Hatte der Westen versucht, mit Russland zu verhandeln, um den Ukrainekrieg zu verhindern?
(Red.) Noch immer wird das Eingreifen der russischen Armee in der Ukraine am 24. Februar 2022 als „nicht provozierter“ Angriff geschildert. Der Westen hätte es aber in der Hand gehabt, mit dem formellen Verzicht auf Provokationen diesen Krieg zu verhindern. Unser Korrespondent in Moskau, Stefano di Lorenzo, erinnert an diese letzte kurze Phase vor dem 22. Februar 2022. (cm)
Vor dem Hintergrund der erneuten Gespräche zwischen den Vereinigten Staaten und Russland zu einer möglichen Lösung des Ukrainekriegs hat sich in den letzten Wochen und Monaten erneut ein Narrativ verfestigt: Russland sei angeblich völlig uninteressiert an Frieden gewesen und habe jede Art von Diplomatie abgelehnt, als die letzte Phase des Ukrainekriegs im Februar 2022 begann. Verhandlungen mit Russland seien daher völlig nutzlos gewesen. Vor dem Krieg, so die Darstellung, habe der Westen Naivität und Dummheit gezeigt, indem er die Tür zur Diplomatie offen ließ, ein Angebot, das Russland ablehnte, weil es so eifrig den Krieg wollte. Jeder diplomatische Ansatz wäre aus Sicht des Kremls als erbärmliches Zeichen westlicher Schwäche interpretiert worden, und genau deshalb habe Russland den Krieg begonnen — weil der Westen in russischen Augen schwach wirkte.
In ihrem Buch „Les aveuglés: Comment Berlin et Paris ont laissé la voie libre à la Russie“ (zu Deutsch: „Die Blinden: Wie Berlin und Paris Russland freie Bahn ließen“) argumentiert die französische Le Monde-Journalistin Sylvie Kauffmann, dass die politischen Eliten in Westeuropa — vor allem in Berlin und Paris — über Jahrzehnte hinweg viele Warnzeichen aus Russland vernachlässigt hätten. Sie beschreibt die Hoffnung vieler europäischer Politiker, durch wirtschaftliche Zusammenarbeit und Energie-Geschäfte Russland zu stabilisieren, als naiv, wenn nicht sogar kriminell. Man habe Russland einfach zu viel Vertrauen geschenkt. Am besten hätte man dann, nach dieser Argumentation, mit Russland gar nicht reden sollen.
Doch hatte der Westen wirklich versucht, mit Russland zu verhandeln, bevor der Krieg begann?
Zwischen Ende 2021 und Februar 2022 gab es tatsächlich intensive diplomatische Kontakte zwischen Russland und dem Westen. Russland, die Ukraine, Deutschland und Frankreich hatten formell acht Jahre lang im Rahmen des Minsker Prozesses versucht, den seit 2015 bestehenden Niedrigintensitätskrieg im Donbass zu regulieren. Die Treffen im Normandie-Format und die Minsker Vereinbarungen bildeten seit 2014 eine fortlaufende Verhandlung. Doch diese befassten sich nie mit den tieferen Gründen der Konfrontation zwischen Russland und der NATO. Minsk war ein taktischer Mechanismus zur Feuerpause in der Ukraine, kein strategischer Ausgleich. Es löste weder den territorialen Konflikt noch stabilisierte es die Sicherheitsordnung in Osteuropa. Dass es die Ukraine mit den Minsk-Abkommen nicht wirklich ernst gemeint hatte, zeigte sich unter anderem auch an der Tötung von Alexander Sachartschenko, des Anführers der Volksrepublik Donezk, im August 2018. Sachartschenkos Unterschrift stand unter dem zweiten Minsker Abkommen vom Februar 2015. Die Ukraine bestritt jahrelang jede Teilnahme an dem Mord.
In der zweiten Hälfte von 2021, während die Ukraine auf die Wiederherstellung ihrer territorialen Integrität einschließlich der Krim bestand, wechselte Russland vom langsamen diplomatischen Rhythmus des Normandie-Formats zu offenen Forderungen nach neuen „Sicherheitsgarantien“. Moskau legte zwei Vertragsentwürfe vor — einen an die USA, einen an die NATO — mit der Forderung, die NATO-Erweiterung zu stoppen, die NATO-Infrastruktur auf den Stand von 1997 zurückzuführen und eine formelle Garantie abzugeben, dass die Ukraine niemals dem Bündnis beitreten würde. Im Gegenzug versprach Russland mehr Transparenz bei Militärbewegungen und wechselseitige Beschränkungen bei Raketenstationierungen. Einige Punkte ähnelten klassischen Rüstungskontrollvorschlägen, andere hätten die gesamte europäische Nachkriegsordnung umgestaltet.
Wie reagierten die USA und die NATO? Mit kompromissloser Rigidität. Am 10. Januar 2022 trafen sich amerikanische und russische Vertreter in Genf zu bilateralen Gesprächen. Die USA boten Verhandlungen über Raketenstationierungen, Beschränkungen von Militärübungen und Inspektionsmechanismen an — Vorschläge, die an Instrumente des Kalten Krieges erinnerten. Doch es gab eine klare rote Linie: Die „Open-Door-Policy“ der NATO, einschließlich des theoretischen Rechts der Ukraine, einen Aufnahmeantrag zu stellen, war unverhandelbar. Washington beharrte darauf, dass Russland nicht über die Zusammensetzung der NATO bestimmen könne. Auch innerhalb der NATO war die Botschaft identisch: Über Rüstungskontrolle könne man reden, über Grundprinzipien des Bündnisses nicht. Für Russland bestätigte diese Weigerung, dass der Westen die russischen „roten Linien“ nicht ernst nahm.
US-Außenminister Antony Blinken fasste die amerikanische Position kurz nach dem Treffen in Genf zusammen und erklärte, die USA seien offen für Dialog und Diplomatie, würden aber ihre Grundprinzipien nicht antasten: die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine sowie das Recht jedes Staates, seine eigenen Bündnisse zu wählen. Zwar bot Washington „gegenseitige Transparenzmaßnahmen“ zu Truppenpräsenz und Militärübungen an, doch verband Blinken dies mit dem kategorischen Hinweis: „NATOs Tür ist offen und bleibt offen. Es gibt keine Änderung und es wird keine Änderung geben.“
Russlands Außenminister Sergej Lawrow kommentierte, dass man von amerikanischer Seite erneut nur Argumente über die Freiheit zur Wahl von Bündnissen gehört habe. Die russische Delegation habe hingegen auf OSZE-Dokumente verwiesen, die klar festhalten, dass die Sicherheit eines Staates nicht auf Kosten der Sicherheit eines anderen gestärkt werden dürfe, nach dem Geist des Helsinki Abkommens von 1975. Man habe die Amerikaner gefragt, wie sie diese Verpflichtung interpretierten — eine Antwort darauf erhielten die Russen nicht.
Was die NATO betrifft, deklamierte ein Jahr nach dem Anfang der letzten Phase des Krieges der damalige NATO-Sekretär Jens Stoltenberg stolz: „Der Hintergrund war, dass Präsident Putin im Herbst 2021 erklärte und tatsächlich einen Vertragsentwurf schickte, den die NATO unterzeichnen sollte, um eine weitere NATO-Erweiterung auszuschließen. Das war es, was er uns vorlegte — und es sollte eine Vorbedingung dafür sein, die Ukraine nicht zu überfallen. Natürlich haben wir das nicht unterschrieben.“
Diese Grunddifferenz zwischen Russland und dem Westen prägte alle Gespräche. Das Treffen des NATO-Russland-Rates am 12. Januar verlief angespannt und brachte keinerlei Annäherung. Das OSZE-Treffen am 13. Januar, an dem zahlreiche europäische Staaten teilnahmen, vergrößerte den Kreis der Meinungsverschiedenheiten noch. Die USA übermittelten Russland schließlich ihre schriftlichen Antworten auf die Vertragsentwürfe und erklärten sich erneut bereit, über technische Fragen der Rüstungskontrolle zu sprechen, lehnten aber die zentralen russischen Forderungen zur NATO-Struktur kategorisch ab. Russland hielt dies für unzureichend.
Die Diplomatie brach dennoch nicht ab. Im Januar und Anfang Februar standen Emmanuel Macron, Olaf Scholz, Antony Blinken, Sergej Lawrow und Wladimir Putin nahezu ununterbrochen in Kontakt. Macron reiste nach Moskau und kam zurück mit dem Eindruck, Putin habe versprochen, den Konflikt nicht eskalieren zu wollen. Selbst einige ranghohe russische Beamte waren späteren Aussagen zufolge überrascht, als Putin am 21. Februar die Anerkennung der beiden abtrünnigen Gebilde im Donbass verkündete und den Minsker Prozess faktisch beendete.
Westliche Geheimdienste behaupteten öffentlich, Russland habe von Anfang an eine Invasion geplant. Doch selbst sie glaubten, dass die endgültige Entscheidung nicht vor Mitte Februar gefallen sei. Der militärische Aufmarsch war real, doch der Zeitpunkt der logistischen Vorbereitungen und der improvisierte Charakter vieler Truppenverlegungen deuten darauf hin, dass die Entscheidung in einem späten Stadium getroffen wurde, innerhalb Putins engen Kreises. Es heißt, selbst Sergej Lawrow sei nicht eingeweiht gewesen.
Irgendetwas änderte sich zwischen Anfang Januar und Mitte Februar. Was genau, ist bis heute umstritten: militärische Eskalationen in der Donbass-Region, die OSZE-Beobachter registrierten; Selenskis Rede in München, in der er die Frage ukrainischer Atomwaffen offen aufwarf; oder die kumulierte Frustration darüber, jahrzehntelang verhandelt zu haben, ohne jemals verbindliche Grenzen der NATO-Erweiterung zu erreichen.
Die Ukraine als Falle?
Der Westen nahm Russland nicht ernst, und in Moskau sah man genau das. Es gab natürlich das Risiko eines Krieges, doch der Westen schien bereit, dieses Risiko einzugehen. Wie weit würde Russland gehen? Wer würde zuerst nachgeben? Würde Russland wirklich mit nur 150.000 Soldaten angreifen, einer Truppenstärke, die damals unter der der Ukraine lag? Wollte der Westen Russland vielleicht sogar in einen langen, kostspieligen und ungewinnbaren Krieg hineinziehen? Diese Überlegung ist nicht völlig abwegig, wenn man die eskalierende und kompromisslose Rhetorik des Westens in den Wochen vor dem Krieg berücksichtigt.
Der Gedanke mag monströs wirken, doch er lässt sich nicht als bloße Verschwörungstheorie abtun — schon deshalb, weil etwas Ähnliches im Kalten Krieg bereits geschehen war, als die USA 1979 begannen, afghanische Mudschaheddin zu bewaffnen, um die Wahrscheinlichkeit einer sowjetischen Invasion zu erhöhen, nicht zu senken. Aus russischer Sicht sah sich Moskau im Februar 2022 gezwungen, zuzuschlagen, bevor es „zu spät“ wäre und eine zunehmend bewaffnete Ukraine zu gefährlich werden würde.
Hinzu kommt, dass ein vielbeachtetes Papier des einflussreichen US-Thinktanks RAND Corporation, mit dem bezeichnenden Titel „Extending Russia“, schon im Jahr 2019 offen empfahl, die Ukraine stärker aufzurüsten, um Russland in teure regionale Konflikte zu verwickeln. Aus dem Bericht der Rand-Corporation:
„Vorteile
Eine Ausweitung der US-Hilfe für die Ukraine, einschließlich tödlicher militärischer Hilfe, würde wahrscheinlich die Kosten für Russland erhöhen, sowohl in Bezug auf Menschenleben als auch auf finanzielle Mittel, um die Donbass-Region zu halten. Mehr russische Hilfe für die Separatisten und eine zusätzliche russische Truppenpräsenz wären wahrscheinlich erforderlich, was zu höheren Ausgaben, Ausrüstungsverlusten und russischen Opfern führen würde. Letzteres könnte im eigenen Land zu Kontroversen führen, wie es bei der sowjetischen Invasion in Afghanistan der Fall war. Zwei weitere, etwas spekulativere Vorteile könnten sich aus einem solchen erweiterten Engagement der USA ergeben. Andere Länder, die für ihre Sicherheit auf die Vereinigten Staaten setzen, könnten dadurch ermutigt werden. Einige dieser Staaten könnten neue Gründe finden, auf die Entwicklung eigener Atomwaffen zu verzichten.“
Washington und Brüssel prüften nie ernsthaft eine Moratoriumslösung für die NATO-Erweiterung. Man belebte nicht die Idee einer gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz wieder oder baute die OSZE zu einer realen Verhandlungsplattform aus. Ein ernsthaftes Gespräch über ukrainische Neutralität fand nie statt, weil der Westen dieses Thema als illegitim betrachtete und die Ukraine selbst sich am Ende entschieden hatte, den euro-atlantischen Weg zu gehen.
Ein Kernelement der heutigen westlichen Erzählung lautet, russische Aggression sei durch westliche „Schwäche“ begünstigt worden — durch die westliche Bereitschaft, überhaupt zu verhandeln. Moskau habe keinen furchteinflößenden Gegner gesehen und daher zugeschlagen. Doch diese Erklärung widerspricht Fakten. Wenn Putin angegriffen hat, weil der Westen schwach erschien, warum tat er es dann gerade in dem Moment, in dem die NATO besonders kompromisslos und entschlossen auftrat? Die These von der „Schwäche, die den Krieg auslöste“, ist weniger eine Analyse als eine moralische Geschichte: Sie verschiebt die Verantwortung weg von strukturellen Konflikten hin zu angeblichen Charakterfehlern.
In Wahrheit lag das Problem weder in Schwäche noch in Stärke, sondern in fundamentaler Unvereinbarkeit. Russlands Kernforderung war aus seiner Sicht existenziell (und, wenn man an die US-amerikanische Monroe-Doktrin denkt, im Sinne von Gleichberechtigung auch absolut berechtigt. Red.) . Das Kernprinzip des Westens war aus seiner Sicht ebenso unverhandelbar: Die NATO-Tür bleibt offen. Diese beiden Positionen waren unvereinbar, doch während die NATO-Position eher ein abstrakter Rechtsgrundsatz war — ein Prinzip, das hegemoniale Ordnung sichern sollte — handelte es sich aus russischer Sicht um eine Frage existenzieller Sicherheit. Ein Ukraine-Beitritt zur NATO würde von russischen Entscheidungsträgern als dauerhafte Bedrohung für die Stabilität des eigenen Staates wahrgenommen, so wie die USA eine Militärallianz zwischen China oder Russland und Mexiko niemals akzeptieren würden.
Diese gegenseitige Starrheit führte Anfang 2022 zu einer eigentümlichen diplomatischen Choreografie. Einige im Westen glaubten vielleicht, Russland durch lautstarke Unterstützung für die Ukraine abschrecken zu können, in der Hoffnung, Wirtschaftssanktionen würden den Rest erledigen. Russland interpretierte dieselbe Härte als Bestätigung, dass sich die Lage mit jedem Tag weiter zu seinen Ungunsten verschlechtern würde. Beide Seiten hielten die jeweils andere möglicherweise für bluffend. Moskau dachte, der Westen würde unter Druck irgendwann ernsthaft verhandeln. Der Westen dachte vielleicht, Moskau würde niemals eine so große und riskante Invasion wagen.
Der Westen erklärte zwar, er sei verhandlungsbereit, war aber in Wirklichkeit auf keinen Fall bereit, über irgendeinen der Punkte zu verhandeln, die Russland als zentral betrachtete. Russland seinerseits illustrierte anfangs maximale Forderungen — insbesondere den Abzug aller NATO-Infrastruktur aus den seit 1997 beigetretenen Staaten — doch spätere Verhandlungen mit der Ukraine, nachdem der Krieg bereits im Gange war, zeigten, dass es Moskau im Kern vor allem um einen neutralen Status der Ukraine ging und um wenig mehr.
Ob echte Verhandlungen im frühen Jahr 2022 den Krieg hätten verhindern können, kann niemand sagen. Doch die Weigerung, bestimmte Kompromisse auch nur in Betracht zu ziehen, verschloss die letzten engen Türen, die den Weg in die Katastrophe vielleicht hätten verlangsamen können. Propaganda verlangt einfache Antworten, doch einfache Antworten auf komplexe historische Entwicklungen führen allzu oft zu Tragödien.
(Red.) In der Diskussion um den Beginn des offenen Ukraine-Krieges am 24. Februar 2022 wird oft vergessen, dass die NATO den klaren Plan hatte, ihren Paragraphen 5 so zu ändern, dass sie künftig nicht nur bei einem militärischen Angriff von außen militärisch reagieren darf, sondern schon präventiv (!) bei einer noch nicht militärischen Bedrohung. Siehe dazu Jens Stoltenbergs Gespräch mit den Studenten der University South Florida am 25. März 2021. In Anbetracht der Osterweiterung der NATO ab 1999, der zunehmenden Interoperabilität der NATO mit der ukrainischen Armee und der Installation von Raketenbasen in Polen und Rumänien hat Putin nichts Anderes gemacht, als das, was die NATO sich künftig formell zu erlauben beabsichtigte: Er hat in Anbetracht der massiven Bedrohung durch die NATO präventiv eingegriffen. (cm)
Und hier zum Artikel über die Provokation durch die NATO.