Stop dem Völkermord! Eine Forderung von beiden Seiten. (Symbolbild)

Die Sprache und die ewige Verblendung – durch die Sprache

(Red.) Nicht alles, was geschrieben wird, ist auch leicht in eine andere Sprache zu übersetzen. Das gilt sogar für die Übersetzungen aus dem Englischen ins Deutsche. Der Globalbridge.ch-Kolumnist Patrick Lawrence versucht im Folgenden, auf den Missbrauch einzelner Begriffe vor allem auch in den Medien hinzuweisen, nicht zuletzt auch im Sinne von Propaganda. Gerade jetzt wird zum Beispiel das Wort „Völkermord“ von beiden Seiten verwendet, von der pro-israelischen als auch von der pro-palästinensischen Seite. (Die englische Originalversion des Beitrags findet sich am Ende des Artikels.)

Das Repräsentantenhaus, die untere Kammer der US-Legislative, hat unter seinen 435 Mitgliedern auch eine palästinensische Amerikanerin. Wie nicht anders zu erwarten, hat sich Rashida Tlaib im vergangenen Monat leidenschaftlich für einen Waffenstillstand im Gazastreifen, für Menschenrechte und humanitäres Recht sowie für einen langfristigen Frieden zwischen dem israelischen Staat und dem palästinensischen Volk eingesetzt. Am Dienstagnachmittag, dem 7. November, sprach sie im Plenarsaal des Parlaments über diese Dinge. 

„Sich für die Rettung von Menschenleben einzusetzen, Herr Vorsitzender, egal welchen Glaubens oder welcher ethnischen Zugehörigkeit, sollte in dieser Kammer nicht umstritten sein“, sagte Tlaib in ihrer Rede. „Die Schreie der palästinensischen und israelischen Kinder klingen für mich nicht anders. Was ich nicht verstehe, ist, warum die Schreie der Palästinenser für Sie alle anders klingen.“ Später in ihrer Rede kämpfte sie mit den Tränen, als sie sagte: „Ich kann kaum glauben, dass ich das explicit sagen muss, aber das palästinensische Volk ist nicht einfach entbehrlich. Wir sind Menschen, genau wie alle anderen auch.“ Schon vor dieser Rede fiel ein umstrittener Satz: Tlaib hatte die bekannte palästinensische Formulierung „Vom Fluss zum Meer“ zitiert, die, wie sie später sagte, „ein Aufruf zu Freiheit, Menschenrechten und friedlicher Koexistenz ist, nicht zu Tod, Zerstörung oder Hass“. (Mit „vom Fluss zum Meer“ meinen die Palästinenser „vom Jordan bis zur Mittelmeer-Küste“, Red.)

Nur wenige Stunden nach ihrer Rede stimmte das Repräsentantenhaus mit großer Mehrheit dafür, Tlaib für diese Äußerungen zu rügen. Sie wurde beschuldigt, Terrorakte, die Auslöschung Israels und – das ist mittlerweile Standard im amerikanischen Diskurs – Antisemitismus zu unterstützen. Ein Abgeordneter namens Brad Schneider, ein Jude und liberaler Befürworter des jüdischen Staates, bezeichnete die Formulierung „Vom Fluss zum Meer“ als „nichts anderes als einen Aufruf zur Zerstörung Israels und zur Ermordung von Juden“.

Was haben wir gesehen, als wir diese Verhandlungen letzte Woche auf dem Fernsehsender C-Span verfolgt haben? Was haben wir gehört? Abgesehen von der hochbrisanten Politik der Israel-Gaza-Katastrophe und der Pro-Israel-Propaganda-Operation, die uns jetzt überrollt, spiegelt Tlaibs Beschimpfung durch ihre Kollegen und Kolleginnen eine Krise wider, die weniger gewalttätig ist als die Militärkampagne der israelischen Armee, aber nicht weniger bedeutsam. Es ist die Perversion der Sprache, die die Verteidigung der israelischen Gewalt erfordert. Und eine solche Pervertierung der Sprache korrumpiert unsere öffentlichen Diskussionen, unseren öffentlichen Raum und insgesamt unsere Fähigkeit, klar zu denken und neue Wege einzuschlagen.

Eine Woche vor Tlaibs vielbeachteter Rede protestierte eine Gruppe namens «Jewish Voice for Peace» in den Hallen eines Bürogebäudes auf dem Capitol Hill gegen Israels Militäroperationen und deren Unterstützung durch die USA. Eine rechtsgerichtete Kongressabgeordnete nannte dies einen „Aufstand“. Die Hamas ist eine „terroristische Organisation“ – das ist die offizielle Politik der USA, Israels, Großbritanniens und der Europäischen Union – aber Israel ist trotz seiner 75-jährigen Geschichte des Terrors unschuldig. Die Unterstützung der palästinensischen Sache ist jetzt eine offene Unterstützung für den Terrorismus. Sich gegen die israelische Politik auszusprechen, so wie man sich gegen die italienische, französische oder brasilianische Politik aussprechen würde, ist schon auf den ersten Blick Antisemitismus und es wird kein Unterschied mehr gemacht zwischen Kritik am israelischen Staat und Hass auf Juden. Ein prominenter Analyst erklärte im amerikanischen Fernsehen: „Die Vernichtung Israels ist alles, was für die arabischen Nationen zählt. Die Ausrottung der Juden ist das Einzige, was die Araber interessiert.“ Im Klima nach dem 7. Oktober geht selbst diese absolut rassistische Aufstachelung zur Gewalt als fundierter, glaubwürdiger Kommentar durch. 

In einem am Samstag veröffentlichten Kommentar griff die geschätzte Caitlin Johnstone die Frage des Völkermords und die jüngsten Feststellungen der UNO und anderer Organisationen auf, wonach die israelische Kampagne in Gaza so definiert werden muss. Hier sehen wir einen extremen Fall der Aufblähung der Sprache bis zur Sinnlosigkeit – bis zu dem Punkt, an dem die Sprache so sinnentleert ist, dass sie nicht länger ein Medium für den öffentlichen Diskurs ist, sondern vielmehr ein Mittel, um den Diskurs zu zerstören:

Zu sagen „vom Fluss bis zum Meer“ ist Völkermord, aber tatsächlich einen Völkermord zu begehen ist wieder kein Völkermord. Völkermord ist eher ein Gefühl, das man in sich spürt. Wie alles andere im Universum geht es auch hier um Sie selbst und um Ihre persönlichen Gefühle. Wenn ethnische Säuberungen und Massentötungen keine unangenehmen Gefühle bei Ihnen auslösen, dann ist es eben kein Völkermord. Wenn aber jemand sagt, er wolle, dass alle Palästinenser in ihrer Heimat frei sind, dann ist das für Sie bereits ein Völkermord. So funktioniert die Welt. 

Oder eben wie die Welt jetzt nicht mehr funktioniert …

Die Entweihung von Sprache und Bedeutung in der von mir beschriebenen Weise ist kaum neu: Das hat eine lange Tradition, insbesondere was die amerikanische Außenpolitik und die Notwendigkeit betrifft, so vieles zu rechtfertigen, was rational nicht zu rechtfertigen ist. Aber dieses Problem hat sich seit dem Aufkommen der sozialen Medien und des digitalen Publizierens verschlimmert, die den Konzernmedien ihr langjähriges Monopol und damit die Fähigkeit des nationalen Sicherheitsstaates, Informationen zu kontrollieren, entzogen haben. Während des Russiagate-Schwindels – dem absurden Versuch der Demokratischen Partei, ihre Niederlage bei den Wahlen 2016 auf die russische Einmischung zurückzuführen – hat sich die Lage noch einmal erheblich verschlimmert. 

Russiagate hat uns das gebracht, was wir als „Desinformationsindustrie“ bezeichnen: Programme, die von Geheimdiensten und politischen Agenten in voller Zusammenarbeit mit den Konzernmedien betrieben werden, um alle abweichenden Meinungen und alle Darstellungen von Ereignissen zu diskreditieren, die den gängigen Orthodoxien – den fixen Gläubigkeiten – widersprechen. 

Die unablässigen Produzenten von Desinformationen treiben nun ein umfassendes Zensurregime voran, um die Öffentlichkeit vor Desinformation zu schützen. 

Israels Grausamkeit, die zumindest teilweise die tiefen psychologischen und emotionalen Zwänge eines traumatisierten Volkes – einer verwundeten Zivilisation, um es mit V.S. Naipaul zu sagen – widerzuspiegeln scheint, hat diesen Missbrauch und die Korrosion der Sprache zu einem neuen Extrem getrieben, das in der jüngeren Geschichte seinesgleichen sucht. Völkermord ist kein Völkermord, aber sich gegen Völkermord zu wehren ist Völkermord: Dies ist die Perversion der Sprache, die Orwell in sehr reiner Form berühmt gemacht hat. Wie der englische Romancier sehr gut wusste, dürfen wir nicht übersehen, was zerstört wird, wenn solche Begriffe artikuliert, zur Wahrheit erhoben und uns effektiv aufgezwungen werden. 

Jemanden beim Namen zu nennen oder ihm ein Etikett aufzudrücken, bedeutet, jede Debatte oder jeden weiteren Kommentar zu dem betreffenden Thema auszuschließen. Es bedeutet, die so bezeichnete Person auszulöschen. Das ist sozusagen der Name des Spiels seit den Russiagate-Jahren, denn die Lügen der Russiagate-Orthodoxie konnten nicht vernünftig verteidigt werden. Jetzt, wo Debatten und öffentliches Reden eine dringende Notwendigkeit sind, haben wir „Antisemitismus“ als Etikett für das Eintreten für die palästinensische Sache und „Antisemit“, wenn es sich um eine einzelne Person handelt, die diskreditiert werden soll. 

In den USA gibt es seit einigen Jahren eine Kampagne, die nicht-amerikanische Leser kennen sollten, um Kritik an der israelischen Politik offiziell als antisemitisch zu definieren. Die Absicht ist natürlich, Kritik an einem Staat, nicht an einem Volk, zum Schweigen zu bringen. Nach dieser Definition, das muss ich den Lesern auch sagen, habe ich widerwillig akzeptiert, dass ich offiziell also ein Antisemit bin. Ich sehe keine Alternative, da Schweigen nicht in Frage kommt. 

Die Gaza-Krise hat diese besondere Perversion vollständig in die Berichterstattung und den öffentlichen Diskurs gebracht. Ich gehe davon aus, dass es in Teilen Europas und vielleicht auch anderswo ähnliche Tendenzen gibt, aber ich zweifle, ob die außerordentliche Verbreitung des Themas Antisemitismus so wie in Amerika andernorts auch nur annähernd so weit verbreitet ist. In meinen Jahren als Korrespondent habe ich gelernt, bestimmte Ereignisse und Entwicklungen als Spiegel zu verwenden. Was spiegeln sie wider? Worauf reagieren sie? In diesem Fall kann die wild irrationale Pro-Israel-Propaganda im Ausland, in deren Mittelpunkt der Vorwurf des Antisemitismus steht, als Maßstab für die Stärke der Ablehnung der israelischen Operation in Gaza durch die Bevölkerung und die Unterstützung des Westens dafür genommen werden. Auch dies sollte nicht übersehen werden.

Aber es ist ein „kalter Trost“, dass so viele Millionen Menschen mehr oder weniger täglich in den Straßen von London, Washington, Paris und vielen anderen Städten protestieren. Während wir dieses Wiederaufleben des Massenwiderstands und der Demonstrationen feiern, müssen wir uns vor Augen halten, was alles durch den grassierenden Missbrauch der Sprache, der uns heimsucht, beschädigt wird oder verloren geht. Wir verlieren unsere Fähigkeit zum kritischen Denken, wenn eine extreme, fixe Gläubigkeit durchgesetzt wird, in vielen Fällen auf bösartige Weise und in einigen Fällen mit harten Strafen für Übertreter. Wenn wir als organische Gesellschaften nicht offen und öffentlich denken können, können wir weder neue Lösungen für neue oder bestehende Probleme suchen noch finden. Unsere Vorstellungskraft ist erloschen.

Die israelisch-palästinensische Frage beschäftigt uns seit 100 Jahren in der einen oder anderen Form. Hat es ein wirklich neues Denken darüber gegeben, seit Israel 1948 zu einer neuen Nation erklärt wurde? Haben wir seit dem Wiederaufflammen der Gewalt an der Grenze zum Gazastreifen am 7. Oktober irgendetwas von einer neuen israelischen Politik gehört? Dies zeigt ein weiteres Opfer der Perversion der Sprache: Die Menschheit verliert ihre Fähigkeit, Veränderungen zu akzeptieren – ganz zu schweigen davon, sie angesichts neuer Umstände anzunehmen. 

Der folgenreichste Verlust, den die Menschheit durch die Korrumpierung der Sprache erleidet, hat mit der Geschichte zu tun. Ohne einen authentischen, bedeutungsvollen Diskurs verlieren wir die Verbindung zur Vergangenheit. Wir sind nicht mehr in der Lage, unsere Geschichte und uns selbst als Akteure in ihr zu verstehen. Im Falle Israels und Palästinas ist es ganz klar, dass in der Mainstream-Geschichtsschreibung vor dem 7. Oktober nichts passiert ist. Dadurch haben wir kein Verständnis für unsere Gegenwart, keine Vision, keine Vorstellung davon, dass wir uns eine andere Zukunft schaffen können. Wir haben uns selbst ins Abseits gestellt.  

Wir sind in einer ewigen Gegenwart gefangen, sozusagen. Das ist eine Verurteilung, eine Selbstverurteilung, die am Horizont aus unserer tiefen Verachtung für das Instrument der Sprache resultiert, das, was die Menschheit auszeichnet. Das ist unser Schicksal, so oft das schreckliche Schicksal des modernen Menschen, wenn wir aufhören, authentisch miteinander zu sprechen. Man könnte natürlich sagen, dass alles, was Israel in Gaza tut, unsäglich ist. Das ist auch richtig so. Dass wir selbst nicht mehr in der Lage sind, eine klare Sprache zu sprechen, ist eine andere Sache. Es schafft ein Schweigen, das das Unaussprechliche ermöglicht.

Zum Originalartikel von Patrick Lawrence.

Redaktionelle Anmerkung: In einem Punkt täuscht sich Patrick Lawrence. Auch im deutschsprachigen Europa versuchen die Freunde Israels jede Kritik an Israel als Antisemitismus zu diffamieren. Eine echt perfide Meinungsmache! (cm)