Gemeinsam gegen Russland – vor über 150 Jahren … (Krim Teil II)
Sewastopol, von den Russen gegründet, von den Russen verwaltet, von den Russen verteidigt. Ein persönlicher Augenschein vor Ort.
Sewastopol, die Stadt des Widerstands bis zum bitteren Ende! Mit heute 400’000 Einwohnern die grösste Stadt auf der Halbinsel Krim, Sewastopol stand immer wieder im Zentrum der europäischen Geschichte und ist nicht zuletzt deshalb eine echte Sehenswürdigkeit – heute mehr denn je.
Sewastopol war das Zentrum des Krimkrieges, der, erstmals in der Weltgeschichte, ein richtiger Weltkrieg war, kein Krieg zwischen zwei Mächten, sondern ein Krieg mit etlichen Alliierten: das Osmanische Reich zusammen mit den Briten, den Franzosen und den Piemontesen als Alliierte gegen das Russische Kaiserreich. Und es gab auch eine Kriegsfront gegen Russland in Europas Norden, wenn auch militärisch weniger von Bedeutung.
Die Meeresbuchten von Sewastopol im Südwesten der Krim wurden schon im 7. Jahrhundert vor Christus von den Griechen besiedelt. Später übernahmen die Römer die Herrschaft und dann die Byzantiner. Nach der totalen Zerstörung der Stadt im 14. Jahrhundert und nach der Eroberung der Krim durch die Russen unter der Zarin Katharina die Grosse wurde die Hafenstadt im Jahr 1783 neu gegründet.
Eine russische – und eine heilige Stadt
«In gewissem Sinne wird Sewastopol immer zu Russland gehören. Das liegt nicht bloss daran, dass Russland es erbaut hat – eine majestätische steinerne Stadt voller südlicher Weiträumigkeit, in dessen blauen Buchten sich die Kriegsschiffe drängen. Sewastopol hat für zwei Dinge gesorgt, die Russland im Innersten heilig sind. Es ist eine zweifache Heldenstadt: einmal aufgrund der zehnmonatigen Blockade, als es den Nazis standhielt, und zum zweiten aufgrund seines zweijährigen Verteidigungskampfes gegen Grossbritannien, Frankreich und das Osmanische Reich im Krimkrieg. Und dazu hat Sewastopol noch etwas im tiefsten Sinne Heiliges in sich: Es war das Tor, durch das der Legende nach und vielleicht sogar in Wirklichkeit das Christentum in Russland eintrat.»
Neal Ascherson
So steht es in dem höchst informativen Buch «Black Sea» des britischen Historikers Neal Ascherson aus dem Jahr 1995 (dessen deutsche Übersetzung «Schwarzes Meer» leider nur noch antiquarisch erhältlich ist). 1995 – damals gehörte Sewastopol zwar nicht zur «Autonomen Republik Krim», sondern hatte einen Sonderstatus, aber seit Chruschtschows Geschenk im Jahre 1954 gehörte die Stadt ebenfalls zur Ukraine. Im Jahr 1997 dann wurde das «Problem» durch einen formellen Vertrag zwischen der Ukraine und Russland gelöst, wonach die Stadt und das Territorium Sewastopol mit seinem Kriegshafen wieder unter russische Kontrolle kam.
Das «Panorama» zeigt einen Tag eines ersten Weltkrieges
Wenn in Sewastopol – ausgesprochen mit Betonung auf dem ersten o – vom Panorama die Rede ist, denkt kaum einer an die Aussicht aufs Meer, aber an ein grandioses Monument, wie man seinesgleichen weltweit kaum finden kann: das «Panorama». Im Andenken an die zweijährige Belagerung der Stadt 1854/55 durch die Briten, Franzosen und Osmanen und die schliessliche Niederlage der die Stadt verteidigenden Russen – unter ihren Soldaten zeitweise auch Leo Tolstoi – wurde zum 50-Jahr-Jubiläum 1904 in einem speziell dafür gebauten Palast ein 360°-Rundgemälde geschaffen: in der vollen Runde 115 Meter lang und 14 Meter hoch. Es zeigt die Schlacht am 6. Juni 1855, als zum Andenken an die fürchterliche Niederlage der Franzosen bei Waterloo im Juni 1815 die Franzosen vor Sewastopol alles daran setzten, hier einen Sieg zu erringen – mit Erfolg. Der Krimkrieg war übrigens nicht nur ein erster Weltkrieg, es war auch der erste Krieg, der von einem Journalisten der Londoner Times vor Ort begleitet wurde – es war der Beginn der journalistischen Kriegsberichterstattung.
Die Alliierten waren die Sieger, die Russen die Verlierer, aber, wie bei vielen Kriegen, es gab eigentlich nur Verlierer. Der Krimkrieg forderte weit über 100’000 Kriegsopfer und die Staatskassen in London und Paris waren leer. Russland war finanziell sogar so ausgeblutet, dass es ein paar Jahre später Alaska, das damals noch zum russischen Zarenreich gehörte, an die USA verkaufte – für lächerliche 7,2 Millionen Dollar, was kaufkraftmässig heute etwa 120 Millionen Dollar wären.
Auch die Nazis zerstörten Sewastopol
Noch grauenvoller waren die Schlachten um Sewastopol im Zweiten Weltkrieg. Für Hitler war klar, dass die Krim erobert, von Juden, Tataren und Russen gesäubert und von Deutschen besiedelt werden musste. Sogar die künftigen Namen der Halbinsel Krim und ihrer Städte waren schon klar: für die Krim Gotenland, für Sewastopol Theoderichshafen und für Simferopol Gotenburg. Ab Herbst 1941 griffen die deutschen Truppen Sewastopol vom Meer aus und gleichzeitig auch auf dem Land an, mit kleineren Erfolgen, aber immer wieder mit Rückschlägen.
Anfang Juni 1942 kam es zur Grossoffensive, bei der die deutsche Wehrmacht auch von rumänischen Truppen unterstützt wurde. Insgesamt waren auf der Angreifer-Seite der Achsenmächte über 200’000 Mann im Einsatz, mit 600 schweren Geschützen und mit 200 Kampfflugzeugen. Auf Seite der verteidigenden Rotarmisten waren es etwas über 100’000 Mann mit ähnlich vielen Geschützen, aber nur 53 Flugzeugen.
Am 4. Juli war die Stadt Sewastopol erobert, besetzt und vor allem total zerstört. Die NZZ wusste zu berichten, dass da kein Haus mehr stand, das bewohnbar war, alle waren zerbombt oder ausgebrannt. Die Eroberung der Krim kostete die deutschen und rumänischen Truppen etwa 12’000 Tote und Verletzte, auf sowjetischer Verteidiger-Seite etwa 10’000 Tote und Verletzte, aber zusätzlich fast 100’000 Kriegsgefangene.
Die Rückeroberung der Krim zwei Jahre später durch die sowjetischen Truppen war nicht minder grauenvoll. Trotz raschem Vormarsch der zahlenmässig diesmal überlegenen Sowjettruppen vom Nordosten der Halbinsel Richtung Südwesten und der Eroberung von Simferopol und Jalta und anderen Städten verbot Hitler die Evakuierung der deutschen Truppen aus Sewastopol, weil er diese strategisch wichtige Festung unter allen Umständen halten wollte. So endete die Rückeroberung der Krim mit der Rückeroberung der Stadt Sewastopol, wo nicht nur wieder Zehntausende von Soldaten in der Schlacht umkamen, sondern zusätzlich Zehntausende von deutschen Soldaten im Schwarzen Meer ertranken, als sie auf Schiffen fliehen wollten, die Schiffe aber versenkt wurden.
In Russland und in der Ukraine noch immer ein Thema
Zu Sewastopol im Zweiten Weltkrieg gibt es einen russisch-ukrainischen Spielfilm aus dem Jahr 2015. Er zeigt die im Kampf um Sewastopol 25-jährige russische Scharfschützin Lyudmila Pavlichenko, die in den Verteidigungskriegen gegen die Nazis in Odessa und in Sewastopol 309 Wehrmacht-Soldaten erschossen hat. Sie wurde darauf nicht nur in Russland geehrt, sondern auch von der Frau des damaligen US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, Eleanor Roosevelt, in die USA eingeladen und als erste Sowjet-Bürgerin im Weissen Haus ehrenvoll empfangen. Sie sollte mithelfen, die amerikanische Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass im Westen von Hitler-Deutschland eine zweite Front eröffnet werden muss, um Hitlers Armeen endgültig zu besiegen.
Warum dieser Film hier extra erwähnt wird? Die USA waren damals der Sowjetunion für ihren Abwehr- und Verteidigungskrieg gegen die Hitler-Truppen äusserst dankbar. Das wird heute gerne vergessen, zum Beispiel in den Berichten zum 75-Jahr-Jubiläum der «Landung in der Normandie» – oder es wird sogar bewusst weggelassen. Die Leute in Westeuropa werden heute gerne mit der Mär berieselt, wir verdankten die «Befreiung» von Hitler den USA.
Zur russischen Scharfschützin Lyudmila Pavlichenko gibt es zwei kurze Videos: ein sehenswertes 6-Minuten-Video mit Dokumentaraufnahmen des Empfangs im Weissen Haus (ab Minute 4.50) und einen Zwei-Minuten-Trailer in Englisch zum Film über Lyudmila Pavlichenko aus dem Jahr 2015 «Battle for Sevastopol» – mit «Love» etwas aufgemotzt, wie Trailers halt so sind, um Publikum anzuziehen.
In Balaklawa, einer zu Sewastopol gehörenden Gemeinde an einer Meeresbucht südlich der Stadt, ist auch die Einfahrt eines unterirdischen U-Boot-Bunkers zu sehen. Die Anlage wurde in den 1950er Jahren von den Sowjets gebaut und war als atombombensichere Reparatur- und Unterhaltswerft für U-Boote gedacht. Der unterirdische Kanal ist über 600 Meter lang und zwischen 10 und 22 Meter breit. Er hätte mit den darin gelagerten Vorräten bis zu 3000 Menschen einen Monat lang beherbergen können. Der Bunker verlor dann allerdings an Bedeutung, weil die neuen, mit Atomkraft angetriebenen U-Boote zu gross sind, um in diesen Bunker einzufahren.
«Bereit zur Verteidigung bis zum Tod»
Die Bereitschaft, sich zu verteidigen, sei auch heute noch ein Charakterzug der Bewohner der Stadt Sewastopol, erzählte uns auf unserer Reise durch die Krim im Mai/Juni 2019 Maria Nekrasova, eine Dozentin der Universität in Sewastopol. Ein Beispiel? Im Jahr 2008 wurde in Sewastopol aus Anlass der 225-Jahr-Feier der Stadtgründung im Jahr 1783 durch Katharina die Grosse zu Ehren dieser russischen Zarin ein Denkmal errichtet. Das passte den Ukrainern natürlich überhaupt nicht, es wurde mehrmals versucht, das Denkmal zu zerstören (siehe dazu das Bild mit der Farbe über den Inschriften). Um die Zerstörung des Monuments zu verhindern, organisierten darauf die Einwohner von Sewastopol eine zivile Nachtwache von Freiwilligen und hielten diese ein gutes halbes Jahr durch, bis die Gefahr abflaute.
Vor allem aber die Tage vor dem von der Ukraine abgelehnten Referendum im März 2014 zur Wiedervereinigung der Krim mit Russland waren gerade auch in Sewastopol höchst dramatisch, wie man es vor Ort von den Einwohnern anschaulich erzählt bekommt. Was tun, wenn von ukrainischer Seite mit nationalistischen Milizen eingegriffen wird, wie es konkret angedroht wurde? Nach Russland fliehen? «Die Studenten entschieden sich, im Fall einer Intervention von ukrainischer Seite die Stadt notfalls auch mit Waffen zu verteidigen», so die Uni-Dozentin. «Und bereits wurden die unterirdischen Militäranlagen aus dem Zweiten Weltkrieg näher angeschaut und geprüft, ob sie auch jetzt im Kampf gegen ukrainische Milizen wieder benutzt werden könnten.»
Ein Kriegshafen, eine russische Stadt, eine verteidigungsbereite Bevölkerung, das ist Sewastopol. Freiwillig wird Sewastopol nie zur Ukraine zurückkehren. Und Russland wird die Stadt nie an die Ukraine zurückgeben, zu wichtig sind die Stadt und der Hafen als Zugang zum Schwarzen Meer – zivil und militärisch.
Siehe zur Situation auf der Krim heute
- den ersten Teil der Serie über die Krim (ein allgemeiner historischer und politischer Überblick)
- den dritten Teil der Serie über die Krim (zu Kertsch mit den Katakomben und zur neuen Brücke auf das russische Festland)
- den vierten Teil der Serie über die Krim (über die vielen jungen Tataren, die die ihnen gebotene berufliche Chance packen)
- den fünften Teil der Serie über die Krim (über die Reisemöglichkeiten auf der Krim)
- den sechsten Teil der Serie über die Krim (zum Forum über die Verbreitung der russischen Sprache)
- den siebten Teil der Serie über die Krim (Persönliche Schlussfolgerungen des Autors)
Recherche vor Ort auf der Krim
Der Autor Christian Müller, Mitglied der Redaktionsleitung von Infosperber.ch, ist promovierter Historiker und Staatsrechtler und arbeitete über Jahrzehnte als Journalist und Redakteur und zuletzt als Medienmanager. Er besuchte die Krim zum ersten Mal im Jahr 2006 und wollte wissen, was sich seither verändert hat und wie die Situation auf der Krim für die dort lebenden Menschen heute ist: vor Ort auf der Krim recherchiert.
Um unabhängig zu sein und unabhängig informieren zu können, bestimmte Christian Müller alles selber: den Zeitpunkt seiner Reise, die Reiseroute, die Aufenthaltsorte (inkl. Hotels), von wem er sich informieren lassen und mit wem er reden wollte. Und er hat die ganze dreiwöchige Informationsreise aus eigener Tasche bezahlt. Das einzige, wozu er die Unterstützung der Krim-Administration brauchte, waren der Besuch der neuen Schule für die Tataren in Simferopol, der Besuch des TV- und Radio-Senders der Tataren in Simferopol und die Besichtigung der sich noch im Bau befindlichen Moschee der Tataren (auch im Inneren), ebenfalls in Simferopol. Und aufgrund des aufgenommenen Kontakts mit den Behörden wurde er, da zeitlich zufällig übereinstimmend, zum fünften Forum zum Thema russische Sprache in Jalta eingeladen.
Als Dolmetscherin diente Christian Müller seine Ehefrau Anna Wetlinska, die die russische Sprache studiert hat, sie lückenlos versteht und ebenso perfekt spricht. Etliche der Gesprächspartner auf der Krim waren aber ihrerseits in der Lage, auch englisch zu kommunizieren.
Christian Müller hat auch die in den Krim-Konflikt involvierten Länder Russland und die Ukraine seit Mitte der 1980er Jahre mehrmals besucht.