Sanktionen treffen nie «die da oben», sondern immer den Unteren Mittelstand und die Armen. Auch die Kinder in Syrien haben aufgrund der westlichen Sanktionen keine Aussicht auf eine menschenwürdige Zukunft. (Bild OCHA)

Hunger und Armut in Syrien – die Folge westlicher Blockadepolitik

(Red.) Mit der tragischen und historisch gesehen skandalösen Allein-Entscheidung der Schweizer Regierung im Februar 2022, entgegen der Schweizer Neutralität die Sanktionen der EU gegen Russland pauschal zu übernehmen, hat diese Regierung auch die Funktion der Schweiz als neutrale Vermittlerin massiv beschädigt. Und sie hat auch den Platz Genf als bewährten Verhandlungsort definitiv abgewertet. Bereits hat das spürbare Auswirkungen – und betroffen sind wie immer bei Sanktionen vor allem die Unterschichten und die Armen. Der hier folgende Beitrag aus Syrien von Karin Leukefeld zeigt, wie das funktioniert. (cm)

Januar 2023. Am libanesisch-syrischen Grenzübergang Masnaa herrscht Gedränge. Eine lange Schlange syrischer Taxis wartet auf die Abfertigung. In einer zweiten Schlange stehen libanesische Fahrzeuge, die Reisende nach Syrien bringen. 

Die syrischen Taxis liegen trotz weniger Fahrgäste tief auf der Straße. Ihre Tanks sind bis oben gefüllt, im Kofferraum liegt eine Gasflasche. Einen vollen Tank und eine Gasflasche vom Libanon nach Syrien zu transportieren ist nur den Taxis erlaubt. Mangels Fahrgästen hat sich der Transport von Benzin im eigenen Tank und einer Gasflasche für die syrischen Taxifahrer zu einer guten Einkommensquelle entwickelt. Zuhause angekommen wird das Benzin aus dem Tank in 10 Literflaschen oder Kanister umgefüllt und anschließend auf dem Schwarzmarkt, d.h. am Straßenrand oder in der Nachbarschaft, für rund 85.000 Syrische Pfund (SYP, etwa 12,80 US-Dollar) verkauft.

Der offizielle Umtauschkurs für 1 US-Dollar beträgt derzeit 4.500 SYP. Der gebräuchliche und geduldete Schwarzmarktkurs beträgt für 1 US-Dollar 6500 SYP. Vor zwölf Jahren, zu Beginn des Krieges, erhielt man für 1 US-Dollar 50 SYP.

Wie das Benzin wird auch der Gaszylinder verkauft. Vor allem im Winter wird mit Gas nicht nur gekocht, sondern auch geheizt, weil Heizöl rar und sehr teuer ist. Syrische Familien erhalten jedoch nur noch alle 100 Tage einen Gaszylinder, der von der Regierung subventioniert wird. Das subventionierte Gas kostet knapp 12.000 Syrische Pfund (etwa 2 US-Dollar). Wer kein Recht auf subventioniertes Gas hat, bezahlt pro Zylinder 35.000 Syrische Pfund (6 US-Dollar). Wer mehr Gas braucht, weil er ein Geschäft, eine große Familie, kranke Angehörige oder einen Kindergarten zu versorgen hat, muss Gas auf dem Schwarzmarkt kaufen. Dort kostet ein Zylinder zwischen 180.000 (27 US-Dollar) und 240.000 Syrische Pfund (36 US-Dollar). Das entspricht dem monatlichen Lohn staatlicher Angestellter. In der Privatwirtschaft können bis zu 500.000 Syrische Pfund monatlich verdient werden. Doch auch ein Gehalt von umgerechnet etwa 75 US-Dollar reicht einer Familie in Syrien heute nicht, um die monatlichen Kosten zu decken.

Auch Libanesen versuchen sich mit Benzinschmuggel nach Syrien ein Einkommen zu verschaffen. Auf dem Autobahnteil zwischen dem libanesischen Grenzübergang Masnaa und dem syrischen Grenzübergang Jdeideh Jabous stehen viele Fahrzeuge und füllen Benzin aus ihren Tanks in 10 Literflaschen ab, die sie an syrische Abnehmer verkaufen. Manche Käufer kommen sogar zu Fuß, um sich zwei Flaschen in einen Rucksack zu laden und mit je einer Flasche in den Händen rechts und links auf den Rückweg nach Syrien zu machen. 

Niemand greift ein. Der Schmuggel – Folge von künstlich erzeugtem Mangel und westlicher Blockadepolitik – ist Teil der Kriegswirtschaft.

Syrien im UN-Sicherheitsrat

Die politische und humanitäre Entwicklung in Syrien war turnusgemäß am vergangenen Mittwoch (25.01.2023) Thema im UN-Sicherheitsrat. Informiert wurde das Gremium von dem UN-Sonderbeauftragten für Syrien, dem norwegischen Diplomaten Geir O. Pedersen und von Ghada Eltahir Mudawi, der amtierenden Direktorin von OCHA für Operationen und Beratung. OCHA ist das Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten, unter deren Aufsicht alle UN-Hilfsoperationen in Syrien stattfinden. 

Viel ändert sich nicht in Sachen Syrien im UN-Sicherheitsrat. Die von den UN-Verantwortlichen vorgelegten Informationen bleiben bürokratisch und unübersichtlich, die Veto-Mächte im Sicherheitsrat tauschen ihre bekannten Positionen aus. Neu war eine Erklärung der Schweiz und Brasiliens, die dem Gremium seit Anfang des Jahres angehören. Irland und Norwegen schieden dafür nach zwei Jahren aus.

Der syrische UN-Botschafter Bassam Sabbagh warf besonders den USA vor, mit ihrem Verhalten im Sicherheitsrat und im Mittleren Osten die Lage in Syrien zu destabilisieren. „Die illegitime ausländische Truppenpräsenz“ bedrohe die Sicherheit und territoriale Integrität des Landes, sagte er. Die Ressourcen Syriens würden geplündert, „vor allem Öl, Gas und Weizen“.

EU-Sanktionen gegen Russland blockieren Syriengespräche

Bei dem Bericht von Pedersen stand der (Still-)Stand der Beratungen im Syrischen Verfassungskomitee, das sich seit Juni 2022 nicht mehr getroffen hat. Das liegt nach Angaben von Pedersen gegenüber Journalisten auch an den von Russland geäußerten Bedenken gegenüber der Schweiz. Das von der Verfassung her neutrale Land hatte sich im vergangenen Jahr dem Druck von EU und USA gebeugt und den EU-Sanktionen gegen Russland wegen des Krieges in der Ukraine angeschlossen. Seitdem wurde jedes neue EU-Sanktionspaket gegen Russland von der Schweizer Regierung übernommen. Folge davon ist u.a., dass russische Regierungsmitglieder wie Außenminister Sergej Lawrow nicht nach Genf reisen können. (Wofür sich die Schweizer Regierung des Jahres 2022 und auch die Schweizer Bevölkerung echt schämen sollen. Red./cm)

Russland hatte daraufhin im UN-Sicherheitsrat einen anderen, neutralen Ort für die Fortsetzung der Gespräche des syrischen Verfassungskomitees vorgeschlagen. Die westlichen Veto-Mächte im Sicherheitsrat USA, Großbritannien und Frankreich bleiben eine Antwort schuldig.

Alle UN-Vetostaaten (China, Frankreich, Großbritannien, Russland, USA) sowie Deutschland gelten als Garantiemächte des politischen Prozesses, der unter dem Dach der Vereinten Nationen in Genf zwischen der syrischen Regierung, einer ausgewählten syrischen Opposition und syrischen zivilgesellschaftlichen Gruppen stattfinden soll. Grundlage ist die UN-Sicherheitsratsresolution 2254 aus dem Jahr 2015. Der Prozess stagniert.

Keine Einigung der „Interessensvertreter“

Pedersen versucht, die verschiedenen „stakeholder“ d.h. Interessensvertreter, an einen Tisch zu bekommen. Im Dezember traf er den syrischen Außenminister Feisal Mekdad in Damaskus und den türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu. Am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos sprach Pedersen mit dem saudischen Außenminister Faisal bin Farhan Al Saud. Und mit den Syrien-Beauftragten aus Großbritannien, Frankreich, den USA und Deutschland sprach Pedersen in Genf (am 24.01.2023) darüber, wie „Vertrauen und Zuversicht“ geschaffen werden könnten. Über Fortschritte gibt es nichts zu berichten.

Die „Quad-Syrien-Beauftragten“ aus Frankreich, Großbritannien, den USA und Deutschland bekräftigten vielmehr, auf ihrem Standpunkt gegenüber Syrien zu beharren. Man unterstütze Pedersen dabei, „eine politische Lösung des Konflikts in Syrien gemäß der UN-Sicherheitsratsresolution 2254 zu erreichen“, hieß es in einer gemeinsamen Erklärung. Die Resolution sei „die einzige machbare Lösung für den Konflikt“ und man freue sich darauf, „mit Partnern in der Region und mit der Opposition in diesem Rahmen“ zu kooperieren. Die syrische Regierung kommt in der Erklärung nicht vor.

Stellenbeschaffer für Nichtregierungsorganisationen

Pedersen versucht herausfinden, zu welchen Zugeständnissen die jeweiligen „Interessensvertreter“ bereit wären, wenn andere „Interessensvertreter“ ihrerseits Zugeständnisse machen würden. Dabei geht es um Entführte, Gefangene, Verschwundene, um humanitäre Hilfe und die so genannten „frühzeitigen Erholungsprojekte“, mit denen die von EU und USA verhängten einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen umgangen werden können, damit Syrien die Chance zum Wiederaufbau hat. 

Die Maßnahmen, die die Bevölkerung in Lohn und Brot und die zivile Infrastruktur wiederherstellen sollen, scheinen allerdings mehr Stellen für Nichtregierungsorganisationen als für die Bevölkerung zu schaffen. Nach UN-Angaben haben im vergangenen Jahr mindestens 125 (!) humanitäre Hilfsorganisationen 374 solcher Projekte in allen 14 syrischen Provinzen erfolgreich umgesetzt. Geberländer sollen demnach 517 Millionen US-Dollar für das Programm überwiesen haben. 

Wirtschaftssanktionen, Plünderung von Ressourcen und völkerrechtswidrige Besatzung verschlechtern Lebensbedingungen

Die Menschen in Syrien haben „Vertrauen und Zuversicht“ in den UN-Prozess längst verloren. Grund dafür ist die anhaltende Verschlechterung der Lebensbedingungen für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, und zwar unabhängig davon, wo im Land sie leben. 

Die Ursache der Wirtschaftskrise ist neben den Kriegsfolgen die Teilung des Landes durch Besatzungstruppen aus der Türkei und den USA. Mit einseitiger Parteinahme für sehr unterschiedliche Regierungsgegner blockieren sie den innersyrischen Dialog und spalten die Gesellschaft. Die USA unterstützen die kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) im Nordosten, die Türkei unterstützt Islamisten in Idlib und im nördlichen Umland von Aleppo. Die Besatzungstruppen hindern die syrische Regierung außerdem im Norden, Nordwesten, Nordosten und Süden (Al Tanf) daran, die nationalen Grenzen zu kontrollieren, Schmuggel zu unterbinden und die eigenen Ressourcen (Öl, Gas, Wasser, Baumwolle, Weizen) zu fördern und zu nutzen. 

UN-Diplomatin fordert Aufhebung von Sanktionen

Ein weiterer Grund für die schwierigen Lebensverhältnisse in Syrien sind die einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen reicher, westlicher Staaten und Staatenbündnisse. Sie richten sich nach offizieller Darstellung gegen die Verursacher von Repression und Unterdrückung der Bevölkerung, treffen allerdings gerade diejenigen im Land, die man vorgibt schützen zu wollen. Die einseitigen Strafmaßnahmen sind weder vom UN-Sicherheitsrat noch von der UN-Generalversammlung gebilligt, sondern entsprechen den politischen Interessen von EU und USA, die Wirtschaftssanktionen als Druckmittel gegen politische Gegner weltweit einsetzen. 

Alena Douhan, UN-Sonderberichterstatterin über die Folgen einseitiger wirtschaftlicher Strafmaßnahmen (Sanktionen) für die Bevölkerung eines Landes, kritisiert seit Jahren die von der EU (2011) und den USA (2019) gegen Syrien verhängten wirtschaftlichen Strafmaßnahmen. Sie blockierten den Wiederaufbau und die Stabilisierung des Landes und sie verletzten massiv die Menschenrechte der syrischen Bevölkerung, sagte sie nach einem zwölftägigen Aufenthalt in Syrien im November 2022. Sie sei über die Lebensverhältnisse schockiert gewesen, erklärte sie in Damaskus vor Journalisten. Die Strafmaßnahmen müßten umgehend aufgehoben werden. 

Schmuggel und Kriegswirtschaft 

Wirtschaftsblockaden und wirtschaftliche Strafmaßnahmen fördern Schmuggel und Korruption, das ist nicht nur in Syrien zu beobachten. Im Nordosten, in den ressourcenreichen Gebieten unter Kontrolle der kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) und der US-Armee gibt es Bewohnern aus Hasakeh zufolge erhebliche Ungleichheiten bei der Versorgung. Eine Frau aus Hasakeh, die der Autorin persönlich bekannt ist, die ihren Namen aber nicht veröffentlichen möchte, berichtete der Autorin, dass bei Einstellungen, bei der Versorgung mit Wasser, Strom, Gas und Benzin Personen bevorzugt würden, die den SDF nahe stünden. Der Schmuggel über die syrisch-nordirakisch-kurdische Grenze blühe, fast täglich würden Konvois von Tanklastzügen syrisches Öl abtransportieren. Selbst über die Grenze zur Türkei würden gegen hohe Summen Waren, Medikamente und Menschen geschmuggelt. 

Die humanitäre Notlage ist gemacht

Nach Angaben von OCHA (Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten) benötigen 15,3 Millionen Syrer Hilfe zum Lebensunterhalt. 77 Prozent der Haushalte verfügen demnach nicht über genügend Einkommen, um grundlegende Bedürfnisse zu sichern. 8 Prozent der Haushalte sind den OCHA-Angaben zufolge überhaupt nicht in der Lage, sich zu versorgen.

Obwohl die Probleme landesweit bestehen, wird im UN-Sicherheitsrat weiter darüber gestritten, ob Hilfe für Idlib „grenzüberschreitend“ aus der Türkei kommen soll oder über Damaskus verteilt wird, was dem humanitären Völkerrecht entspricht. Im Rahmen der innersyrischen so genannten „Frontlinien-überschreitenden“ Versorgung, die entsprechend der UN-Sicherheitsratsresolution 2585 (aus dem Jahr 2021) verstärkt werden soll, wurde am 8. Januar 2023 erst der zehnte Konvoi bestehend aus 18 Lastwagen durchgeführt.  

Währenddessen passierten allein im Jahr 2022 über den syrisch-türkischen Grenzübergang Bab al Hawa monatlich im Durchschnitt 600 Lastwagen mit Lebensmitteln und weiterer humanitärer Hilfe nach Idlib. Das Gebiet im Norden der nordwestsyrischen Provinz steht unter Kontrolle des Al Qaida-Ablegers Hayat Tahrir al-Scham.

Am 9. Januar 2023 wurde die umstrittene Maßnahme der „grenzüberschreitenden Hilfe“, mit der die Souveränität Syriens außer Kraft gesetzt wird, unter dem Beifall der westlichen Veto-Staaten Frankreich, Großbritannien und den USA um sechs Monate bis zum 10. Juli 2023 verlängert. 

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Siehe dazu auch: «Di Schweiz hat ihre Neutralität beerdigt. Ich schäme mich dafür.» Hier anklicken.