«Die russische ‹Militärische Spezialoperation› ist der Abbruch der bisherigen russischen Aussenpolitik»
(Red.) Nachdem der vereinigte Westen Russland zum generellen Feind erklärt hat und mehr und mehr zu isolieren versucht, muss sich Russland geopolitisch neu positionieren – und es wird sich neu positionieren und sich nicht mehr auf gute Beziehungen mit Westeuropa konzentrieren, wie es dies bis Anfang 2022 getan hat. Seine Chancen, mit den nicht-westlichen Ländern – und damit mit der Mehrheit der Weltbevölkerung – gute politische und wirtschaftliche Beziehungen aufbauen zu können, sind gut. Aber es braucht Zeit. Dmitri Trenin hat auch Russlands Beziehungen im Osten genau im Auge.
Das Wort „Abbruch“ im Titel meiner Analyse ist bewusst gewählt. Ein „Wendepunkt“ kann immer noch durch Umkehr und mit einer Rückkehr zum Ausgangspunkt wettgemacht werden, wo die Chance besteht, alles neu zu definieren. Ein Abbruch aber bedeutet die Unumkehrbarkeit dessen, was geschehen ist.
Der Abbruch der bisherigen russischen Außenpolitik kam nicht sofort. Mitte der 2000er Jahre wurde deutlich, dass Moskaus Politik der Integration der Russischen Föderation als Großmacht in die nach dem Ende des Kalten Krieges geschaffene globale, US-zentrierte Weltordnung zumindest einer Korrektur bedurfte. Der Versuch einer solchen Korrektur, der zu Beginn der 2010er Jahre unter dem Motto der „Neuausrichtung“ der Beziehungen Russlands zu den USA und der „Modernisierungspartnerschaften“ mit Deutschland und anderen europäischen Ländern unternommen wurde, ist gescheitert. Die Ukraine-Krise von 2014 hat die Idee der Integration Russlands in die westliche Gemeinschaft und das damit verbundene Projekt „Großes Europa von Lissabon bis Wladiwostok“ endgültig begraben.
Nachdem die Beziehungen Russlands zum Westen minimiert waren, begannen sie sich zunehmend auch zu verschlechtern. Wirtschaftssanktionen der USA und der EU, politische Rivalitäten und der Informationskrieg haben die frühere Partnerschaft in eine Konfrontation verwandelt, die viele – in Analogie zu den Konfrontationen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – als hybriden Krieg bezeichnen. Im Februar 2022 erhielt der hybride Krieg aber eine militärische Dimension, die Situation von zwei sich gegenüberstehenden Opponenten wurde durch eine militärische Konfrontation ersetzt – zurzeit noch indirekt, was den Konflikt zwischen Russland und den NATO-Ländern unter Führung der USA betrifft. Dieser neue Zustand macht das Erbe der bisherigen Partnerschaften völlig zunichte und lässt die letzten Hoffnungen schwinden. Der Bruch ist zur Tatsache geworden.
Die militärische Konfrontation hat auch Auswirkungen auf das Innere von Russland
Der militärische Konflikt in der Ukraine hat eine völlig neue Phase in der inneren Entwicklung Russlands eingeleitet. Die Grenzen des Landes, seine Demographie, sein Wirtschaftssystem, die sozialen Beziehungen und Einstellungen, das politische Umfeld, die ideologischen Einstellungen und vieles mehr verändern sich. Die Russische Föderation der „ersten Auflage“ ist vorbei, das Land befindet sich im Übergang zu einem qualitativ neuen Zustand, dessen Konturen sich bereits abzeichnen. Das Ausmaß und die Bedeutung der Veränderungen an der außenpolitischen Front sind nicht mit diesen gewaltigen Veränderungen im Inneren des Landes zu vergleichen, aber für die internationale Position Russlands, für seinen Platz und seine Rolle in der Welt bedeuten sie eine radikale Veränderung des äußeren Umfelds und folglich auch der Ziele, Vorgaben, Strategien und Taktiken des Spiels. Hier erwähnt werden können nur einige der wichtigsten Änderungen.
In der neuen Situation – auch im Vergleich zum Zeitraum 2014-2022 – ist Russland mit einem politisch neuen Umfeld konfrontiert. Russland steht einem politisch mobilisierten kollektiven Westen gegenüber. Mit dem Ausbruch des Krieges in der Ukraine hat der Zusammenhalt der englischsprachigen Länder, Europas und der asiatischen Verbündeten um die USA ein nie gekanntes Ausmaß erreicht. Nicht nur Großbritannien, Polen und die baltischen Staaten, sondern auch Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien haben eine scharf antirussische Haltung eingenommen. Zum ersten Mal in der russischen Geschichte hat Russland keine Verbündeten im Westen oder gar Gesprächspartner, die als Vermittler oder „Dolmetscher“ oder so ähnlich fungieren könnten. Die traditionelle Neutralität einer Reihe von europäischen Ländern ist hinfällig geworden. Nicht nur Finnland und Schweden, die beschlossen haben, der NATO beizutreten, sondern auch Österreich, Irland und sogar das NATO-Nichtmitglied Schweiz haben sich dem antirussischen Bündnis angeschlossen. Auch der Vatikan stellt sich mittlerweile auf die Seite dieser Koalition aus rund fünfzig Ländern in aller Welt.
Zwar ist es den westlichen Ländern nicht gelungen, eine weltweite politische Isolierung Russlands zu erreichen, doch konnten sie die internationalen Institutionen zu ihrem Vorteil nutzen. Der Westen kontrolliert nicht nur die Administrationen dieser Institutionen, sondern hat es auch geschafft, die Mehrheit der Stimmen für antirussische Resolutionen zu gewinnen. Infolgedessen wurden die internationalen Organisationen, an deren Gründung Moskau damals sehr aktiv beteiligt war und in denen Moskau lange Zeit eine führende Rolle spielte, weil es diese für die Grundlagen einer gerechten Weltordnung hielt – die UNO und die OSZE –, gegen Russland umorientiert. Selbst die physische Teilnahme russischer Vertreter an den Foren dieser Organisationen wurde von den Entscheidungen der amerikanischen und europäischen Behörden abhängig gemacht. Russlands Status als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats wurde angegriffen, und Russlands Vetorecht im Rat wurde durch die Verlagerung von etlichen Themen in die Generalversammlung umgangen.
Die nukleare Abschreckung funktioniert nicht mehr
Die nukleare Abschreckung, auf die sich die russische Führung als Garantie dafür verließ, dass ihre vitalen Interessen zuverlässig vor Übergriffen von außen geschützt würden, hat sich als unzureichend erwiesen. Die Warnungen des russischen Präsidenten vor den schwerwiegenden Folgen eines Eingreifens westlicher Länder in den Ukraine-Konflikt haben die aktive und die de facto-Beteiligung der USA und der NATO-Staaten an der Bewaffnung und Ausbildung der ukrainischen Armee, die Übermittlung von Geheimdienstinformationen an Kiew in Echtzeit, umfangreiche finanzielle, wirtschaftliche und technische Hilfe, ja ein aktives Eingreifen in den Krieg ohne Entsendung eigener Streitkräfte in die Ukraine, nicht verhindert. Darüber hinaus wurden Erklärungen russischer Beamter, die sich auf die nuklearen Fähigkeiten Russlands und Übungen seiner strategischen Nuklearstreitkräfte bezogen, im Westen weithin als Beweis für Moskaus Vorbereitungen auf einen Atomkrieg interpretiert und in der ganzen Welt wiederholt.
Paradoxerweise führte diese Informationskampagne jedoch nicht zu einem öffentlichen Aufschrei im Westen gegen die nukleare Bedrohung und zu einem Ende der militärischen Unterstützung der Ukraine. Der Faktor Angst, der in den Jahren des Kalten Krieges im öffentlichen Bewusstsein der westlichen Länder, insbesondere in Europa, allzeit präsent war, spielt so gut wie keine Rolle mehr. Der indirekte Krieg der NATO mit der nuklearen Supermacht Russland wird in den USA und in Europa nicht mehr als etwas wirklich Gefährliches angesehen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Ein Beschluss der russischen Führung, einen Atomschlag gegen die USA oder die NATO-Länder zu führen, gilt als unwahrscheinlich, da ein solcher Beschluss eindeutig selbstmörderisch wäre, und der Einsatz von Atomwaffen nur in der Ukraine hätte nur begrenzte Folgen und würde Russland als Feind der gesamten Menschheit erscheinen lassen. Darüber hinaus – und das ist nachgerade unglaublich – findet der systematische Beschuss des von Russland kontrollierten Kernkraftwerks Saporischja durch ukrainische Truppen keine Reaktion in der westlichen Öffentlichkeit, die Rolle der Ukraine in dieser Situation wird entgegen dem gesunden Menschenverstand verschleiert und die Internationale Atomenergiebehörde IAEO deckt im Wesentlichen jene Partei, die die nukleare Sicherheit Europas bedroht.
Jede Art von Provokation führt zu neuer Eskalation
Die Provokationen gegen Russland hören damit nicht auf. Abgesehen von möglichen Zwischenfällen mit abgebrannten Kernbrennstoffen, die von der Ukraine und dem Westen angezettelt werden könnten, besteht die Gefahr von Provokationen mit chemischen Waffen und biologischem Material. Die Erfahrungen des Krieges in Syrien und die vollständige Kontrolle der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) durch westliche Länder stellen eine reale Gefahr von Provokationen dar, für die dann wieder Russland verantwortlich gemacht werden würde. Eine weitere ernstzunehmende potenzielle Gefahr sind mögliche Zwischenfälle mit Schüssen auf das Hoheitsgebiet oder auf militärische Einrichtungen und Plattformen (Flugzeuge, Schiffe) von NATO-Ländern, die von der Ukraine organisiert werden und für die Kiew wieder versuchen wird, Russland die Schuld zuzuschieben, wie es bereits im November 2022 auf dem an die Ukraine angrenzenden Gebiet Polens bereits einmal geschehen ist. Ziel solcher Provokationen könnte eine Eskalation des Konflikts bis hin zu einem direkten militärischen Zusammenstoß zwischen der NATO und Russland sein.
Auch der Wirtschaftskrieg eskaliert
Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen sind zerrüttet. Die Sanktionen der USA und der EU gegen Russland begannen 2014 und wurden seither stetig verschärft. 2022 eskalierte der Krieg zu einem umfassenden Wirtschafts- und Währungskrieg. Infolgedessen ist das geoökonomische Modell, das Moskau seit dem Zusammenbruch der UdSSR und dem Übergang zu marktwirtschaftlichen Verhältnissen verfolgt hat, in seinem wichtigsten Segment gescheitert: in den Beziehungen zum Westen, seinem wichtigsten Handels-, Investitions- und Technologiepartner. Russland sieht sich mit etwas konfrontiert, womit es nie gerechnet hat: dem Einfrieren und der Beschlagnahmung staatlicher Devisenreserven und privater Unternehmensvermögen sowie dem faktischen Ausschluss von Finanztransaktionen mit westlichen Währungen. Infolgedessen hat Russland nicht nur die Hälfte seiner Zentralbankreserven, sondern auch den Zugang zu den westlichen Märkten verloren. Die Erwartung, dass westliche Wirtschaftsakteure in ihrem eigenen Interesse die Folgen geopolitischer Auseinandersetzungen abmildern würden, hat sich nicht erfüllt.
Trotz zuverlässiger Lieferungen: die große Enttäuschung
Der Zusammenbruch der Energiebeziehungen mit Europa war eine besonders schmerzliche Enttäuschung für Moskau. Diese Beziehungen, die von der russischen Führung über fünfzig Jahre hinweg, einschließlich des Kalten Krieges, aufgebaut und gepflegt wurden, galten als Garant für stabile Beziehungen zwischen Russland und Europa, im Gegensatz zu den Beziehungen zu den USA, wo es nichts dergleichen gab. Russland hat sich bemüht, sein Image als äußerst zuverlässiger Energielieferant für die EU zu pflegen, und hat sich auch auf die kommerzielle Neutralität der russischen Gaslieferungen nach Europa verlassen. Viele in Moskau hofften, dass Russlands Energiewaffe, das Gasventil, Europa von einem Bruch mit Russland abhalten würde. Auch diese Rechnung ging nicht auf. Die Beschlüsse der EU, die Einfuhr von russischem Öl und von Kohle zu verweigern und auch Beschränkungen – mit einem schrittweisen Rückzug – für Gasimporte zu verhängen, zerstörten ein entscheidendes materielles Band zwischen Russland und Europa. Die Zerstörung der Nord-Stream-Pipeline durch Sabotage im September 2022 war ein Symbol für den Zusammenbruch dieser Beziehungen.
In diesem Zusammenhang war das größte Ereignis für die Geopolitik Europas der beschleunigte Abbau der deutsch-russischen Partnerschaft, die auf der phänomenalen – ohne jegliche institutionelle Einbindung – erreichten Versöhnung zwischen Russland und Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und auf der Rolle beruhte, die die Sowjetunion bei der deutschen Wiedervereinigung nach dem Ende des Kalten Krieges gespielt hat. Die Beziehungen zwischen Moskau und Berlin sind wieder feindselig geworden: In der deutschen Öffentlichkeit wird das Bild eines rückständigen, reaktionären und aggressiven Russlands schnell wieder hergestellt, während in der russischen Öffentlichkeit das Bild von Hitlers Überfall vor dem Hintergrund der Bilder von Rüstungslieferungen der BRD an die Ukraine erneuert wird. Die vergifteten Beziehungen zwischen den beiden größten Akteuren in Europa liegen im geopolitischen Interesse der USA und Großbritanniens, werden aber in Zukunft zu einem wichtigen Faktor der Instabilität in Europa.
Russlands ‹Militärische Spezialoperation› in der Ukraine ist nicht nur für Russlands Gegner und für bisher neutrale Staaten, sondern auch für Moskaus formelle Verbündete und Integrationspartner zu einem Test geworden. Dieser Test enthüllte den wahren Stand der Dinge, der nicht öffentlich bekannt gegeben wurde. Von allen Verbündeten Russlands in der Organisation des Vertrags für kollektive Sicherheit (OVKS) hat sich nur Weißrussland auf die Seite Moskaus gestellt und es wirklich unterstützt. Alle anderen Verbündeten sowie die Partner in der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAEU) nahmen eine neutrale Haltung ein. Ihr Hauptmotiv war es, die Beziehungen zu den USA und zum Westen in keiner Weise zu beeinträchtigen und die gegenwärtige Konzentration Moskaus auf die Ukraine zu nutzen, um ihre eigene Außenpolitik weiter zu diversifizieren und sich von Russland mehr zu distanzieren. Diese Situation wirft für Moskau die Frage auf, wie es künftig mit den Problemen der Allianz und der Integration mit den ehemaligen Sowjetrepubliken umgehen wird.
Die Unfähigkeit Russlands, die Herausforderungen einer ‹Militärische Spezialoperation› in der Ukraine schnell zu bewältigen, hat die Einschätzung der russischen Militärmacht in vielen europäischen Ländern deutlich gesenkt.
Dieser Wandel – zusammen mit dem Ausbleiben der Angst vor Atomwaffen – holt die Europäer aus ihrer Erstarrung vor der „russischen militärischen Bedrohung“ heraus und ermutigt sie, aus einer Position der materiellen und moralischen Überlegenheit des kollektiven Westens heraus eine offensivere Politik gegenüber Russland zu betreiben.
Natürlich war die ‹Militärische Spezialoperation› in erster Linie ein Test für Russland selbst. Sie hat schwerwiegende Probleme mit der politischen und militärischen Strategie und Taktik, mit der Ausbildung, Bewaffnung, Ausrüstung und Personalausstattung der Streitkräfte, mit der Mobilisierungsbereitschaft des Landes, einschließlich der Industrie, mit der ideologischen Komponente der staatlichen Politik und mit dem Verhalten einiger Eliten und der Gesellschaft aufgezeigt. Solange diese und andere Probleme nicht gelöst sind, werden sie die Verbündeten zerstreuen und die Gegner Russlands ermutigen, sich noch härtere Ziele zu setzen – bis hin zur „endgültigen Lösung der russischen Frage“ durch eine strategische Niederlage Russlands und die Herbeiführung eines politischen Regimewechsels im Land mit anschließender Entmilitarisierung (einschließlich Denuklearisierung), die geografische und politische Neuordnung, die Umerziehung und der Wechsel der Eliten und die daraus resultierende allgemeine Marginalisierung Russlands bzw. dessen, was es werden soll, auf der internationalen Bühne.
Die Haltung der Unbeteiligten wird entscheidend sein
Vor dem Hintergrund schwerwiegender geopolitischer Verwerfungen, Risse und Brüche ist die Position vieler, auch der größten Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, das wichtigste Plus für Russlands internationale Position. China, Indien, die Türkei, der Iran, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Brasilien, Südafrika und Indonesien haben in dem Bestreben, ihre eigene Souveränität zu festigen und ihre eigene Rolle in der Weltpolitik zu stärken, eine formell neutrale Position in dem Konflikt zwischen dem Westen und Russland eingenommen. In einigen Fällen – im Iran und in China – ist diese Position eindeutig pro-russisch, will heissen eindeutig günstig für Moskau, und in allen Fällen, einschließlich der Türkei, einem NATO-Mitglied und US-Verbündeten, dient sie objektiv russischen Interessen.
Diese Gruppe von Staaten, die sich den antirussischen Sanktionen verweigert haben (auch wenn sie zum Teil politische Resolutionen, in denen das Vorgehen Russlands verurteilt wird, unterstützt haben), wird nun zunehmend als „Weltmehrheit“ bezeichnet. Natürlich ist diese Mehrheit heterogen, die Interessen der einzelnen Staaten sind sehr unterschiedlich, und der Umfang und die Qualität der Beziehungen zu Russland variieren: Es gibt Komplexitäten, Widersprüche und sogar Elemente der Rivalität, aber insgesamt ist die Weltmehrheit zur wichtigsten und wertvollsten Ressource der heutigen russischen Außenpolitik geworden. Während des Kalten Krieges verfügte die Sowjetunion nicht über eine derart mächtige potenzielle Ressource.
Es sei daran erinnert, dass Moskau damals Mittel aufwenden und große Anstrengungen unternehmen musste, um die osteuropäischen Länder in seiner Umlaufbahn zu halten, von denen nur zwei – die DDR und die Tschechoslowakei – ein entwickeltes industrielles und technologisches Potenzial hatten. China war ein Vierteljahrhundert lang ein Gegner der UdSSR; Indien war gerade dabei, die Grundlagen für eine moderne Schwerindustrie zu schaffen; der Iran war vor der islamischen Revolution ein Verbündeter der USA und betrachtete danach die UdSSR zusammen mit den USA als „satanischen Staat“. Die Türkei, Israel und Saudi-Arabien waren wichtige Bestandteile des Eindämmungssystems der Sowjetunion an ihrer Südflanke. Brasilien war ein treuer Verbündeter Washingtons und Südafrika war in der Zeit der Apartheid in unerklärte Kriege mit prosowjetischen Regimen im südlichen Afrika verwickelt.
Die russische Außenpolitik ist nicht hoffnungslos
Die Situation für die russische Außenpolitik hat sich also drastisch verändert, aber sie ist keineswegs hoffnungslos. Es gibt keinen Weg zurück. Es gibt zwar einen theoretischen Weg zur Kapitulation, aber selbst der würde Russland nicht zum 20. Februar 2022 oder ins Jahr 2013 zurückbringen. Er wäre der Weg in die nationale Katastrophe, in ein wahrscheinliches Chaos und in einen bedingungslosen Verlust der russischen Souveränität. Wenn wir (gemeint ist: wir Russen, Red.) ein solches Szenario nicht nur vermeiden, sondern eine qualitativ höhere Ebene der Interaktion mit der uns umgebenden Welt erreichen wollen, dann kann unsere allgemeine Bewegungsrichtung nur vorwärts sein. Eine unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg ist die Lösung des Ukraine-Problems.
Wir sind verpflichtet, alle Optionen für den aktuellen Konflikt zu prüfen. Den Krieg zu verlieren – trotz unserer größten Anstrengungen – und damit einen tatsächlichen Sieg des Feindes zu ermöglichen, wäre mit Unruhen verbunden. Ja, es gab solche Kriege in der russischen Geschichte, zum Beispiel den Krimkrieg und den Russisch-Japanischen Krieg, die zu inneren Reformen und weiterer Entwicklung führten. Die Niederlagen haben auch andere Vorteile mit sich gebracht. Der Vertrag von Brest rettete die bolschewistische Regierung. Der Vertrag von Riga, der den gescheiterten sowjetisch-polnischen Krieg beendete, stabilisierte die Westgrenze der entstehenden Union der Sowjetrepubliken. Der hohe Preis, der für den Sieg im Finnischen Krieg gezahlt wurde, war ein erster Beitrag zum Sieg im Großen Vaterländischen Krieg. Unter den gegenwärtigen Umständen sollten jedoch diejenigen, die in Russland auf eine Wiederholung der Jahre 1855-1856 (Krim-Krieg, Red.) hoffen, stets die Tragödie von 1916-1917 vor Augen haben.
Das Vermeiden einer Niederlage ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einem Sieg. Die Option des „Einfrierens“ der Feindseligkeiten entlang der Frontlinien würde bedeuten, dass Moskau seine Unfähigkeit eingestehen würde, die erklärten Ziele der ‹Spezialoperation› zu erreichen, d.h. es wäre seine moralische Niederlage. Außerdem wäre ein solches „Einfrieren“ nur eine Atempause vor der wahrscheinlichen Wiederaufnahme der Feindseligkeiten durch einen Gegner, der seine maximalistischen Ziele nicht aufgeben wird. Diese Möglichkeit besteht jedoch und wird, soweit feststellbar, von den Betroffenen auch genutzt.
Ein strategischer Erfolg ist möglich
Es gibt aber auch die Möglichkeit eines strategischen Erfolgs. Wir verwenden hier bewusst nicht das Wort „Sieg“, weil dieses Wort im kollektiven Bewusstsein der Deutschen nach 1945 begann, eine vernichtende Niederlage des Feindes zu bedeuten, seine vollständige und bedingungslose Kapitulation. Im Falle des Krieges in der Ukraine wäre der strategische Erfolg die Übernahme des gesamten östlichen, südlichen und zentralen Teils des Nachbarlandes unter russische Kontrolle. Der westliche Teil der Ukraine, der sich außerhalb der russischen Kontrolle befindet, kann kaum in den russischen zivilisatorischen Raum integriert werden; er würde zu einem Fremdkörper, zu einer Quelle der Instabilität.
Galizien (die Region um Lwow, Red.) und Wolhynien (die Region nördlich von Lwow, Red.) , die auf diese Weise ausgeklammert würden, würden unweigerlich zu einer Hochburg des ukrainischen Ultranationalismus und zu einem Brückenkopf westlicher Präsenz und westlichen Einflusses werden, aber dieser Brückenkopf würde nicht die kritische Masse erreichen, um Russland ernsthaft zu bedrohen. Der Gesamterfolg der russischen Politik in der Ukraine wird entscheidend von der Konsolidierung der militärischen Gewinne durch die politische, wirtschaftliche und ideologische Integration der kontrollierten Gebiete mit Russland abhängen. Diese Option wird enorme Ressourcen und engagierte Anstrengungen über viele Jahre hinweg und leider auch große Opfer erfordern, aber strategisch gesehen wird sie die richtige Wahl sein.
Eine Lösung des Ukraine-Konflikts bedeutet nicht, dass ein stabiler Status quo in Osteuropa geschaffen wird. Der westliche Druck auf Russland an der europäischen Front wird an mehreren Fronten fortgesetzt. Neben der Ukraine selbst, die der Hauptschmerzpunkt bleiben wird, gehören dazu auch Belarus, Transnistrien, Kaliningrad und der Kaukasus. Moskau wird seine Position entlang der gesamten westlichen geopolitischen Front von der Arktis bis zum Schwarzen Meer verstärken müssen, um bestehen zu können.
Für seinen Versuch, aus der US-zentrierten Weltordnung auszubrechen und seine grundlegenden Sicherheitsinteressen zu verteidigen, wurde Russland effektiv aus dieser Ordnung „herausgebrochen“. Angesichts der derzeitigen globalen Turbulenzen – nicht nur in der Geopolitik, sondern auch in der Geowirtschaft und im militärischen Bereich – hat Russland kein großes Interesse mehr daran, den Status quo in Europa und in der Welt insgesamt aufrechtzuerhalten. Einst eine der Säulen und Hüterinnen der 1945 errichteten Ordnung, hat es sich in ein kämpfendes Land verwandelt, das seine Souveränität und Identität verteidigt und für eine Weltordnung kämpft, die die Hegemonie eines einzelnen Staates ausschließt. Es ist eine neue Rolle, die an die des revolutionären Russlands erinnert, aber doch ganz anders ist. Es wird nicht leicht sein, diese Rolle erfolgreich zu übernehmen.
Der Übergang in eine neue Weltordnung wird viel Zeit erfordern
Der Übergang zu einer neuen Weltordnung wird eine ganze Ära in Anspruch nehmen und weitgehend vom Ausgang der Rivalität zwischen den beiden großen Weltmächten, den USA und China, abhängen. Bislang sind die BRICS-Länder – China, Indien, Brasilien, Südafrika und die anderen Länder der Weltmehrheit – eher geneigt, die Weltordnung anzupassen, als sie radikal zu ersetzen oder sie gar zu zerstören. Diese Situation ist jedoch unbeständig, und der Konflikt zwischen Russland und dem Westen hat einen erheblichen Einfluss auf die weitere Entwicklung jedes Landes.
In einer solchen Situation hat Russland – sofern es eine harte Konfrontation mit dem Westen aushält – eine lange Periode vor sich, in der seine Position in der Welt ambivalent, „hybrid“ sein wird. Eine verstärkte Isolation im Westen wird mit einer aktiven Entwicklung der Zusammenarbeit mit den Ländern der Weltmehrheit und einer Annäherung an deren politische Führer einhergehen.
Der „Paria“-Status Russlands bedeutet logischerweise, dass Moskau in seinen Beziehungen zu ehemaligen Partnern, die wieder zu Gegnern geworden sind, freie Hand hat.
Diese freie Hand gilt es zu nutzen: Es wäre nur noch schlimmer, wenn die Russen ihre Hände falten und auf ihnen sitzen blieben, um sicher zu sein.
Es lohnt sich zum Beispiel, den Begriff der strategischen Stabilität zu überdenken. Sie ist nicht identisch mit einer strategischen Beziehung zu den USA und schon gar nicht auf die Summe der Abkommen und Absprachen mit Washington reduziert. Für Russland liegt der Schlüssel zur strategischen Stabilität in der Entwicklung seiner eigenen Fähigkeiten in verschiedenen Bereichen, und die Vereinbarungen mit den USA können, wenn überhaupt, nur eine Ergänzung dieser Fähigkeiten sein – sehr vorsichtig, angesichts des großen Misstrauens zwischen den Parteien. Auch die Frage der Nichtverbreitung von Kernwaffen muss sorgfältig geprüft werden. Auf jeden Fall kann Russland nicht im Einklang mit den US-Ansätzen zur Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen gegenüber Iran und Nordkorea handeln.
Die Aussichten für die Beziehungen zu den Mehrheitsstaaten sind wesentlich interessanter und fruchtbarer. Die Aufrechterhaltung der strategischen Stabilität in dem neuen Umfeld erfordert eine engere Zusammenarbeit mit China und einen intensiveren Dialog mit Indien. Mit China und Indien als Großverbraucher, der Türkei als aufstrebendem Gashub, Saudi-Arabien und anderen OPEC+-Ländern auf dem Ölmarkt und Katar auf dem Gasmarkt müssen nun Fragen der Energiesicherheit geklärt werden. Die Hauptabnehmer russischer Lebensmittel befinden sich ebenfalls im Nahen Osten, in Asien und Afrika. Im Technologiebereich könnten China und Indien führende Partner sein.
In bilateralen und multilateralen Beziehungen, im Rahmen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit SOZ, der BRICS und anderer: mit diesen und anderen Ländern muss Russland Elemente einer Übergangsweltordnung in den Bereichen Währung und Finanzen aufbauen, um von der Dollar-Hegemonie wegzukommen, in der Technologie, um die nationale Souveränität zu stärken, und in den Medien, um die anglo-amerikanische Mediendominanz zu begrenzen. Von besonderer Bedeutung für den Aufbau der Grundlagen einer Weltordnung im Übergang ist die Stärkung internationaler Organisationen nicht-westlicher Länder, die Erhöhung ihrer Effizienz und ihres Einflusses sowie der Aufbau regionaler Sicherheitssysteme in Eurasien insgesamt, in Zentralasien, im Kaukasus und am Kaspischen Meer, am Persischen Golf und in anderen Regionen.
Zusammenfassend kann man feststellen:
- In den Beziehungen Russlands zum Westen wird es keinen Weg zurück geben; eine schwierige Konfrontation mit dem Westen ist auf lange Sicht sicher.
- Russlands Niederlage in diesem Kampf ist mit einer nationalen Katastrophe verbunden, eine nachhaltige Kompromisslösung ist unwahrscheinlich und ein Kompromiss auf Augenhöhe praktisch unmöglich; es gibt nur den Weg nach vorne.
- Die wichtigste außenpolitische Ressource Russlands ist die Position der Weltmehrheit, die nach größerer politischer, wirtschaftlicher und militärischer Unabhängigkeit auf der Weltbühne strebt und ihre eigene Identität im Rahmen der Weltzivilisation behauptet.
- Die Entwicklung der politischen, wirtschaftlichen, technologischen, militärischen, informationellen, kulturellen und humanitären Interaktion mit den Ländern der Weltmehrheit ist für die gesamte absehbare Zukunft die wichtigste Richtung der russischen Außenpolitik.
- Russlands strategischer Erfolg ist mit den notwendigen internen und externen Ressourcen möglich, aber er erfordert einen starken politischen Willen der Führung, bedingungslosen Patriotismus der Elite und nationale Solidarität.
- Die Wege zum Erfolg sind im Allgemeinen offensichtlich, aber sie sind sehr schwierig, mit unvermeidlichen Verlusten und Opfern. Der Schlüssel zum Sieg führt über eine nüchterne Einschätzung der Situation und der wichtigsten Tendenzen, über klare Ziele, richtig zugewiesene Ressourcen und über eine feinjüstierte staatliche Strategie.
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Meinungen in Beiträgen auf Globalbridge.ch entsprechen jeweils den persönlichen Einschätzungen der Autorin oder des Autors.
Zum Autor: Dmitry Trenin ist Forschungsprofessor an der Higher School of Economics und leitender Forschungsbeauftragter am Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen. Außerdem ist er Mitglied des Russischen Rates für Internationale Angelegenheiten.
Zum Originalartikel auf «Russia in Global Affairs». Die Übersetzung aus dem Russischen besorgten Anna Wetlinska und Christian Müller, der auch die Zwischenüberschriften gesetzt hat.
Siehe auch: Der Osten rückt näher zusammen (von Dmitri Trenin), hier anklicken.