Die Zukunft der strategischen Abschreckung

Wenig beachtet von den westlichen Medien fand Donnerstag und Freitag, 25. und 26. Oktober, unter der Leitung des belarussischen Außenministers Sergej Aleinik in Minsk eine Konferenz zum Thema eurasischer Sicherheit statt. Prominenteste Teilnehmer waren die Außenminister Russlands und Ungarns, Sergej Lawrow und Peter Szijjarto (1).

Aus der Schweiz nahmen der Direktor des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik, Botschafter Thomas Greminger, Martin Schüepp vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes und Guy Mettan vom Genfer Kantonsparlament teil. Mit von der Partie war auch Alexej Gromyko, der Enkel des als “Mr. Nyet” bekanntgewordenen sowjetischen Außenministers Andrej Gromyko.

Die Konferenz war seitens der belarussischen Gastgeber gedacht als Forum, das eine Übersicht verschaffen sollte über die unterschiedlichen Auffassungen über die Lage auf unserem Kontinent und als Plattform für sogenannte “Track-Two-Diplomatie”, d.h. für Gespräche zwischen nicht-offiziellen Vertretern aus Ost und West. Deshalb bestand das Gros der Teilnehmer aus Experten verschiedener Bereiche, mit mehr oder weniger Nähe zu ihren Regierungen.

Russland und seine Verbündeten in Eurasien

In der Diskussionsrunde über nukleare Sicherheit kamen zwei Politologen aus Russland zu Wort, denen enge Kontakte zum Kreml nachgesagt werden: Wladimir Orlow und der erwähnte Alexej Gromyko. In dieser Diskussion bekräftigte der kasachische Vertreter die Absicht seines Landes, auch weiterhin auf den Besitz von Kernwaffen zu verzichten, während Prof. Heinz Gärtner von der Universität Wien für eine Welt ohne Kernwaffen und für sogenannte “negative Sicherheitsgarantien” warb. Diese bestehen unter anderem darin, dass Atommächte versprechen, nicht-nukleare Mächte nicht anzugreifen.

Wir müssen uns heute dessen bewusst sein, dass die aktuellen Voraussetzungen für Rüstungskontrollverhandlungen ganz andere sind, als seinerzeit im Kalten Krieg, und wir sollten uns hüten, in ein Minenfeld zu gehen, ohne den Weg daraus zurück zu kennen.

Statement aus der neutralen Ecke

Im Verlauf der Konferenz erhielt der Verfasser die Gelegenheit, sich zu den veränderten Rahmenbedingungen strategischer Abschreckung und insbesondere zu einer neuen Kategorie von Waffen zu äußern:

Lassen Sie mich zunächst daran erinnern, dass das Land, in dem ich lebe, nämlich die Schweiz, die Entwicklung eigener Atomwaffen bereits 1966 einstellte. Wir befinden uns also ein wenig in einer Situation wie Kasachstan nach 1994.

Eigentlich sollte man meinen, dass die jüngsten Worte von Präsident Putin in seiner Rede vor dem Waldai-Klub vor etwa drei Wochen über den Einsatz – oder vielmehr Nicht-Einsatz – von Atomwaffen deutlich genug waren. Abgesehen davon, dass diese Rede in den westlichen Medien kaum Beachtung fand, geht die Diskussion über die angeblichen nuklearen Drohungen Russlands gegen Westeuropa weiter. Manchmal habe ich den Verdacht, dass systematisch eine Argumentationskette aufgebaut wird, an deren Ende eine nukleare Bedrohung Russlands durch den Westen gerechtfertigt und die Führung der russischen Streitkräfte davon überzeugt werden soll, dass es ihre Pflicht ist, Russland durch die Ausschaltung von Präsident Putin vor einem Atomkrieg zu schützen. 

Aber vielleicht muss man das Thema noch ein wenig ausweiten: In Europa fürchtet man inzwischen ein neues nukleares Wettrüsten und in den Hauptstädten ist man bereits versucht, alte Rezepte aus dem Kalten Krieg wieder aufleben zu lassen, als der Westen die Sowjetunion mit Hilfe der Strategischen Verteidigungsinitiative von Präsident Ronald Reagan besiegte, indem er sie in den wirtschaftlichen Zusammenbruch trieb. Zumindest sieht man das im Westen bis heute so. Aber die äußeren Bedingungen der Rivalität zwischen den Großmächten sind heute anders. Der Weg in den neuen Kalten Krieg ist ein Weg ins Ungewisse. Es war nie eine gute Idee, sich in ein Minenfeld zu begeben, ohne den Rückweg zu kennen. 

Ein neuer Faktor in der heutigen Situation ist die Multipolarität. Während des Kalten Krieges gab es zwei Akteure in der Welt, die in der Lage waren, einen thermonuklearen Krieg zu führen. Im Vergleich zum Kalten Krieg haben neue, zum Teil nichtstaatliche Akteure die weltpolitische Bühne betreten. Während zu Zeiten des Kalten Krieges die Supermächte noch ein Monopol auf wichtige Technologiebereiche hatten, stehen solche Technologien heute vielen Ländern zur Verfügung. Ballistische Raketen, Marschflugkörper, Satelliten und andere wichtige technologische Mittel finden sich heute in den Arsenalen vieler anderer, neuer Akteure der Weltpolitik. Darüber hinaus sind Drohnen, „künstliche Intelligenz“ und andere Technologien aufgetaucht, bei denen die ehemaligen Supermächte des Kalten Krieges nicht immer führend sind. Eine grundlegende Ungewissheit besteht ferner darin, dass es schwierig ist vorherzusagen, wie sich unbeteiligte Atommächte verhalten werden, wenn sich zwei Atommächte einen nuklearen Schlagabtausch liefern.

Der Eckpfeiler der nuklearen Abschreckung im Kalten Krieg war die gegenseitige gesicherte Vernichtung durch Atomwaffen („Mutual Assured Destruction“ MAD). In den letzten Monaten konnten wir im Krieg in der Ukraine den massiven Einsatz eines ganzen Arsenals von Abstandswaffen verschiedener Typen beobachten. Es sind nicht so sehr die verbesserten konventionellen Sprengköpfe, sondern die erhöhte Präzision der Abstandswaffen durch moderne Navigationsgeräte, die es möglich machen, nukleare Sprengköpfe durch konventionelle zu ersetzen. Natürlich ist zu bedenken, was passieren könnte, wenn die Gegner in einem Schlagabtausch gezielt die Navigationssysteme der anderen Seite angreifen. Das muss nicht unbedingt den Abschuss von Navigationssatelliten beinhalten. Ich habe es selbst erlebt, als die OSZE-Drohnen in der Ukraine eingesetzt wurden: GPS-Störung und Spoofing (1) waren an der Tagesordnung. Wenn die Grundlage für die Präzisionssteuerung von Abstandswaffen nicht mehr funktioniert, werden die Gegner dann wieder zu Atomsprengköpfen greifen? Das kann niemand mit Sicherheit sagen. Hinzu kommt die Ungewissheit, wie ein Staat reagieren wird, wenn er mit nichtnuklearen strategischen Waffen angegriffen wird.

Teilnehmer an der Diskussion über Kernwaffen und eurasische Sicherheit. V.l.n.r. Askar Nursha (Institut für strategische Studien Kasachstan), Prof. Heinz Gärtner (Universität Wien), Alexej Gromyko (Europa-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften) und der Verfasser Ralph Bosshard.
Quelle BELTA (2)

Vor allem die Frühphase des Kalten Krieges war von einer gewissen Sorglosigkeit im Umgang mit Atomwaffen geprägt, die sich vor allem in oberirdischen Tests und sogar in Übungen mit Beteiligung von Bodentruppen manifestierte. Erst in den 1980er Jahren setzte sich die Erkenntnis durch, dass der Einsatz von Atomwaffen in großer Zahl einen „nuklearen Winter“ auslösen würde, der die Lebensgrundlagen der gesamten Menschheit innerhalb von Monaten vernichten würde. Die „Mutual Assured Destruction“ wäre auch dann gewährleistet gewesen, wenn eine große Zahl von Atomsprengköpfen weit außerhalb bewohnter Gebiete explodiert wäre. Niemand kann genau sagen, wie viele Atomsprengköpfe einen nuklearen Winter auslösen würden.

Während des Kalten Krieges wurde die Doktrin-Diskussion von den Begriffen „Counter-Force“ und „Counter-Value“ dominiert. Vor allem letzterer beruht auf den Überlegungen aus der Zwischenkriegszeit, als die Kriegsparteien die Zerstörung von Bevölkerungszentren als Schlüssel zum Sieg im Krieg betrachteten. Leute wie Hugh Trenchard, Arthur Harris, Billy Mitchell und Giulio Douhet waren die Protagonisten dieser Diskussion. Wir sollten nicht zu diesem anachronistischen Unsinn zurückkehren.

In den letzten drei Jahrzehnten scheint die Doktrin des strategischen Luftangriffs von US-Colonel John Warden zum universellen Rezept für einen sicheren Sieg geworden zu sein. Ich halte die universelle Anwendung seiner Luftangriffs-Doktrin für ebenso militaristisch wie den Schlieffen-Plan von 1914 im kaiserlichen Deutschland. Die pessimistische Einschätzung der bodengestützten Luftverteidigung und der Glaube an die Wirksamkeit von Tarnkappen-Kampfflugzeugen und präzisionsgelenkten Bomben bilden die Säulen von Wardens Doktrin. Meiner Meinung nach stehen diese Grundlagen auf wackligen Füßen. Das Gleiche gilt für die Raketenabwehr, welche die Grundlage für Ronald Reagans Star-Wars-Programm bildete.

Vielleicht müssen wir uns daran gewöhnen, in einer Art permanenter Kubakrise zu leben. Aber Atomwaffen sind heute nicht mehr die einzige Waffenkategorie, die eine strategisch bedeutsame Wirkung haben kann. Vielleicht sollten wir über nichtnukleare strategische Waffen nachdenken und uns nicht zu früh auf Atomwaffen konzentrieren – nicht um andere Länder nach der Warden-Doktrin einzuschüchtern, sondern um unsere Unabhängigkeit in der Gestaltung unserer Politik zu bewahren. Eigentlich müsste es jetzt Spielraum für nukleare Abrüstung geben. Gespräche darüber haben vielleicht die Chance, etwas von dem Vertrauen wiederherzustellen, das notwendig ist, um den Konflikt um und in der Ukraine zu beenden.

Ich werbe also dafür, dass wir über eine nichtnukleare strategische Abschreckung nachzudenken beginnen, deren Mittel die Waffenkategorie der Zukunft werden könnten. Wenn wir der Entwicklung von Technologie und Doktrin einen Schritt voraus sein wollen, müssen wir jetzt damit beginnen, über solche Dinge nachzudenken.

Die Zukunft der strategischen Abschreckung

Die heutige Technologie schafft neue Möglichkeiten und die doktrinalen Ansichten über den Einsatz militärischer Macht generell sind andere, sodass man den Einsatz von Kernwaffen gegen Bevölkerungszentren im Rahmen einer sogenannten “Counter-Value-Strategie” als anachronistischen Unsinn betrachten kann. Die Zukunft der nuklearen strategischen Abschreckung ist vielleicht die nicht-nukleare – und damit hoffentlich deren Ablösung. 

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Zum Autor des obenstehenden Artikels: Ralph Bosshard studierte Allgemeine Geschichte, osteuropäische Geschichte und Militärgeschichte, absolvierte die Militärische Führungsschule der ETH Zürich sowie die Generalstabsausbildung der Schweizer Armee und arbeitete 25 Jahre als Berufsoffizier (Instruktor). Er absolvierte eine Sprachausbildung in Russisch an der Staatlichen Universität Moskau sowie eine Ausbildung an der Militärakademie des Generalstabs der russischen Armee. Mit der Lage in Osteuropa und Zentralasien ist er aus seiner sechsjährigen Tätigkeit bei der OSZE vertraut, in der er als Sonderberater des Ständigen Vertreters der Schweiz und Operationsoffizier in der Hochrangigen Planungsgruppe tätig war.

(Red.) An der Konferenz nahmen (in der Reihenfolge ihres Auftritts) Experten aus Ungarn, China, Kasachstan, Myanmar, Tadschikistan, dem Iran, Vietnam, der Schweiz, Usbekistan, der Türkei, Armenien, den USA, Kirgistan, Aserbaidschan, Norwegen, Frankreich, Österreich, Litauen, Großbritannien, und natürlich Russland und Belarus teil, auffälligerweise aber keine aus Deutschland.

Anmerkungen:

  1. Die Eröffnungsreden sind veröffentlicht auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=OE-zV0AXH5Q.
  2. Online unter https://www.belta.by/uploads/lotus/news/2023/000020_0D7DDC48CEBB43E643258A550039BF3E_980127.jpg.
  3. Titelbild: TheDigitalArtistWar, online unter https://pixabay.com/illustrations/war-destruction-apocalypse-4749974/