aus ihren Häusern vertrieben und sagen würden, das gehört jetzt uns?“ 

In einem weißen Übertragungswagen sitzt eine Journalistin mit Schutzweste und blickt angespannt auf ihr Handy. Der Schutzhelm liegt neben ihr auf dem Fahrersitz, der Kameramann beobachtet die Siedlung Mutulla durch seine Kamera. Sie arbeite für einen ausländischen Sender und könne ihre Meinung nicht sagen, meint sie vorsichtig. Das sei schon in Ordnung, sie habe sich daran gewöhnt: “Sonst hätten wir immer Streit und ich würde auch meinen Job verlieren.“

Immer mehr Journalisten und Übertragungswagen parken auf dem Journalistenhügel und bereiten sich auf kurze Live-Übertragungen vor. Als wir über die schmale Allee vorbei an Mutulla und der hohen Mauer in Richtung Odaissah aufbrechen, kommt uns eine Patrouille von zwei UNIFIL-Fahrzeugen entgegen. Die Szene entlang der Straße wirkt absurd. Die Straße ist rechts und links mit Bäumen gesäumt. Nach Norden hin liegen Dörfer, nach Süden hin erhebt sich mal direkt mal etwas weiter entfernt die israelische Schutzmauer. Alle paar Hundert Meter stehen Türme gespickt mit Kameras, die in alle Richtungen weisen. Hinter der Mauer erheben sich immer wieder Überwachungsanlagen und Horchposten der israelischen Armee, die jeder Bewegung folgen, die entlang der Straße oder in den Dörfern auszumachen ist.

Mauern und nochmals Mauern. Selbst Bäume, die die Sicht der Überwachungskameras behindern, können zu Konflikten mit Todesfolgen führen. (Foto Karin Leukefeld)

Ich sterbe in meinem Land

Am Rande von Odaisseh liegt das Café von Mohamed R., der den Krieg mit Israel seit Kindestagen kennt.“ Ghadab“ steht über dem Eingang geschrieben, Zorn. Darunter ist zu lesen „Das Volk – die Armee – der Wiederstand“. Sitzt man im Café, sieht man jenseits der Straße ein Schild, auf dem „Al Quds Park“ steht, Jerusalem Park. Der schmale Streifen Land bis zur Mauer ist mit Bäumen bepflanzt. Den Park und die Bäume hätten sie sich erkämpfen müssen, erzählt Mohamed R. bei einer Tasse Tee. Im August 2010 habe die israelische Armee mit einem Kran versucht, Zweige der Bäume zurückzuschneiden, weil sie mit ihrem Blattwerk die freie Sicht auf die Straße und das Dorf verstellt und Instrumente behindert hätten, die das Eindringen von Libanesen auf israelisch kontrolliertes Territorium meldeten. Drei Bäume seien gefällt worden. Die Leute von Odaisseh hätten unter dem Schutz der libanesischen Armee versucht, das Fällen der Bäume zu stoppen. Dabei sei es zu einem Schußwechsel zwischen israelischen und libanesischen Soldaten gekommen. Ein israelischer Soldat, zwei libanesische Soldaten und ein libanesischer Journalist seien getötet worden, erinnert sich Mohamed R.. UNIFIL habe versucht zu vermitteln. 

Der „Krieg um die Bäume“ hätte international Schlagzeilen gemacht. UNIFIL stellte schließlich fest, dass der Baum, der gefällt worden war, südlich der „Blauen Linie“ gestanden habe, auf israelisch kontrolliertem Boden. Das sei inakzeptabel, weil das ganze Land ohnehin ihnen gehöre, so Mohamed R.. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo es war.“ Auf der anderen Straßenseite stehen dicht aneinander gewachsene Johannisbrotbäume. „Inzwischen ernten wir hier wieder von beiden Seiten“, sagt Mohamed R. und pflückt einige der kleinen, braunen, gebogenen Früchte. Bei Nabatieh gebe es eine Fabrik, wo das Johannisbrot verarbeitet werde.

Dann zeigt er auf einen Hügel, der sich hinter der israelischen Trennmauer erhebt. Oben steht ein Horchposten, ein Turm mit Kameras und Mikrophonen, die alles in der näheren und weiteren Umgebung beobachten. Hinter dem Hügel hätten sein Vater und sein Großvater große Ländereien besessen, erzählt Mohamed R.. Seit Israel die Gebiete besetzt und später annektiert habe, habe es immer wieder Krieg gegeben, fügt er nachdenklich hinzu. Auf die Frage, ob er bei einem neuen Krieg sein Dorf verlassen werde, lacht er laut auf. „Wohin soll ich gehen? Nein, nein, ich bleibe hier. Hier bin ich geboren und wenn Allah entscheidet, dass ich sterben soll, dann soll es hier sein. Auf meinem Land.“ 

Mohammed R. vor seinem Café. (Foto Karin Leukefeld)

Die Dörfer der Märtyrer

Die Fahrt geht weiter in Richtung Bint Jbeil. In vielen der Dörfer sind die Straßen mit Bildern von Märtyrern gesäumt, die im Krieg 2006 oder unter der israelischen Besatzung ihr Leben für die Freiheit ihres Landes hergaben. Auffällig ist die Ruhe in den Dörfern, was für einen Donnerstagnachmittag, der Tag vor dem muslimischen Feiertag am Freitag, ungewöhnlich ist. Die Straßen sind wie leergefegt, Geschäfte sind geschlossen, nur ab und zu sieht man Männer, die vor Türen sitzen, auf einer Bank oder vor einem Café. Kaum dass sie ihre Köpfe heben, als wir vorbeifahren, Kinder und Frauen sind nicht zu sehen.

Die israelische Trennmauer, mit Bildern der Märtyrer. Das Foto wurde aus dem Auto aufgenommen, im Vordergrund die Kennzeichnung des Wagens «PRESS». (Foto Karin Leukefeld)

In Bint Jbeil fahren wir zwei Mal um den Markt im Zentrum der Stadt, bis wir eine Apotheke finden, die geöffnet hat. Wissam heißt der Inhaber, er scheint an einem Gespräch mit einer Fremden, dazu noch aus Deutschland, wenig interessiert. Ob ich eine Genehmigung hätte, als Journalistin Fragen zu stellen, fragt er etwas muffig. Als ich ihm meine libanesische und die deutsche Pressekarte zeige, scheint ihm sein Mißtrauen peinlich zu sein. Ich solle entschuldigen, sagt er brummelig. „Wir sind in einer schwierigen Situation“. Gesprächiger zeigt sich sein Freund, der seinen Namen nicht nennen möchte. Doch schließlich sind beide an dem Gespräch beteiligt, das sich aus den Fragen der Autorin entwickelt. Es sei ruhig in Bint Jbeil, weil man mit einem Krieg rechne, sagt Wissam. Die Stadtverwaltung habe den Donnerstagmarkt abgesagt. Die meisten hätten Frauen und Kinder nach Tyros oder nach Beirut gebracht, seine Familie sei noch da. Niemand habe eine Evakuierung angeordnet, doch alle könnten sich noch sehr gut an die Fluchtszenen erinnern, als die israelische Armee 2006 angriff. Teile von Bint Jbeil wurden damals in Schutt und Asche gelegt, viele Menschen starben, als sie versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Die Bevölkerung habe entschieden, Frauen, Kinder und alte Menschen fortzuschicken. 

Das Gespräch dreht sich um die Rolle der USA in der Region, die immer wieder Israel unterstütze. Für die EU haben die beiden Männer nichts übrig. „Die Palästinenser sind im Recht“, sagt der Freund des Apothekers. „Vor 75 Jahre wurden sie aus ihrer Heimat vertrieben und leben bis heute unter schlechten Bedingungen. „Ganz Libanon steht an ihrer Seite“, fügt er hinzu. Wenn es sein müsse, würden sie alle kämpfen, darum seien die Männer geblieben.

Als wir schließlich aufbrechen, stehen beide Männer zum Abschied vor der Apotheke und heben grüßend die Hände. Niemand weiß, wann der Krieg beginnen wird und wie er für die Menschen ausgehen wird. Doch niemand läuft weg, jeder ist bereit, die eigene Freiheit und die des Landes zu verteidigen.  

Weiter geht es in Richtung Westen. Ayta Schaab, Rmeich, Marwaheen – christliche und muslimische Dörfer wechseln sich ab. Trotz Krieg 2006 sind manche der Dörfer in ihrer ursprünglichen historischen Struktur erhalten geblieben und laden zum Verweilen ein. Die Natur steht in voller Blüte. Weintrauben, Olivenhaine, Nutzgärten mit Gemüse und Felder mit fruchtbarer dunkler Erde umgeben die Häuser. Mal werden die Orte von Moscheen, mal von Kirchen und zahlreichen Schreinen und Heiligenbildern geprägt. Doch die Idylle trügt, denn jedes dieser Dörfer hat in seiner Geschichte der letzten Jahrzehnte Massaker und Überfälle der israelischen Armee erlebt, jede Familie hatte Opfer zu beklagen. Und hinter der nächsten Kurve stößt der Blick erneut an die israelische Trennmauer. Bedrohlich erheben sich dahinter militärische Sperranlagen und Überwachungstürme, die alles im Blick haben.

Bei Yarine treffen wir auf ein Fernsehteam von Al Arabiya, den saudischen Fernsehsender. Auf dem Dach eines Arbeitsgebäudes haben die Journalisten Klappstühle, ihre Kameras und Sonnenschirme aufgebaut. Beim Auto steht ein Generator, das Team sieht aus, als wollten sie die Nacht an diesem Ort verbringen. „Wenn Ihr die Straße links nehmt, kommt ihr nach Dheira“, sagt einer der Journalisten. „Dort hat die israelische Armee gestern bombardiert, ihr könnt Euch alles ansehen.“ H. holt tief Luft, bevor wir losfahren. Die Straße führt hier außerordentlich dicht an den israelischen Überwachungskameras und an der Mauer vorbei, er gibt Gas. 

Die israelische Trennmauer in unmittelbarer Nähe von Dheira (Foto Karin Leukefeld)

In Dheira treffen wir einen jungen Mann mit umgekehrt aufgesetzter Baseballkappe. George, sein richtiger Name ist der Autorin bekannt, führt einen Laden an der Hauptstraße und spricht gut Englisch. Bei dem Angriff der israelischen Raketen am Vortag sind die Scheiben der beiden großen Fensterfronten zerborsten. George hat Kartons aufgestapelt, um die Lücke zu schließen. „Kommt, ich zeige euch das Haus meines Onkels“, sagt er und schwingt sich auf sein Motorrad. Zügig fährt er voran durch das alte Dorf von Dheira, das den Hügel hinauf in Richtung der israelischen Trennmauer liegt. Nutzgärten umgeben einfache Bauernhäuser, die mit Oleander und Wein umwachsen sind. George weist auf einen verbrannten Acker, wo eine Rakete eingeschlagen ist, dann erreichen wir eine Moschee, die von verschiedenen Seiten getroffen ist. Ebenfalls zertrümmert ist eine Villa gegenüber der Moschee, auch andere Häuser weisen Zerstörungen auf. Die israelische Armee habe von verschiedenen Seiten gefeuert, erklärt George. Sie versuchten eine Stellung der Hisbollah zu treffen, die auf den Horch- und Überwachungsposten oben auf dem Hügel geschossen hatte. Eine Gruppe junger Journalisten läuft durch den Ort, macht Fotos, begutachtet die Schäden und läuft schließlich den Feldweg entlang der Trennmauer entlang.

Die Moschee von Dheira. Die sichtbare Zerstörung vorne stammt von einer Beschießung durch die Israelis. (Foto Karin Leukefeld)

„Besser ihr fahrt“, mein George und weist auf einen kleinen Punkt oben am Himmel. Eine Drohne kreist über uns, jederzeit kann sie ihre mörderische Fracht abwerfen. George winkt uns nach, als wir durch das Dorf wieder Richtung Hauptstraße fahren. „Gute Fahrt“, ruft er. „Wir gehen hier nicht weg.“

Nach ungefähr zehn Kilometern erreichen wir Naqoura, den Standort der UNIFIL-Truppen. Das weitläufige Gelände liegt auf einem Plateau über dem Meer. Die Straße ist mit Fahnen der Hisbollah gesäumt. Die Organisation läßt keinen Zweifel daran, dass sie dieses Land verteidigen wird.

Aus persönlichen Aufzeichnungen

Die Region ist in Aufruhr. Israel – das nicht vorbereitet war und seine Bürger nicht schützen konnte – strebt die Vernichtung der Hamas und die Vertreibung der Palästinenser aus dem Gaza-Streifen in die Sinai-Wüste im benachbarten Ägypten an. Vor den Augen der Welt entfaltet sich ein Höllenszenario für die Palästinenser, die für den Angriff der Qassam-Brigaden bezahlen sollen. Die Zahl der getöteten Israelis wurde vom Büro von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu am Sonntag mit 1400 angegeben, 3000 wurden verletzt. Im Gazastreifen starben nach Angaben des dortigen Gesundheitsministeriums durch israelische Angriffe 2670 Menschen, 9600 Verletzte wurden in Kliniken und auf den Straßen behandelt. Die Zahlen dürften überholt sein, wenn dieser Artikel erscheint.

Die USA haben zwei Flugzeugträger mit den jeweiligen Begleitschiffen ins östliche Mittelmeer geschickt und auf israelischen Militärbasen hoch explosive Spezialmunition der Marke „Joint Direct Attack Munition“ eingelagert, so genannte aufgerüstete präzisionsgelenkte Bomben. Das berichtet der US-Journalist Seymour Hersh unter Berufung auf eine namentlich nicht genannte Quelle aus Kreisen der israelischen nationalen Sicherheit. Diese Munition kann bis zu 50 Meter ins Erdreich eindringen und tötet nach der Explosion alles Leben im Umkreis von 1,5 Meilen, rund 2,4 Kilometer. Der Einsatz muss (vom Herkunftsland, den USA) bewilligt werden und so wird in Tel Aviv noch an weiteren Szenarien zur Vernichtung der Hamas gearbeitet. Im Gespräch ist ein „Leningrad Ansatz“, das geplante Aushungern der Hamas. Das andere ist das Töten von 100.000 Menschen.

Russland und China und zahlreiche andere Staaten fordern einen Waffenstillstand und Verhandlungen. China, das eine Friedenskonferenz vorschlägt, schickt seinen Sonderbeauftragten für die Region, Zhai Jun, um mit allen Seiten zu sprechen.

Zur Nakba-Ausstellung, hier öffnen.