Samarkand, die viertgrößte Stadt der Unabhängigen Republik Usbekistan, ist zu Recht stolz auf seine fast 3000-jährige Geschichte – und gerade auch aus geschichtlichen Gründen durchaus geeignet für eine internationale Konferenz. (Foto Ekrem Canli)

Der Osten rückt näher zusammen – das Modell hat Zukunft

Mehr als 20 Jahre nach ihren Anfängen als Versuch der Zusammenarbeit zwischen fünf postsowjetischen Staaten unter russischer Führung und dem aufstrebenden China hat sich die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) zu einer wichtigen globalen Institution entwickelt, in der fast die Hälfte der Weltbevölkerung vertreten ist.

Morgen Donnerstag und Freitag, 15. bis 16. September, wird in Samarkand in Usbekistan, einem der ältesten Zentren der menschlichen Zivilisation, das jährliche Gipfeltreffen der Gruppe stattfinden. Zu den Prioritäten der usbekischen Präsidentschaft gehören die Stärkung der Fähigkeiten der SOZ bei der Gewährleistung regionaler Sicherheit und Stabilität, die Förderung von Freundschaft und guter Nachbarschaft, die Schärfung ihres globalen Profils, die Bekämpfung von Bedrohungen im Bereich der Information und der Ideologie, die Ausweitung der parlamentarischen Beziehungen, die Belebung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, die Verbesserung der IT-Infrastruktur, die Intensivierung kultureller und humanitärer Kontakte sowie die Steigerung der allgemeinen Effizienz des Kollektivs und seiner Mechanismen.

Die Dokumente, die auf dem Gipfel offiziell verabschiedet werden sollen, versprechen keine großen Sensationen – abgesehen von der seit langem erwarteten Aufnahme des Iran als neuntes Mitglied der SOZ.

Doch das Umfeld, in dem der Gipfel in Samarkand stattfinden wird, unterscheidet sich erheblich von dem des letztjährigen Treffens in Duschanbe. Russlands Militäroperation in der Ukraine hat zu einem Stellvertreterkrieg zwischen Moskau und Washington geführt. Unterdessen haben sich die ohnehin schon konfrontativen Beziehungen zwischen China und den USA durch den jüngsten Besuch der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, in Taiwan spürbar verschlechtert.

Die SOZ hat keine Feindbild-Strategie

Im neuen strategischen Konzept der NATO, das im vergangenen Juni in Madrid verabschiedet wurde, wird Russland als die bedeutendste und unmittelbarste Bedrohung und China – zum ersten Mal – als eine Herausforderung für die Interessen, die Sicherheit und die Werte des Westens bezeichnet. Infolgedessen hat sich die internationale Gemeinschaft zusehends auf eine Spaltung in zwei Lager im Stil des Kalten Krieges zubewegt, die sich in einer zunehmenden Rivalität um die Weltordnung befinden.

Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass die SOZ das nichtwestliche Gegenstück zur NATO wird. Während der von den USA geführte Block heute geeinter denn je ist in seinem Bestreben, die in der Blütezeit seiner globalen Vorherrschaft aufgebaute und entwickelte Ordnung zu bewahren, weisen die nicht-westlichen Staaten nichts Vergleichbares auf wie diese Art von Einigkeit, Hierarchie und interner Disziplin. Russland und China lehnen zwar beide die globale Hegemonie der USA ab, verfolgen aber sehr unterschiedliche große Strategien und sind – trotz ihrer öffentlichen Erklärungen über eine Zusammenarbeit, die „keine Grenzen kennt“, und eine Partnerschaft, die „mehr als ein Bündnis“ ist – darauf bedacht, ihre anderen wichtigen Verbindungen – z. B. Chinas zu den USA und der EU und Russlands zu Indien – nicht zu beschädigen, während sie miteinander kooperieren. Darüber hinaus sehen sich China und Indien, ganz zu schweigen von China und Pakistan, die alle Mitglieder der SOZ sind, gegenseitig als große Sicherheitsbedrohung an.

Immer mehr Mitglieder …

Trotz dieser Vielfalt und Komplexität ist die SOZ zu Beginn ihres dritten Jahrzehnts nicht nur immer noch im Geschäft, sondern wird auch immer aktiver und attraktiver für andere. Im Jahr 2001 begann sie mit sechs Mitgliedern; nach 2017 wuchs die Zahl der Mitglieder auf acht an, wobei etwa 20 weitere Länder als Beobachter, Dialogpartner oder im Prozess des Beitritts aufgeführt sind. Der diesjährige Beitritt Irans weckt das Interesse der Türkei und einer Reihe arabischer Länder, insbesondere der Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabiens, Ägyptens und Katars. Die SOZ-Gemeinschaft könnte möglicherweise einen Großteil des eurasischen Kontinents zwischen Weißrussland und Kambodscha umfassen. Eine solche Erweiterung birgt offensichtliche Risiken in Form einer noch größeren Interessenvielfalt, von Konflikten und Reibungen zwischen den Ländern, die einen Beitritt anstreben. Dennoch ist das Beispiel Chinas und Russlands sowie Indiens und Pakistans, die die SOZ als nützlich für ihre Interessen erachten, ein überzeugendes Argument für einen Beitritt.

Das Fehlen einer einzigen Führungspersönlichkeit, die auf Konsens basierenden Entscheidungsverfahren, die Betonung der nationalen Souveränität und der Nichteinmischung sind ein willkommener Kontrast zur von den USA dominierten NATO oder zu gleichgesinnten Gruppen wie der G7. Die Mitgliedschaft in der SOZ bedeutet nicht, dass man der Führung Pekings oder Moskaus folgen muss. So weit, so gut. Doch was kann die SOZ ihren Mitgliedern, Beobachtern und Partnern tatsächlich bieten? Die allgemeine Antwort lautet: Sicherheit in ihren gegenseitigen Beziehungen und Stabilität auf dem gesamten Kontinent. Schließlich ist die Organisation aus Gesprächen über Grenz- und militärische Sicherheitsfragen zwischen China einerseits und Russland und den zentralasiatischen Staaten andererseits hervorgegangen. Die Mitgliedschaft selbst ist keine Garantie dafür, dass es keine Konflikte gibt, aber sie bietet Mittel, um sie zu verhindern oder zu bewältigen. So bietet sie eine einzigartige Plattform für regelmäßige Kontakte auf hoher und höchster Ebene zwischen Delhi und Peking. Die Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung ist – bei allen Unterschieden in der Definition von „Terrorismus“ – ein weiterer offensichtlicher Bonus. Nach dem Abzug der USA aus Afghanistan im vergangenen Jahr haben die SOZ-Mitgliedsstaaten ihre Bemühungen zur Stärkung der Stabilität in der Region sogar verstärkt.

Die SOZ-Länder profitieren von den Sanktionen gegen Russland

Die wirtschaftliche Entwicklung ist seit langem einer der Schlüsselbereiche der SOZ-Zusammenarbeit. Nach Chinas „Belt and Road“-Initiative ist nun der Nord-Süd-Korridor entstanden, der Russland, den Iran, die arabischen Länder und Indien miteinander verbindet. Der Frieden im Südkaukasus könnte durch die Wiederherstellung der Verbindungen innerhalb der Region und der Verbindungen zum Norden und Süden gefestigt werden. Die Auflösung der „Chimerica“ (der Verbindung der USA und Chinas zur beidseitigem Nutzen) und die Entkopplung zwischen der EU und Russland im Zuge des Ukraine-Krieges signalisieren, dass die Globalisierung durch Regionalisierung ersetzt wird. Asiatische und eurasische Länder, die in den vergangenen Jahrhunderten viel enger mit fernen westlichen Mächten verbunden waren als mit ihren eigenen Nachbarn, konzentrieren sich nun auf die Möglichkeiten in ihrer dynamischen Nachbarschaft. Die gegen Russland verhängten Wirtschaftssanktionen des Westens öffnen auch die Türen für Investitionen aus Asien und dem Nahen Osten in Russland und für den Handel mit dem Land weit auf. 

Ein neuer Impuls für die eurasische Interaktion wurde durch die Beschlagnahme der Hälfte der russischen Währungsreserven durch den Westen infolge des Krieges in der Ukraine ausgelöst. Die zentrale Frage, die in das strategische Kalkül einer Reihe von Ländern eingegangen ist, ist die Zuverlässigkeit des auf dem US-Dollar basierenden globalen Finanzsystems. Im Handel zwischen den SOZ-Mitgliedsländern und Beobachtern werden zunehmend nationale Währungen wie der chinesische Yuan, die indische Rupie, die türkische Lira, der iranische Riel sowie der russische Rubel verwendet. Parallel dazu werden die nationalen Zahlungssysteme dieser und anderer Länder miteinander verbunden, so dass sie Transaktionen direkt und nicht über Washington oder seine Verbündeten abgewickelt werden können. Zum jetzigen Zeitpunkt sind die Mechanismen noch schwerfällig, aber das ist der Beginn eines neuen internationalen Finanzsystems, das nicht mehr von einer hegemonialen äußeren Macht diktiert wird. Die Sanktionen, die gegen den Iran und nun auch gegen Russland verhängt wurden, könnten in Zukunft auch gegen andere Nationen verhängt werden, die sich in einem Konflikt mit den USA befinden.    

Es gibt nicht nur die USA, UK, die NATO und die EU …

Das internationale System, wie es sich nach dem Ende des Kalten Krieges herausgebildet hat, befindet sich in einer tiefen Krise, deren Überwindung lange Zeit in Anspruch nehmen wird. Das gegenwärtige System beruht auf Organisationen, die entweder ihre Wurzeln im Kalten Krieg haben oder von ihm inspiriert wurden – wie die NATO oder AUKUS (das Militärbündnis USA, UK und Australien) – oder die stark von westlichen Mächten dominiert werden, wie die internationalen Finanzinstitutionen, die OSZE und das UN-System insgesamt. Es ist zu bezweifeln, ob die Hauptnutznießer der gegenwärtigen Situation mehr als höchstens ein wenig nachgeben werden, um Platz für neue Akteure zu schaffen. Sie werden sicherlich ihr Bestes tun, um die Kontrolle über das von ihnen erdachte und betriebene System zu erhalten. Während sich die Zukunft der Weltordnung im anhaltenden Wettbewerb der Großmächte entscheidet, besteht ein praktischer Weg, die Situation so zu verändern, dass sie den Interessen der wachsenden Zahl autonomer Akteure besser dient, in der Entwicklung von Organisationen wie der SOZ – unabhängig, nicht hegemonial und inklusiv. Die SOZ könnte zu einem Modell für die Ordnung des 21. Jahrhunderts im wichtigsten regionalen Raum der Welt werden.

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(Dmitry Trenin ist Forschungsprofessor an der Higher School of Economics und leitender Forschungsbeauftragter am Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen. Außerdem ist er Mitglied des Russischen Rates für Internationale Angelegenheiten.  Die Übersetzung besorgte Christian Müller, der auch die Zwischenüberschriften gesetzt hat.)